Eric Hobsbawm

Das Zeitalter der Extreme


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hatte sich die Gemütsverfassung der meisten, die über Vergangenheit und Zukunft dieses Jahrhunderts nachdachten, in wachsende Fin-de-siècle-Trübsal verwandelt. In der Perspektive der neunziger Jahre erschien das Kurze 20. Jahrhundert auf dem Weg von einer Krise durch ein kurzes Goldenes Zeitalter in eine andere, mit Ausblick auf eine unbekannte und problematische, aber nicht notwendigerweise apokalyptische Zukunft – und ich möchte, wie vielleicht so manch anderer Historiker auch, die metaphysischen Propheten von einem »Ende der Geschichte« daran erinnern, daß es mit Sicherheit eine Zukunft geben wird. Denn die einzige wirklich sichere Allgemeinaussage über Geschichte ist die, daß sie, solange es die Menschheit gibt, weitergehen wird.

      Die Jahrzehnte vom Ausbruch des Ersten Weltkriegs bis zu den Nachwirkungen des Zweiten waren ein Zeitalter der Katastrophe für diese Gesellschaft. Über vierzig Jahre stolperte sie von einer Kalamität in die andere. Es gab Zeiten, in denen nicht einmal intelligente Konservative noch auf ihr Überleben gewettet hätten. Sie wurde von zwei Weltkriegen erschüttert, denen zwei Wellen einer weltweiten Rebellion und Revolution folgten, welche schließlich ein System an die Macht brachten, das für sich in Anspruch nahm, die historisch prädestinierte Alternative zur bürgerlichen und kapitalistischen Gesellschaft zu sein, und das zuerst über ein Sechstel der Landmasse dieser Welt und nach dem Zweiten Weltkrieg dann über ein Drittel der Weltbevölkerung herrschte. Die riesigen Kolonialreiche, die vor und während des imperialen Zeitalters aufgebaut worden waren, brachen zusammen und zerfielen zu Staub. Die gesamte Geschichte des modernen Imperialismus, der beim Tod von Königin Viktoria von England noch so fest und selbstsicher im Sattel gesessen hatte, sollte nur eine einzige Lebensspanne währen – etwa so lange, wie das Leben von Winston Churchill (1874–1965) währte.

      Aber mehr noch: Eine Weltwirtschaftskrise von bis dahin ungekanntem Ausmaß zwang selbst die stärksten kapitalistischen Wirtschaftssysteme in die Knie und schien die Schaffung einer einzigen universalen Weltwirtschaft zunichte zu machen, die eine so bemerkenswerte Errungenschaft des liberalen Kapitalismus des 19. Jahrhunderts gewesen war. Selbst die Vereinigten Staaten, von Krieg und Revolution verschont, schienen dem Kollaps nahe. Und während die Wirtschaft taumelte, verschwanden zwischen 1917 und 1942 (außer in ein paar Ecken von Europa und in einigen Gebieten von Nordamerika und Ozeanien) tatsächlich alle liberalen demokratischen Institutionen, wohingegen der Faschismus und seine autoritären Satelliten und Regime auf dem Vormarsch waren.

      Nur die temporäre und bizarre Allianz von liberalem Kapitalismus und Kommunismus, zur Selbstverteidigung gegen den faschistischen Herausforderer, rettete die Demokratie; denn Hitlers Deutschland wurde und konnte im wesentlichen nur durch die Rote Armee besiegt werden. In vielerlei Hinsicht war diese Periode der kapitalistisch-kommunistischen Allianz gegen den Faschismus – vor allem in den dreißiger und vierziger Jahren – der Dreh- und Angelpunkt und das entscheidende Moment in der Geschichte des 20. Jahrhunderts. Aber in vielerlei Hinsicht war dieses Moment auch ein historisches Paradox in den Beziehungen zwischen Kapitalismus und Kommunismus, die fast während des gesamten Jahrhunderts (außer in der kurzen Zeitspanne des Antifaschismus) in einem unversöhnlichen Antagonismus eingebettet waren. Der Sieg der Sowjetunion über Hitler war die Leistung jenes Regimes, das mit der Oktoberrevolution etabliert worden war (was auch eine vergleichende Studie über die russisch-zaristische Wirtschaftsleistung im Ersten Weltkrieg und die sowjetische Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg zeigt; Gatrell/Harrison, 1993). Ohne die Oktoberrevolution bestünde die Welt (außerhalb der USA) heute wahrscheinlich eher aus einer Reihe von autoritären und faschistischen Varianten als aus einem Ensemble unterschiedlicher liberaler, parlamentarischer Demokratien. Eine der Ironien dieses denkwürdigen Jahrhunderts ist, daß das dauerhafteste Resultat der Oktoberrevolution – deren Ziel es ja war, den Kapitalismus weltweit umzustürzen – ausgerechnet die Rettung ihres Antagonisten im Krieg wie im Frieden war: Sie spornte ihn an (indem sie angst machte), sich nach dem Zweiten Weltkrieg selbst zu reformieren; und sie machte wirtschaftliche Planung in einer Weise gemeinverständlich, daß schließlich sogar einige ihrer Aspekte zum Prozedere dieser Reform gehören sollten.

      Doch sogar nachdem der liberale Kapitalismus gerade noch die dreifache Herausforderung von Zusammenbruch, Faschismus und Krieg überstanden hatte, schien er noch immer einem weltweiten Vormarsch der Revolution ausgesetzt, die sich nun um die aus dem Zweiten Weltkrieg als Supermacht hervorgegangene Sowjetunion sammeln konnte.

      Im Rückblick können wir nun erkennen, daß die globale sozialistische Herausforderung des Kapitalismus auf der Schwäche ihres Gegners beruhte. Ohne den Zusammenbruch der bürgerlichen Gesellschaft des 19. Jahrhunderts im Zeitalter der Katastrophe hätte es keine Oktoberrevolution und keine Sowjetunion gegeben. Das Wirtschaftssystem, das auf der ruinierten eurasischen Landmasse des einstigen Zarenreichs unter dem Namen Sozialismus improvisiert wurde, hätte anderenfalls weder im eigenen Land noch andernorts als realistische globale Alternative zur kapitalistischen Wirtschaft gelten können, und seine eigentlichen Errungenschaften ließen sich erst erkennen, als im Kapitalismus schon das Goldene Zeitalter herrschte. Wie effektiv diese rivalisierenden Strategien waren oder wie bewußt sie eingesetzt wurden, um die Welt unserer Vorväter zu begraben, braucht hier nicht erwogen zu werden. Doch wir werden sehen, daß es bis in die frühen sechziger Jahre durchaus den Anschein hatte, als seien sie sich zumindest ebenbürtig gewesen. Heute jedoch, im Lichte des Zusammenbruchs des sowjetischen Sozialismus, wirkt diese Annahme lächerlich – auch wenn ein britischer Premierminister im Gespräch mit einem amerikanischen Präsidenten die Sowjetunion damals (1960) noch immer als einen Staat beschrieb, dessen »aufwärtsstrebende Wirtschaft … die kapitalistische Gesellschaft bald schon im Wettlauf nach materiellem Wohlstand überholt haben wird« (Horne, 1989, S. 303). Trotzdem müssen wir festhalten, daß das sozialistische Bulgarien und das nichtsozialistische Ecuador in den achtziger Jahren mehr Gemeinsamkeiten hatten als beide jeweils mit sich selbst zur Zeit von 1939.

      Auch wenn der Zusammenbruch des sowjetischen Sozialismus und seine enormen und noch immer nicht vollständig abschätzbaren – aber im wesentlichen negativen – Konsequenzen das dramatischste Ereignis während der Krisenjahrzehnte nach dem Goldenen Zeitalter waren, so waren sie doch nur Teil einer universalen oder globalen Krise. Ihre Auswirkungen auf die einzelnen Regionen der Welt waren unterschiedlich ausgeprägt und auch verschieden stark, aber ausgewirkt hat sie sich auf alle, unabhängig von politischen, sozialen oder ökonomischen Konfigurationen. Denn zum erstenmal in der Geschichte hatte das Goldene Zeitalter eine gemeinsame, zunehmend integrativ und universal operierende Weltwirtschaft geschaffen, die raumgreifend über Staatsgrenzen (»transnational«) und daher auch immer stärker über die Grenzen von Staatsideologien hinweg funktionierte. Damit waren natürlich auch die geltenden Vorstellungen der Institutionen aller Regime und Systeme unterminiert worden. Anfänglich hatte man die Schwierigkeiten der siebziger Jahre noch hoffnungsvoll für eine temporäre Unterbrechung des großen Vorwärtssprungs der Weltwirtschaft gehalten, und Länder jeglichen ökonomischen wie politischen Zuschnitts hatten dementsprechend auch nur nach temporären Lösungen gesucht. Doch es war immer ersichtlicher geworden, daß eine Ära der langfristigen Schwierigkeiten angebrochen war. Nun begannen die kapitalistischen Staaten nach Radikallösungen zu suchen und folgten dabei häufig den profanen Theologen des ungebremsten freien Marktes, welche die Art von Politik ablehnten, die der Weltwirtschaft im Goldenen Zeitalter so gut gedient hatte