über diese Entfremdung vom Pfadfindergedanken.
Gesellschaftlich könnte es keine beklemmendere künstlerische Ausdrucksform für die Traumatisierung der folgenden Generation, die Zerstörung urmenschlichster Ausdrucksformen durch das Herunterfahren gesellschaftlicher Aktivität aufgrund einer Pandemie geben: Albtraum als Warnung vor gesellschaftlicher Realität.
Dasselbe gilt für alle menschlichen Grundbedürfnisse und Tätigkeiten von Essen und Trinken über Politik bis zur Sexualität: jeder Mensch verarbeitet sie jede Nacht und kann daraus Schlüsse nicht nur in Bezug auf sich selbst, sondern auch auf die Gesellschaft, in der er lebt, ziehen.
Damit werden die über einen Zeitraum von vierzig Jahren festgehaltenen Traumprotokolle zu einer neuen Art von Geschichtsbuch. Die Nachtseite der Geschichte, ihr − mitunter grelles – Vexierbild. Die nicht sichtbare, die unbekannte, die verdrängte Seite der Geschichte und der sie gestaltenden Menschen im Großen wie im Kleinen: the Dark Side of the Moon.
So viele Leser diese Traumprotokolle haben werden, so viele verschiedene gesellschaftliche Schlussfolgerungen können aus diesem historischen »Entwicklungsroman« aus der Perspektive des Unbewussten gezogen werden.
Damit möchte ich die Leser anregen, ihre eigenen Träume in diesem Sinne anzunehmen und, so weit es geht, festzuhalten.
PS – technische Verständnishinweise:
1 Mit dem Zeichen: • voneinander getrennte Texte bezeichnen verschiedene Träume in derselben Nacht.
2 Nicht verständliche oder unlogische Wort- oder Satzkonstruktionen, meist in Anführungszeichen zitiert, sind erinnerte Wort- oder Satzbildungen aus dem Traum. Diese »Traumsprache« − eine Kreation der »Werkmeister des Traums« Verdichtung, Vermischung und Verschiebung − ist Vorbild der in meinem Roman »es. Traumtrilogie«2 in seiner mittleren Spalte geschriebenen Übersetzungen von Träumen in Halluzinationen.
3 In geschwungene Klammern gesetzte Textpassagen beziehen sich auf Träume, an die ich mich während des Aufschreibens erinnerte, weil sie die gleiche Stimmung ausdrückten. Diese Erfahrung ist Grundlage meiner in der »Politik des Traums« ausgeführten These, dass Situationsgebundenheit und Bildlichkeit der Träume austauschbar und damit für eine Interpretation nur bedingt verwendbar sind: entscheidend am Traum ist die durch ihn erzeugte Stimmung.
Ab 9. Oktober 1993
− über die Grenze, obwohl ich nur einen alten ungültigen Pass habe, aber dem Zöllner ist das egal, ich mache ihn, der hinter einem Fenster an einem Haus sitzt, darauf aufmerksam, aber er reagiert nicht; ich gebe ihm dann noch meinen Personalausweis, aber auch den sieht er nur flüchtig an, und ein paar Meter weiter überholt mich ein Mann auf einem Fahrrad und guckt mich auffordernd-erwartungsvoll an, bis er schließlich fragt, ob ich mich nicht an ihn erinnere, gestern hätten wir uns doch getroffen, und da fällt es mir auch ein, »aber da hatten Sie doch eine Halskrause«, sage ich, und er räumt ein, dass er ohne diese heute nicht so gut zu erkennen sei, und fährt rechts in eine Straße; ich muss jetzt durch Arkaden in der Altstadt, deren Boden renoviert wird, es ist so dunkel, dass man den Weg kaum sehen kann, mehrere Felder sind abgesteckt, mit Sand präpariert und an den oberen Enden mit Schrift aus Sand verziert, die ich nicht lesen kann; die Frage ist, wie ich Nata anrufen kann, die ja wohl etwas weiter weg in einer Kneipe sitzt, und in der Kneipe, in der ich jetzt sitze, erzählt mir der Typ, mit dem ich ein Drehbuch schreiben will, dass er in zwei Jahren tot sein werde − dabei denke ich, dass der Film dann wohl ihm gewidmet sein wird −, weil er schwul ist, ohne es zu wollen, sein Schwanz ganz klein, aber Frauen ekeln ihn an, Männer aber auch; Andres sitzt auch dabei, aber wir können nicht reden, und ich gehe an die Theke, wo ich ein Geplänkel mit einer Frau habe, aber dann fahren wir in dem VW von Kivelitz zur nächsten Lesung, ich sitze eng eingeklemmt zwischen der Tochter von Kivelitz und Nata − daneben sitzt noch jemand! −, und es ist so eng, dass man halb aufeinander sitzt, wozu die Tochter sagt: »die Sitzordnung ist ja die Härte«, gleich darauf aber unauffällig unter meine Hose nach meinem Schwanz greift, worauf ich versuche, genauso unauffällig an ihren Arsch zu fassen, den ich auch erwische und spüre, aber es klappt nicht, dass Nata es nicht merkt, sie sieht zu, sagt aber nichts, während die Tochter meinen Schwanz weiter knetet; es wird still im Auto, Kivelitz macht Musik, aber dann halten wir für eine Wurst, alle sind aus dem Auto, aber ich muss erst meine Hose wieder anziehen, komme aber nicht rein, außerdem ist der Reißverschluss kaputt, entdecke ich bei der Gelegenheit –
– wir brechen auf, von meinem großen Zimmer mit Vorhof, aber ich fahre mit dem letzten Tross und muss erst noch auf andere warten, die wieder viel zu spät kommen; vom Fenster aus sieht man, dass bei dem Volksfest auf der Burg am Berg viel los ist, die Leute stauen sich, heute morgen war ich auch noch oben, erzähle ich dem Kollegen, der jetzt gekommen ist, wir können also fahren, aber ich muss noch pinkeln, im Bad ist aber Erika, die Martin Feifel die vielen Klos zeigt, da sind zwei besonders raffinierte gegenüberliegende, die automatisch die Spülung wechseln, je nachdem, welches man nimmt, und erst, als die beiden draußen sind – Feifel hört sich alles höflich an – kann ich mich setzen –
– ich will Grimms Märchen neu rausbringen und arbeite an einem zellenartigen Raum mit jemandem daran am Computer, aber wir müssen dann weg, ins Gebirge mit einem großen Bus, der nach der Autobahnabfahrt allerdings einfach auf die Wiese fährt, zwar dann nochmal zurück auf die Straße, dann aber erst recht auf der Wiese, wobei Bullen durch den Bus gehen und kontrollieren und schließlich auf einen nur von Buldozern ausgehobenen beziehungsweise weggeschobenen Erdweg, und dann erzähle ich Astrid und Rüdiger, wie viel ich zwischen den Drehs an dem Grimm-Projekt gearbeitet habe –
– ich komme mit Barbara Rudnik in eine italienische Stadt, die noch völlig historisch erhalten ist, vielleicht zum Drehen oder nur so, wir freuen uns, dass wir uns wieder mal treffen, es sind breite Straßen und wir betrachten die dunklen, barocken, zum Teil hölzernen Häuser, nur wenige Menschen auf der Straße, Barbara schaut in eine Seitenstraße, ich betrachte aus einem Haus neben einem Fluss rausragende Tafeln, auf denen in etwa steht: »ARD – das war auch super – hier waren zum letzten Mal Kraimo-Gespräche«, da kommt Barbara auf dem Fahrrad vorbei und sagt, dass sie weiter vorne mal gucke; ich schlendere ihr nach, kicke meinen Geldbeutel auf der Straße vor mich hin –
– nach langem Hin und Her komme ich in die Wohnung zurück, und im hinteren Zimmer hängen sich zwei Katzen an mich an den Ärmel und singen höhnische Lieder, ich kann sie kaum abschütteln, obwohl ich den Gang runter bis zur Tür gehe, ich muss noch anrufen, dass ich später komme, obwohl schon Samstagmittag ist, und ich übers Wochenende kommen wollte, draußen sind die anderen und lagern am Rand des Parks, beleidigt, dass ich schon gegessen habe, essen sie Fleischstücke aus einer Pfanne, und ich bekomme nur wenig; die Besucher drehen inzwischen schon an der Hecke, und ich suche Renate, die bei den Arbeitern am Zaun sitzt und auch frustriert ist, da kommt Caren und erklärt, was schief gelaufen ist – ein Dreh, bei dem Magda dabei ist, »die hellste Birne«, sagt jemand, ein Spot, Fips und Nata auch dabei –
– in einer Hütte an einem steilen, bewaldeten Hang sehe ich eine fließende Stückdarstellungsform, ziehbar und bunt mit Fäden, parallel und geschwungen, Heiner Müller sitzt auf einem Hocker unterm Baum und ist deprimiert, während im Haus eine Razzia stattfindet, die aber normal ist, alles ist sowieso da, und ich finde es abstoßend ordnungsgemäß und spießig –
– ich helfe einem alten Mann beim Rasieren, er ist so tatterig, dass er kaum den Rasierpinsel halten kann, und meint, er brauche sowieso kaum mehr Seife, aber ich muss doch noch mich einseifen und erzähle, dass der Rasierpinsel noch von meinem verstorbenen Vater stammt, da kommt Renate und sagt, dass ein Herr Hensche für mich am Telefon sei, ich habe erstens keine Zeit und zweitens kenne ich keinen Hensche, der Detlef Hensche von der Gewerkschaft wird’s ja wohl nicht sein, er muss also warten, und ich rasiere bei mir auch noch die Koteletten weg, so dass meine an der Seite langen und vollen Haare damit abschließen, ich schüttele sie ein wenig und denke, dass Maren, mit der ich auf dem Gang des Maxgymnasiums gehe, mich bestimmt hübsch findet –
– die Stadt gibt einen Tageseinteilungsprospekt heraus, der drei farbige Kästchen hat: 1. Arbeit 2. Freizeit außer Haus 3. Freizeit