href="#u209c70f1-feda-431a-9cf4-c9b6500b855a">10.1) und vieles andere mehr. Dennoch haben die Raucherquoten weltweit nur marginal abgenommen. Die Betroffenen wissen, dass sie mit ihrem Verhalten ihre Gesundheit nachhaltig schädigen und mit hoher Wahrscheinlichkeit ihre Lebenserwartung deutlich verkürzen. Dennoch nimmt die Mehrheit schwerwiegende finanzielle und soziale Einschränkungen in Kauf, anstatt dem vernünftigen Rat zu folgen und einfach aufzuhören [3,4].
„Mit dem Rauchen aufzuhören ist kinderleicht. Ich habe es schon hundertmal geschafft.“ Diese pointierte Bemerkung von Mark Twain trifft den Nagel auf den Kopf. Laut Umfragen würden etwa vier von fünf Raucherinnen und Raucher gerne aufhören, langfristig scheitern aber die meisten Versuche. Es ist internationaler wissenschaftlicher Konsens, dass die Schädlichkeit des Rauchens vorwiegend auf der Inhalation toxischer Verbrennungsprodukte beruht und nicht auf den biologischen Wirkungen von Nikotin. Diese Erkenntnis war die Grundlage für die Entwicklung nikotinhaltiger Arzneimittel zur Unterstützung der Raucherentwöhnung. Es bestand die Hoffnung, Raucherinnen und Raucher würden ihr Nikotin nicht mit Tabakrauch, sondern mit Kaugummis, Pflastern oder Inhalatoren konsumieren und so ihren Nikotinbedarf ohne Inhalation schädlicher Verbrennungsprodukte decken. Leider zeigten klinische Studien, dass diese sogenannten Nikotinersatzprodukte langfristig kaum effektiver sind als Placebo. Eine wesentliche Komponente der Zigarettenabhängigkeit ist die Gewöhnung an ein Verhalten, an das „Rauchritual“, das die Arzneimittel nicht ersetzen. Daher wird von den medizinischen Fachgesellschaften zur effizienten Raucherentwöhnung die Kombination von Nikotinprodukten mit Verhaltenstherapie und anderen psychotherapeutischen Verfahren empfohlen, wodurch die Einjahres-Erfolgsraten – je nach Methode und Studie – von etwa drei auf zehn bis zwanzig Prozent erhöht werden.
2.3 SCHADENSMINIMIERUNG
Nahezu alle Tätigkeiten unseres Lebens sind mit einem kleinen – manche auch mit einem größeren – Risiko verbunden. Das betrifft Autofahren und Sport ebenso wie viele Speisen und Getränke, die wir regelmäßig konsumieren. Nichts ist mit hundertprozentiger Gewissheit „harmlos“, und Unschädlichkeit lässt sich grundsätzlich nicht beweisen (mehr dazu in den Abschnitten 10.4 und 10.5). Anstatt mit einem gewissen Risiko verbundene Tätigkeiten zu verbieten und so hundertprozentige Sicherheit zu gewährleisten, versucht der Gesetzgeber das Risiko zu minimieren. Als illustratives Beispiel möchte ich das Autofahren heranziehen. Laut Statistik Austria waren im Jahr 2019 in Österreich 409 Verkehrstote zu beklagen, darunter 16 Kinder. Außerdem wurden bei 36.856 Unfällen 46.525 Personen verletzt, davon 7.631 schwer. Diese Schäden für Leib und Leben könnte man durch ein Generalverbot des Autofahrens oder flächendeckende Geschwindigkeitsbeschränkung auf 20 km/h mit 100-prozentiger Gewissheit verhindern. Aus naheliegenden Gründen sind das keine sinnvollen Optionen. Daher versucht man die schädlichen Folgen des Autofahrens durch gesetzliche Regelungen zu minimieren: Gurtenpflicht, ABS, Airbags, regelmäßige Fahrzeugüberprüfungen, streng kontrollierte Verkehrsregeln, Verbot von Smartphones ohne Freisprechanlage – und nicht zuletzt Abschreckung vor Zuwiderhandlungen durch Androhung strenger Strafen. Das Prinzip der Schadensminimierung ist in nahezu allen Bereichen unseres Lebens fest verankert. Auch in der Drogenprävention wurden die Vertreter einer strikten Abstinenzstrategie weitgehend überzeugt: Programme zum Nadelaustausch, kontrollierte Heroin-Substitution oder Verteilung von Kondomen zur HIV-Prophylaxe sind heute in den meisten Ländern etablierter Standard. Bei der Therapie der Alkoholabhängigkeit steht seit einigen Jahren die pharmakotherapeutische Reduktion des Alkoholkonsums mit Nalmefen (Handelsname: Selincro®) als Alternative zum Ziel vollständiger Abstinenz zur Verfügung.
Während also in den meisten Bereichen das Idealziel absoluter Abstinenz zugunsten der Minimierung des Schadens aufgegeben wurde, lehnt eine Mehrheit der Gesundheitsexperten in der Tabakkontrolle das Konzept der Schadensminimierung („tobacco harm reduction“) ab. Die WHO und mit ihr assoziierte Gesundheitsorganisationen bekämpfen etwa E-Zigaretten mit allen Mitteln (Abb. 1), und man beharrt auf der Maxime „Quit or Die“. Die zugrunde liegenden Ursachen sind vielfältig und werden gegen Ende dieses Buchs in Kapitel 11 diskutiert.
Abbildung 1: Der Kampf gegen E-Zigaretten. Mit freundlicher Genehmigung von Pauline Ullrich, Grafikerin, Kunsttherapeutin und Coach.
2.4 E-ZIGARETTEN: ALTERNATIVE FÜR RAUCHER ZUR SCHADENSMINIMIERUNG
Trotz aller Bemühungen versagen in den meisten Fällen die von den medizinischen Fachgesellschaften empfohlenen und in den medizinischen Leitlinien verankerten Verfahren zur Raucherentwöhnung. Außerdem betrachten viele Raucherinnen und Raucher Zigaretten als Genussmittel und sehen Rauchen nicht als Krankheit sowie sich selbst nicht als behandlungsbedürftige Patienten. Sie lehnen medizinische „Behandlung“ ihres Verhaltens ab und bestehen auf ihrem Grundrecht der Entscheidungsfreiheit. Die ethisch vielschichtige Frage, ob gesundheitsschädigendes Verhalten der Entscheidungsfreiheit des Einzelnen obliegt, kann und möchte ich hier nicht beantworten. Ich werde aber eine alternative Form des Nikotinkonsums vorstellen, die es erlaubt, das jahre- oft sogar jahrzehntelang konditionierte Rauchverhalten aufrecht zu erhalten, ohne gesundheitsschädlichen Tabakrauch zu inhalieren. Seit etwa 15 Jahren stehen uns Geräte zur Verfügung, die durch Erhitzung nikotinhaltiger Lösungen einen Nebel (umgangssprachlich Dampf) erzeugen, der mit Hilfe eines Mundstücks inhaliert wird. Man raucht also nicht, sondern dampft. Da diese Geräte als Ersatz für Tabakzigaretten dienen und mit Strom betrieben werden, wurden sie elektronische Zigaretten (E-Zigaretten) genannt. Diese Bezeichnung sorgt in der Bevölkerung gelegentlich für Verwirrung und hat vermutlich erheblich zur fälschlichen Gleichsetzung des Rauchens mit dem Dampfen durch Behörden und die Politik beigetragen [5]. Die Bezeichnung „E-Zigarette“ ist allerdings mittlerweile dermaßen gut etabliert, dass eine Änderung der Terminologie hoffnungslos erscheint. Dieser Tatsache Rechnung tragend werde ich den Terminus „E-Zigaretten“ beibehalten. Allerdings werde ich penibel auf die Unterscheidung zwischen „Dampfen“ (Inhalation von Nebel) und „Rauchen“ (Inhalation von Verbrennungsrauch) achten.
3. Nikotin
Als ich vor einigen Jahren beim Aufnahmegespräch vor einer ärztlichen Untersuchung meinen Kardiologen informiert hatte, dass ich früher starker Raucher war, hat er Ex-Nikotinabusus in die Anamnese geschrieben. Diese Gleichsetzung des Rauchens mit „Nikotinmissbrauch“ ist auch außerhalb der medizinischen Fachkreise in der Bevölkerung fest verankert. Über Jahrzehnte hinweg war das Zigarettenrauchen die bei weitem vorherrschende Form des Nikotinkonsums. Und noch immer sind viele Menschen der Überzeugung, dass die Schädlichkeit des Rauchens vorwiegend auf den Effekten von Nikotin beruht. Tatsächlich hat aber bereits in den 1970er Jahren der 2009 verstorbene Professor Michael Russell, den man als Vater von tobacco harm reduction bezeichnen könnte, diesen Mythos zu beseitigen versucht: „People smoke for the nicotine but they die from the tar“, erklärte er 1976 in der Einleitung einer Publikation im British Medical Journal [6]. Man raucht wegen des Nikotins, aber man stirbt am Teer. Dieses berühmte Zitat hat bis heute nichts an Aktualität und Bedeutung eingebüßt. Auf einer Informationsseite von Nicorette® wird Raucherinnen und Rauchern durch Hinweise auf die geringe Schädlichkeit von Nikotin die Sorge vor medizinischen Nikotinersatzprodukten genommen. Auch viele Gegner empfehlen diese Produkte, warnen aber im gleichen Atemzug vor der Gefährlichkeit von Nikotin in E-Zigaretten. Die Hintergründe der erstaunlichen Verwandlung einer vergleichsweise harmlosen Substanz in ein tödliches Sucht- und Nervengift, sobald sie nicht in Form eines registrierten Arzneimittels, sondern mittels E-Zigaretten konsumiert wird, werden wir später beleuchten.
(S)-Nikotin
(S)-(–)-1-Methyl-2-(3-pyridyl)pyrrolidin