kommt in zwei spiegelbildlichen Konformationen vor. Die Blätter von Tabakpflanzen enthalten (S)-Nikotin (in der Strukturformel als dicker Pfeil dargestellt), das biologisch etwa 10-mal aktiver ist als die R-Konformation. Ohne aufwändige Isomerentrennung liefern chemische Syntheseverfahren eine Mischung der beiden Formen, die man als Racemat bezeichnet. Nahezu alle nikotinhaltigen Produkte, die derzeit am Markt sind – inklusive Arzneimittel und Liquids – enthalten aus Tabak isoliertes (S)-Nikotin. Die Substanz ist auch in den Blättern anderer Nachtschattengewächse enthalten, beispielsweise Tomaten, Kartoffeln, Paprikas und Auberginen (Abb. 2). Hersteller von Liquids in den USA überlegen, aus anderen Pflanzen gewonnenes Nikotin zu verwenden, um die FDA-Regulierung der Liquids als Tabakprodukte zu umgehen. Gelegentlich wird in den sozialen Medien mit dem Nikotingehalt dieser Lebensmittel argumentiert, das heißt, man würde auch durch das Essen von Kartoffeln Nikotin zu sich nehmen. Dabei wird aber nicht bedacht, dass wir nicht die Blätter, sondern die Früchte, genauer gesagt die Knollen dieser Pflanzen verzehren, also Bestandteile, deren Nikotingehalt vernachlässigbar ist. Gemäß einer publizierten Analyse enthalten 500 kg Kartoffeln 1 mg Nikotin [7], wovon bei Verzehr 0,2 mg ins Blut gelangen und systemisch wirksam würden (siehe 3.2.).
Abbildung 2: Einige Nachtschattengewächse, die durch Nikotin in den Blättern vor Insekten und anderen Fressfeinden geschützt sind – v.l.n.r.: Nicotiana tabacum (Tabakpflanze), Solanum lycopersicum (Tomate), Solanum melongena (Aubergine) und Capsicum (Paprika).
Im menschlichen Körper imitiert Nikotin einen Teil der Wirkungen des Neurotransmitters Acetylcholin und bewirkt dadurch eine leichte Erhöhung von Herzfrequenz und Blutdruck. Diese Effekte sind harmlos und ähneln jenen von Koffein oder leichter körperlicher Betätigung. Klinische Studien, in denen man die langfristigen Konsequenzen von Nikotinersatzprodukten untersucht hat, erbrachten keinen Hinweis auf ein erhöhtes Risiko für schwerwiegende Erkrankungen des Herzkreislauf-Systems [8,9]. Dennoch sollten Personen mit schweren kardiovaskulären Erkrankungen wie etwa überstandenem Herzinfarkt, Schlaganfall oder peripherer arterieller Verschlusskrankheit („Schaufensterkrankheit“) sicherheitshalber ihren Nikotinkonsum möglichst einschränken oder ganz darauf verzichten. Die Ergebnisse klinischer Studien sind nicht in Stein gemeißelt, und der Teufel schläft bekanntlich nicht.
Neben den typischen, gut untersuchten Wirkungen auf das Herzkreislauf-System wurden in der Fachliteratur vielfältige biologische Effekte von Nikotin beschrieben, deren Relevanz für unsere Gesundheit unklar ist. Herausgreifen möchte ich den möglichen Einfluss des Nikotinkonsums auf Krebserkrankungen. Nikotin ist nicht als krebserregend eingestuft, da es keinen belastbaren Hinweis auf krebserregende Wirkungen gibt. Allerdings fördert Nikotin die Neubildung von Blutgefäßen, die sogenannte Angiogenese [10]. Dieser Prozess ist wichtig für die Wundheilung, führt allerdings bei bestehenden Krebserkrankungen zu einer verbesserten Blutversorgung des Tumors und hat damit beschleunigtes Tumorwachstum zur Folge. Versuche mit Labortieren zeigten derartige Effekte von Nikotin und wiesen auch daraufhin, dass Nikotin die Wirksamkeit von Zytostatika, die in der Chemotherapie das Tumorwachstum bremsen sollen, beeinträchtigen könnten [11-13]. Im Bereich Tabak/Nikotin sind Ergebnisse aus Tierversuchen allerdings besonders schlecht oder gar nicht auf den Menschen übertragbar (siehe Kapitel 8), sodass es unklar ist, ob die Befunde zur Beschleunigung des Tumorwachstums in Labortieren für den Nikotinkonsum mittels E-Zigaretten relevant sind. Bei lebensbedrohlichen Erkrankungen sollte man aber nicht hasardieren, und ich empfehle daher Personen mit Krebserkrankungen sicherheitshalber, wenn möglich, auf Nikotin zu verzichten.
Nikotin hat aber auch positive Wirkungen, die von der Tabakkontrolle unter den Teppich gekehrt werden, um die politisch erwünschte Denormalisierung des Rauchens nicht zu gefährden. Im Vordergrund steht dabei die entzündungshemmende Wirkung, auf der wahrscheinlich die Schutzwirkung gegen die Colitis ulcerosa, einer ausgesprochen unangenehmen entzündlichen Darmerkrankung, beruht. Raucherinnen und Raucher leiden wesentlich seltener an dieser Krankheit, und die Wirksamkeit der Therapie mit Nikotinpflastern ist in klinischen Studien dokumentiert [14,15]. Aus unbekannten Gründen schützt Nikotin aber nicht gegen Morbus Crohn, einer mit der Colitis ulcerosa verwandten Erkrankung. Auch bei Autoimmunerkrankungen [16] wie der Sarkoidose, einer auch in der Lunge auftretenden Bindegewebserkrankung, verbesserte Nikotin die Symptomatik [17]. Im Gehirn scheint die entzündungshemmende Wirkung von Nikotin zur geringeren Häufigkeit von Morbus Parkinson [18,19] und Morbus Alzheimer [20,21] unter Raucherinnen und Rauchern beizutragen.
Besonders interessant sind die psychischen Effekte von Nikotin. Häufig beklagen sich Raucherinnen und Raucher über mangelnde Konzentrationsfähigkeit im Rahmen von Entwöhnungsversuchen. Und tatsächlich zeigen klinische Studien eine Verbesserung kognitiver Leistungen wie Lernen, Gedächtnis und Konzentration durch Nikotin [22,23], während Nikotinentzug im Zuge der Raucherentwöhnung kognitive Beeinträchtigungen zur Folge hat [24]. Der Neurowissenschaftler Paul Newhouse untersucht seit langem die therapeutische Wirksamkeit von Nikotinbehandlung bei Personen mit leichter geistiger Behinderung [25,26]. Die Therapie mit Nikotin wird aufgrund des angeblich hohen Suchtpotentials (siehe 3.4.) abgelehnt, aber analoge Substanzen, die bestimmte Nikotinrezeptoren im Gehirn stimulieren, werden zur Therapie diverser kognitiver Störungen und psychischer Erkrankungen in Betracht gezogen [27]. Kontrovers beurteilt werden die Effekte von Nikotin bei Erkrankungen wie der Schizophrenie [28,29] oder der Aufmerksamkeitsdefizit-Störung mit oder ohne Hyperaktivität, dem AD(H)S [30]. Bei beiden Erkrankungen ist die Raucherquote wesentlich höher als in der Normalbevölkerung, bei Schizophrenie beträgt sie bis zu 80 Prozent. Manche Fachleute gehen davon aus, dass sich die Patienten unbewusst selbst mit Nikotin behandeln und kritisieren die strikten Rauchverbote in psychiatrischen Kliniken. An Schizophrenie erkrankte Personen zeigen aber insgesamt verstärktes Suchtverhalten, sind also zum Beispiel auch eher alkoholabhängig als Gesunde. Somit könnte die hohe Raucherquote auch eine Ausprägung des Suchtverhaltens sein, was die Selbsttherapie-Hypothese des Rauchens bei Schizophrenie in Frage stellt [31].
Mit dem Effekt von Nikotin auf AD(H)S habe ich mich selbst näher beschäftigt. Eine kürzlich publizierte Studie zeigt, dass junge Erwachsene mit ADHS signifikant stärker zur Selbstverabreichung von Nikotin neigen als Kontrollgruppen [32], sodass die höheren Raucherquoten unter Betroffenen offenbar auf Neigung zum Nikotinkonsum zurückzuführen sind. Allerdings stellt sich auch hier die Henne-Ei Frage: Verursacht die kognitive Störung die Vorliebe für Nikotin oder verbessert Nikotin die Symptomatik? Die Fachliteratur dazu ist kontrovers, aber in persönlichen Mitteilungen haben mir Betroffene einhellig berichtet, dass sich ihre Symptome bei Nikotinkonsum, entweder durch Rauchen oder mittels E-Zigaretten, verbessern und nach Entzug wieder verschlechtern. Nachdem diese Erfahrungsberichte auch durch vereinzelte klinische Studien bestätigt wurden, wird die therapeutische Wirksamkeit von Nikotin zur Behandlung des AD(H)S auch von Fachleuten in Erwägung gezogen [27].
3.2 TOXIZITÄT
Häufig liest man Nikotin sei ein tödliches Nervengift. Das ist grundsätzlich richtig, aber nur die halbe Wahrheit. Um das zu verstehen müssen wir zunächst klären, welche Stoffe als Gifte zu bezeichnen sind. In der Bevölkerung besteht vermutlich Einigkeit, dass die aus Kriminalromanen gut bekannten Stoffe Arsenik oder Kaliumcyanid („Blausäure“) Gifte sind, wohingegen Kochsalz oder Arzneimittel gemeinhin als nützlich erachtet werden. Diese Unterscheidung ist wissenschaftlich allerdings nicht haltbar. Bereits vor 500 Jahren hat Paracelsus erkannt, dass der Begriff „Gift“ oder „giftig“ immer auf eine Dosis Bezug nehmen muss. Oder wie das in einem Standard-Lehrbuch der Toxikologie formuliert ist: Es mag ein Dosisbereich existieren, in dem ein bestimmtes Agens eine giftige Wirkung entfaltet. Es gibt immer auch Expositionsbereiche eines Agens, die keine unerwünschten Wirkungen auslösen. [33] Um beim Beispiel Blausäure zu bleiben: Bittermandeln, Aprikosenkerne