sagen läßt, daß eben die Art des zu gestaltenden Stoffes der zeitlichen Folge der Gegebenheiten und der Ortskunde bedarf. Es geht also nicht etwa um eine imaginäre Geographie oder die theologische Aufladung von Räumen, die beide auf der Landkarte nicht zu erkennen sind41, sondern allein um eine synchrone Untersuchung des Markusevangeliums in dem uns vorliegenden, mutmaßlich ursprünglichen Umfang zwischen 1,1 und 16,842 – auch wenn da und dort etwas textkritisch umstritten sein mag. Denn – und hier stimme ich mutatis mutandis Rainer Kessler zu – Ausgang und Ziel jeder Auslegung ist immer das Evangelium als Ganzes in seiner uns vorliegenden Gestalt; jede Rekonstruktion seiner Vorgeschichte ist notwendigerweise hypothetisch43, ist nichts als „Vermutungswissenschaft“44, und es ist ziemlich fraglich, ob und wenn ja, wie weit es überhaupt möglich ist, hinter der vorliegenden Endgestalt des Markusevangeliums dessen Vorgeschichte zu erhellen.
Auf der „normalen Erzählebene“ erwähnt Markus etliche Orte und Territorien, die Namen von Herrschern, besondere Ereignisse wie Gefangennahme und Tod Johannes des Täufers (1,14; 6,14-29), das meteorologische Phänomen der Fallwinde am See Gennesaret (4,37), aber auch die Zeit des reifenden oder reifen Korns (2,23) oder die ortsübliche Dachkonstruktion der Häuser im Palästina des 1. Jahrhunderts (2,4)45, das Fischen mit dem runden Wurfnetz, das noch um die Mitte des vergangenen Jahrhunderts im See Gennesaret in Gebrauch war (1,16)46, und die Schiffahrt auf dem See (s.u. S. 65-70). Dies zu erwähnen hat nur Sinn, wenn es den Lesern, für die Markus schreibt (13,14!), wenigstens soweit bekannt ist, daß sie nachvollziehen können, was der Autor schildert, sie also in der Lage sind, die erzählte Geschichte als ein plausibles Ganzes aufzunehmen.47 Das läßt für die in seinem Evangelium erzählte Welt Leser vermuten, denen die geographischen und topographischen Verhältnisse im damaligen Palästina einigermaßen vertraut waren.48 Dies dürfte auch für die topologischen Beziehungen zwischen den von Markus genannten Orten gelten. Damit liegt es nahe, den syrisch-palästinensischen Raum als möglichen Abfassungsort in Betracht zu ziehen49.
Für die verschiedentlich vermutete Abfassung des Markusevangeliums in Rom spielen die Ortsangaben im Evangelium keine Rolle, wohl aber die dort zu findenden Latinismen50, gleich ob einzelne Wörter oder phraseologische Wendungen. Sie erweisen sich jedoch bei näherem Zuschauen – ein Blick in Bauer-Aland51 genügt – als wenig taugliches Argument:
Mόδιος modius, 4,21), λεγιών (legio, 5,9.15), δηνάριον (denarius, 6,37), κῆνσος (census, 12,14), Kαῖσαρ (Caesar, 14,14.16f.) und κεντυρίων (centurio, 15,39.44f.) begegnen bereits im 2. oder spätestens im 1. Jahrhundert v. Chr. in der Koine. Πυγμή bzw. πυκνά (pugnus, 7,3) dürfte als Latinismus ausscheiden bzw. wäre bereits seit dem 5. Jahrhundert v. Chr. oder gar Homer als Latinismus belegt, was aus naheliegenden Gründen wenig wahrscheinlich ist. Von den verbleibenden Latinismen, die bisher nicht vor dem 1. Jahrhundert n. Chr. nachgewiesen sind, gehören ξέστης (sextarius?, 7,4; jedoch unsicher, ob überhaupt Latinismus) und κοδρέντης (quadrans, 12,42) dem Maß- bzw. Münzwesen an; römische Münzen waren im ganzen Imperium Romanum in Umlauf, und gew iß war es auch damals gut, die Wechselkurse für die gängigen Währungen zu wissen. Σπεκουλάτωρ (speculator, 6,27) entstammt dem Rechtswesen, und πραιτάριον (praetorium, 15,16) ist militärischer Fachausdruck, der geläufig gewesen sein dürfte, da Syria und Iudaea zur Zeit des Markus Provinzen mit Legionsstandorten waren. Es bleibt bloß φραγελλόο flagellare, 15,15) übrig, das bislang nur je einmal bei Markus und Matthäus, jedoch sonst nicht vorkommt.
Nehmen wir noch die drei mutmaßlichen phraseologischen Latinismen52 hinzu, die sich bei Markus finden: ῥαπίσμασιν αὑτὸν ἔλαβον (verberibus eum acceperunt, 14,65), τὸ ἱκανὸν ποιεῖν satisfacere, 15,15) und τιθέναι τὰ γόνατα (genua ponere, 15,19), dann sei nur an die neudeutsche Wendung erinnert, daß etwas „Sinn mache“ – ein immer mehr um sich greifender Anglizismus, der von wenig Verständnis für unsere eigene und die englische Sprache zeugt. In der Antike waren in der Koine jedoch die Latinismen ebenso alltäglich, wie es für uns die Anglizismen sind. Aber leben wir deshalb in London? Was bleibt? Nichts, was in der Sprache des Markusevangeliums für eine Abfassung in Rom spräche.53
1 Klaus Berger: Formgeschichte des Neuen Testaments. Heidelberg 1984. S. 356. Vgl. auch Detlev Dormeyer: Evangelium als literarische Gattung. In: ANRW. Teil II. Bd. 25,2. Berlin 1984. S. 1543 bis 1634, dort S. 1581.
2 Hubert Cancik: Die Gattung Evangelium. Das Evangelium des Markus im Rahmen der antiken Historiographie. In: Markus-Philologie. Historische, literargeschichtliche und stilistische Untersuchungen zum zweiten Evangelium. Hg. v. Hubert Cancik. Tübingen 1984. S. 85-113, dort S. 94. = WUNT 33.
3 Eve-Marie Becker: Das Markus-Evangelium im Rahmen antiker Historiographie. Tübingen 2006. S. 300. = WUNT 194.; vgl. auch dies.: Der jüdisch-römische Krieg (66-70 n. Chr.) und das Markusevangelium. In: Die antike Historiographie und die Anfänge der christlichen Geschichtsschreibung. Hg. v. Eve-Marie Becker. Berlin 2005. S. 213-236, dort S. 235f. = BZNW. Bd. 129. – Bereits genannte Titel werden im folgenden nur noch mit Autor und Kurztitel bzw. Reihentitel und Bandnummer zitiert, s. auch S. 162.
4 Vgl. Eve-Marie Becker: Markus-Evangelium. S. 251 u. 411; Franz Römer: Biographisches in der Geschichtsschreibung der frühen römischen Kaiserzeit. In: Historiographie. S. 137-155, dort S. 148 zu Tacitus′ „Agricola“; Dirk Frickenschmidt: Evangelium als Biographie. Die vier Evangelien im Rahmen antiker Erzählkunst. Tübingen 1997. S. 278-281, bes. S. 281. = TANZ 22.
5 Biblische Schriften sind nach Nestle-Aland28 abgekürzt; ohne Nennung der Schrift beziehen sich Stellenangaben immer auf das Markusevangelium, Jahreszahlen ohne nähere Bezeichnung auf die Zeit n. Chr.
6 S. Martin Hengel: Zur urchristlichen Geschichtsschreibung. Stuttgart 1979. S. 44, ferner Eve-Marie Becker: Einführung. Der früheste Evangelist im Lichte der aktuellen Markusforschung. Eine Standortbestimmung. In: Dies.: Der früheste Evangelist. Studien zum Markusevangelium. Tübingen 2017. S. 1-13, dort S. 7. = WUNT 380, und dies.: Die Konstruktion der Geschichte. Paulus und Markus in Vergleich. In: Dies.: Evangelist. S. 253-278, dort S. 262.
7 Cilliers Breytenbach: Das Markusevangelium als episodische Erzählung. Mit Überlegungen zum Aufbau des zweiten Evangeliums. In: Erzähler des Evangeliums. Methodische Neuansätze in der Markusforschung. Hg. v. Ferdinand Hahn. Stuttgart 1985. S. 137-169, dort S. 139 u. 169. = SBS 118/119; s. a. Gert Lüderitz: Rhetorik, Poetik, Kompositionstechnik im Markusevangelium. In: Markus-Philologie.