wird.“1
Der grundlegende Vorteil gegenüber allen anderen geläufigen Geschichtstheorien besteht darin, dass abstrakt-allgemeine Kriterien entwickelt wurden, die es ermöglichen, jede Epoche der Menschheitsgeschichte und jede Kultur zu analysieren. Doch Robert Kurz warnt:
„Es handelt sich bei diesem Konzept um eine notwendige geschichtstheoretische Abstraktion, die erst durch das historische Material durchgehen muss und nicht unabhängig davon zu beliebigen Schnellschuss-Hypothesen führen kann, schon gar nicht zu einer umfassenden Epochengliederung nach Art der positivistischen Evolutionstheorien oder des ‚Histomat‘“ (Kurz 2007, S. 12; Hervorhebung Kurz).
Hier soll ein erster Versuch unternommen werden, diese abstraktallgemeinen Kriterien auf einen konkreten Gegenstand, das „vorchinesische“ Neolithikum und das der drei Dynastien (Xia, trad. 2205-1767 v. u. Z.; Shang, 16-11. Jh. v. u. Z.; Westliche Zhou 1045-771 v. u. Z.), anzuwenden.2 Dabei geht es nicht in erster Linie um die Analyse der damals existierenden Fetischverhältnisse, die werden selbstverständlich zur Illustration und Verdeutlichung herangezogen, sondern um eine Kritik der Rückprojektion und Ontologisierung moderner Kategorien auf die Vormoderne. Natürlich kann hier nicht das ganze Neolithikum des „Vor-China“ bzw. die dazu erschienene Literatur behandelt werden. Für einen ersten Versuch reicht es, exemplarisch auf die transhistorisch ontologisierende Rückprojektion moderner Kategorien auf diese Epochen hinzuweisen, wobei so manch Wunderliches ans Tageslicht kommt.
Es besteht nämlich eine grundlegende Differenz zwischen der Vormoderne und der Moderne, die von den Historikern und Vertretern anverwandter Wissenschaftszweige, egal welcher Couleur und unabhängig davon, aus welchem Kulturkreis sie stammen, nicht in der letzten Konsequenz wahrgenommen wird, wie dies eigentlich nötig wäre. Die vormodernen Sozietäten waren mindestens seit der Steinzeit bis hin zur beginnenden Neuzeit allesamt »religiös« konstituiert, in welcher Form auch immer. Es herrschte das »transzendente göttliche Prinzip« (Kurz), der »Glaube an übersinnliche Kräfte und Mächte, der die Daseins- und Lebensverhältnisse der Menschen objektiv beherrschte und bestimmte«, wie eindrucksvoll belegt werden kann. Mit der allmählichen Entwicklung des Kapitalverhältnisses im 15. Jahrhundert verliert das »transzendente göttliche Prinzip« langsam aber sicher seine objektive Daseinsberechtigung:
„In der Moderne verschiebt sich die Fetisch-Konstitution von der transzendent verankerten ‚Gottesbeziehung‘ zur weltimmanenten Wertverwertung (…). Dabei handelt es sich jedoch um eine paradoxe ‚immanente Transzendenz‘, denn die Wertabstraktion als gesellschaftliche Realabstraktion ist nicht weniger ‚übersinnlich‘ als die ganz andere ‚Gottesabstraktion‘. Dieses übersinnliche Wert-Wesen (wie es Marx im Fetischkapitel bestimmt) der qua kapitalistischer Wertverwertung zur offiziellen allgemeinen Reproduktionsform gemachten Warenform ist aber nicht in derselben Weise transzendent wie die vormoderne ‚Gottessphäre‘, sondern ‚diesseitig‘ inkorporiert in die materiellen Warenkörper und damit ‚versachlicht‘. Deshalb konnte die optische Täuschung entstehen, die moderne Gesellschaft sei nicht mehr metaphysisch konstituiert, während tatsächlich die vormoderne religiöse Jenseits-Metaphysik abgelöst wurde durch die moderne Diesseits-Metaphysik des Wert-Abspaltungsverhältnisses“ (Kurz 2006a, S. 14; Hervorh. Kurz).
Wir haben es also in der Moderne mit gänzlich anderen »Fetischverhältnissen« zu tun als mit denen, die in der Vormoderne existierten. Kategorien wie abstrakte Arbeit, Arbeit überhaupt, Wert, geschlechtliche Abspaltung,3 Ware, Geld, Staat und Politik etc., die erst durch das moderne warenproduzierende Patriarchat entstanden sind und mit diesem auch überwunden werden, hatten in der Vormoderne gar keine gesellschaftliche Allgemeingültigkeit, oder sie haben gar nicht existiert. Das heißt, die vormodernen »religiös konstituierten Sozietäten« waren anders konfiguriert als die kapitalistische Gesellschaftsformation. Dies wird von den Vertretern der entsprechenden Zünfte – Archäologen, Historikern, Sinologen etc. – regelmäßig außer acht gelassen.
Ursprünglich war geplant, alle modernen Kategorien, die transhistorisch auf die Vormoderne rückprojiziert und ontologisiert werden, einer radikalen Kritik zu unterziehen. Es stellte sich bei der Lektüre der einschlägigen Werke sehr schnell heraus, dass dieses Vorhaben in einer Abhandlung aus mehreren Gründen nicht zu realisieren war. Denn für viele Sinologen4 bzw. ihre überwiegende Mehrheit stand der verzweifelte Nachweis, dass es im ausgehenden „vor-chinesischen“ Neolithikum – genauer: in der späten Longshan-Periode (ca. 2400-1900 v. u. Z.) – zu so etwas wie einem Staatsbildungsprozess gekommen sein soll, absolut im Vordergrund. In den drei Dynastien soll er dann Realität geworden sein.5 Es reicht den Sinologen offensichtlich nicht, dass dieses Land die einzige Hochkultur ist, die trotz aller Wirrnisse – mehrfache Spaltung des Reiches, Eroberung durch Fremdvölker, halbkolonialer Status bedingt durch die Gelüste der damaligen imperialistischen Mächte Europas, den USA, Rußlands und Japans – mindestens 3.000 Jahre Bestand hatte (von der Westlichen Zhou aus gesehen), nein, es muss ein weiterer roter Faden in die Geschichte dieser Zivilisation implementiert werden. Mit tätiger und kenntnisreicher Mithilfe der Sinologen – nur bedingt erkenntnistheoretischer Art, worauf noch zu kommen sein wird – lässt sich eindeutig zeigen, dass das Neolithikum des „Vor-China“ »religiös« konstituiert war. Das »transzendente göttliche Prinzip« war das herrschende.
Die Widerlegung der Behauptung, dass Staat und Politik charakteristisch für die drei Dynastien war, nimmt soviel Raum ein, dass die radikale Kritik an den wesentlichen Grundkategorien der Moderne, die transhistorisch rückprojiziert und ontologisiert werden, den Rahmen dieser Abhandlung gesprengt hätte. Hinzu kommt, dass manche dieser modernen Kategorien so selbstverständlich auf die Vormoderne angewandt werden, wie z.B. der Begriff der Arbeit, als würden sie zur Natur des Menschen gehören, anstatt diese Kategorien als Zwangsverhältnisse der Moderne zu dechiffrieren. Damit ist nicht gesagt, dass die Menschen der Antike, egal in welcher Kultur sie zu Hause waren, im Paradies gelebt hätten, im Gegenteil:
„Die andere realmetaphysische Konstitution der vormodernen Sozietäten brachte aber auf ihre eigene Weise brutale Zwänge, Friktionen, Machtverhältnisse, Kriege, Elend usw. hervor, eben weil sie keineswegs auf einer ‚strikten Materialität‘ im Sinne gemeinschaftlich-selbstbestimmter Reproduktion beruhte, sondern auf einer metaphysischen Transzendenz-Bestimmung“ (Kurz 2007, S. 11; Hervorh. Kurz).
Nichtsdestotrotz wird beispielhaft auf diese modernen Kategorien eingegangen werden müssen, wenn sie das »transzendente göttliche Prinzip« berühren, wie u.a. die Akkumulation von Reichtum oder dass die vormodernen Sozietäten eine Ökonomie gehabt haben sollen.
Die radikale Kritik an der transhistorischen Rückprojektion der modernen Kategorien Staat und Politik hat Konsequenzen zur Folge. Einerseits werde ich zu Redundanzen durch jene Autoren gezwungen, die der Auffassung sind, dass ein so genannter Staatsbildungsprozess in der Longshan-Kultur in der Entwicklung begriffen war. Obwohl die Sinologen z.T. äußerst ausführlich das »transzendente göttliche Prinzip« phänomenologisch richtig erfassen (ohne diesen Ausdruck zu gebrauchen), ziehen sie daraus falsche Schlüsse. Sie „springen“ vom »transzendenten göttlichen Prinzip« zum transzendentalen. Zwei Beispiele sollen hier vorab angeführt werden: einmal soll die Quelle der politischen Macht ihrer Auffassung nach aus dem »exklusiven Zugang der Herrschenden zu den übersinnlichen Kräften und Mächten« herrühren, zum anderen – dialektisch vermittelt – soll die monopolisierte Kontrolle über Ressourcen – Rohstoffe, aus denen die »rituellen Bronzen« hergestellt wurden – eine Entwicklung befeuert haben, die in der Etablierung eines Staates mündete und somit wiederum die Kategorie Politik hervorgebracht haben soll. Mit anderen Worten, sie können die Differenz zwischen dem »transzendenten« und dem transzendentalen Prinzip gar nicht erfassen, da ihnen eine kohärente und konsistente theoretische Grundlage fehlt.
Um ihre vermeintlichen