Raimund Philipp

Die Geschichte Chinas als Geschichte von Fetischverhältnissen


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»Fetischverhältnissen« und den jeweiligen Kategorien zu differenzieren. So versteigen sich so ziemlich alle Sinologen zu der Behauptung, dass Staat und Politik eine wesentliche Rolle, wenn nicht gar die entscheidende in der Geschichte des ausgehenden „vor-chinesischen“ Neolithikums, der Bronzezeit etc. gespielt hätten (vgl. u.a. Chang 1983, Liu/Chen 2003, Liu 2004). Anders formuliert: bei der Lektüre der verschiedenen Abhandlungen über die genannten Epochen fällt unweigerlich die Rückprojektion moderner – verdinglichter, säkularer – Kategorien auf, die mit vormodernen – »personalen«, »sakralen« – Kategorien in einen Topf geworfen werden. Diese transhistorische Vorgehensweise ebnet die Differenz zwischen Vormoderne und Moderne ein.

      Es gibt einen wesentlichen Grund, der es verbietet, von Staat und Politik zu reden, die angeblich schon seit dem ausgehenden Neolithikum existiert haben sollen: Die »Religion« war keine Ideologie, keine subjektive »Glaubensfrage« (vgl. Kurz 2012, S. 72), sondern konstituierte „reale Verhältnisse (…), also die jeweilige Reproduktion des irdischen menschlichen Lebens und seiner sozialen Zusammenhänge“ (ebd., S. 71). Um es noch deutlicher zu formulieren: Das »transzendente Gottesverhältnis« basierte auf dem »Opferverhältnis« und aus diesem „ist offenbar die Sozietät als solche entsprungen; die Opferhandlungen, die damit verbundenen Rituale etc. bilden die ursprüngliche Matrix sowohl für das Naturverhältnis als auch für das soziale Verhältnis“ (ebd., S. 73). Die aus einem „blinden, verselbständigten, inhaltsfremden und realmetaphysischen Regelsystem(s)“(ebd., S. 72) entstandenen »Fetischverhältnisse« hatten ihre eigene „bestimmte Logik (…), [die] keine eigengesetzliche andere neben sich dulden konnte“ (ebd., S. 91) analog zum anders konfigurierten Kapitalverhältnis, das keine „alternative“ Wirtschaftsformen neben sich duldet. Sind sie einmal entstanden – z.B. die so genannten sharing economy, crowd funding oder „die Tauschidealisten als historische Idioten der Aufklärungsideologie“ (ebd., 412) – werden sie sofort dem Prozess der Verwertung des Werts unterworfen.

      Greifen wir noch einmal auf die obigen Kategorien Staat und Politik zurück. Während diese Kategorien mehr oder weniger gleichursprünglich mit dem Kapitalverhältnis – Staatsbildungskriege, Feuerwaffen-Ökonomie (Kurz) – entstanden sind und im Laufe des Durchsetzungs- und Aufstiegsprozesses zu dessen abgeleiteten Funktionselementen mutierten und seiner (des Kapitalverhältnisses) eigengesetzlichen Logik zu folgen hatten – Staat und Politik als verdinglichte Herrschaftsinstrumente, die den reibungslosen Produktionsprozess zu gewährleisten hatten (Infrastrukturmaßnahmen i. w. S. d. W.) – konstituierte das »transzendente göttliche Prinzip religiöse Sozietäten«, die auf dem »Opferverhältnis« basierten, dass bestimmte »Rituale« hervorbrachte, die durch den Herrscher vollzogen wurden – als »personifiziertes Herrschaftsverhältnis« -, der als »Stellvertreter Gottes« Mittler zwischen der weltlichen und der »übersinnlichen Sphäre« fungierte.

      Obwohl die Sinologen mehr oder weniger ausführlich auf die »rituellen Opferhandlungen« eingehen – »Menschen- und Tieropfer« z.B. bei den Shang, weitgehende »Substituierung« ersterer durch die Zhou – erkennen sie den tatsächlichen Charakter dieser Sozietät nicht, die »religiös« konstituiert war und ein gänzlich anderes »Fetischverhältnis« hervorbrachte, das seine eigene Logik hatte. Hier haben wir, wie oben schon erwähnt, erneut eine Gemeinsamkeit von Vormoderne und Moderne vor uns: keines dieser »Fetischverhältnisse« duldet andere eigengesetzliche neben sich (s. w. o.) Trotzdem kommen die Sinologen vollkommen unvermittelt zu der Schlußfolgerung, dass durch die »Religion« politische Macht entstanden sein soll.

      Da, wie schon erwähnt, die Sinologen, Historiker etc. über keinen kohärenten und konsistenten Theorieansatz verfügen – was die betreffenden Vertreter der einzelnen Fachgebiete natürlich anders sehen – muss hier die Theorie der Geschichte als Geschichte von Fetischverhältnissen in Grundzügen dargestellt werden. Da dieser Theorieansatz neueren Datums ist und zudem außerhalb des akademischen Wissenschaftsbetriebs entstand, dürfte er in diesem etablierten und erlauchten Kreis weitgehend unbekannt sein, zumal sich die akademische Honoratiorenschaft mehr oder weniger erfolgreich gegen außeruniversitäre und progressive Erkenntnisse abzuschotten weiß.

      Die Darlegung des Theorieansatzes wird durch offensichtlich existierende »Fetischverhältnisse« veranschaulicht, wobei auf die Differenzen und die Gemeinsamkeiten von »vormodernen« und »modernen Fetischverhältnissen« verwiesen wird.

      Die »vormodernen Fetischverhältnisse« des „vor-chinesischen“ Neolithikums wie die der drei Dynastien dienen als Beispiele, sie bedürfen einer eingehenden Untersuchung und Analyse im Kontext des betreffenden historischen Zeitraums, um sie in diesem Zusammenhang dechiffrieren zu können. Liu Li untersucht in ihrer Abhandlung The Chinese Neolithic. Trajectories to Early States bestimmte Regionen, wobei die Zeitspanne von 7000-1500 v. u. Z. umfasst, z.B. „the Peiligang culture (ca. 7000/6500-5000 BC) in Henan; the Yangshao culture (ca. 5000-3000 BC) in Henan, Shanxi, and Shaanxi; the Dawenkou culture (ca. 4100-2600 BC) in Shandong and northern Jiangsu; the Qujialing culture (ca. 3000-2600 BC) in Hubei and southern Henan; the early Longshan period (Miaodigou II culture, ca. 3000/2800-2600/2500 BC) in Henan, Shanxi, and Shaanxi; the Erlitou culture (ca. 1900-1500 BC) and Xiaqiyuan culture (ca. 1800-1500 BC) in southern Shanxi, Henan, and southern Hebei; and Yueshi culture (ca. 1900-1500 BC) in Shandong and northern Jiangsu“ (Liu 2004, S. 16). Das ist in dieser Abhandlung nicht zu leisten. Dass diese »Fetischverhältnisse« tatsächlich existiert haben, wird auch von den Sinologen nicht bestritten, auch wenn sie den Begriff Fetischverhältnis nicht verwenden.

      Neues bringt bekanntlich die eingefahrenen Bahnen durcheinander und rüttelt an dem Selbstverständnis des akademischen Establishments. Aber vielleicht lässt sich durch