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Fassen wir den Begriff und Inhalt des Sozialstaates zusammen, so ist er „eine Antwort auf den steigenden Bedarf nach Regulierung der im Gefolge von Industrialisierung und Urbanisierung immer komplizierter gewordenen sozialen und wirtschaftlichen Verhältnisse, auf die geringere Bedeutung der traditionellen Formen der Daseinsvorsorge vor allem in der Familie und auf die Zuspitzung von Klassengegensätzen“61. Der Sozialstaat versucht die „von dem umfassenden Wandel von Wirtschaft und Gesellschaft betroffenen Menschen in ihrer sozialen Existenz zu sichern und an den Früchten der wachsenden Produktivität durch Hebung des allgemeinen Wohlstandes partizipieren zu lassen“62. Dies impliziert nicht die Aufhebung sozialer Ungleichheit, sondern nur deren Abmilderung.
Verfassungsrechtlich verankert und damit deutlich aufgewertet ist der Sozialstaat der Bundesrepublik Deutschland in den Artikeln 20, Abs. 1 und Artikel 28, Abs. 1 des Grundgesetzes. Gemäß Artikel 20, Abs. 1 ist die „Bundesrepublik Deutschland „ein demokratischer und sozialer Bundesstaat“. Artikel 28, Abs. 1 spricht von den Grundsätzen eines „sozialen Rechtsstaates“. Allerdings geht das Grundgesetz inhaltlich nicht näher auf diese Staatszielbestimmung ein.63 Hans F. Zacher betont deshalb folgerichtig: „Der Sozialstaat ist etwas Offenes“64, seine tatsächliche Ausgestaltung sei nur vage im Grundgesetz verankert und letztendlich entscheidet die Politik über die konkrete Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung. Im Unterschied zur Verfassung der Weimarer Republik finden sich im Grundgesetz nur wenige soziale Grundrechte: Das Recht der Koalitionsfreiheit in Art. 9, Abs. 3, das die Bildung von Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden sichert, die freie Arbeitsplatzwahl und Berufswahlfreiheit in Art. 12, Abs. 1, die Gewährleistung und Sozialbindung des Privateigentums in Art. 14.
2. Grundprinzipien des deutschen Sozialstaates
Grundsätzlich basiert das gesamte System der sozialen Sicherung in der Bundesrepublik Deutschland, auch gesellschaftliche Risikovorsorge genannt, auf dem Versicherungsprinzip, dem Versorgungsprinzip und dem Fürsorgeprinzip.65
Versicherungsprinzip:
„Kernstück der Sozialen Sicherung in Deutschland ist die Sozialversicherung“ für die großen Lebensrisiken Alter, Invalidität, Krankheit und Arbeitslosigkeit. Die auf Bismarck zurückführende obligatorische Sozialversicherung stieg zum „zentralen Element“ des sozialen Sicherungssystems auf. Eine staatlich organisierte Sozialversicherung erweist sich für diese nur bedingt kalkulierbaren Risiken im Vergleich zu einer privaten Versicherung als besser geeignet. Erstens können umfassende Solidargemeinschaften mit einer Umlagenfinanzierung große Belastungen, Katastrophen, Kriege eher bewältigen als kapitalansparende Sicherungssysteme, die durch Kriege oder Inflation leichter vernichtet werden. Vorteilhaft ist zweitens das Prinzip der Pflichtversicherung, da es den Menschen manchmal an einer ausreichenden privaten Vorsorge mangelt. Entscheidendes Kriterium für das Prinzip der Sozialversicherung ist aber drittens die Verknüpfung vom Versicherungsprinzip mit dem Solidarprinzip, wodurch eine Umverteilung der Belastungen erfolgt.
Beispielhaft für den Gedanken des Solidarprinzips steht die gesetzliche Krankenversicherung, wo die jeweils gezahlten Beiträge nicht das mögliche Risiko widerspiegeln, denn der Kranke und der Gesunde zahlen bei gleichem Einkommen die gleiche Prämie. Es herrscht demzufolge kein Äquivalenzprinzip. Man kann drei Ausprägungen des Solidarprinzips festmachen:66 Erstens werden ungleiche Risiken mit gleichem Beitrag zusammengefasst, zweitens besteht eine „intertemporale Umverteilung“, d.h. mit Blick auf den Generationenvertrag in der Rentenversicherung bedeutet dies einen Leistungserhalt in der Lebensphase, wenn selber kein Beitrag mehr geleistet wird bzw. werden kann, und drittens werden die Lasten durch eine einkommensabhängige Beitragszahlung zugunsten der Schwächeren durch die Stärkeren zumindest bis zur Beitragsbemessungsgrenze umverteilt. Letzteres ist vor allem in der Krankenversicherung ausgeprägt.
(b) Versorgungsprinzip:
Das Versorgungssystem basiert demgegenüber auf Steuermitteln und die Begünstigten haben einen Rechtsanspruch auf Leistungen wie beispielsweise die Kriegsopferversorgung ohne vorherige Beitragsleistung.
(c) Fürsorgeprinzip:
Das Fürsorgeprinzip hingegen verlangt eine Bedürftigkeitsprüfung vor einer Leistungsgewährung. Ein Anspruch auf Leistung besteht erst dann, wenn eigenes Vermögen und Einkommen sowie etwaige Unterhaltspflichten von Angehörigen nicht eingefordert werden können. Die Leistungen werden ebenfalls aus Steuermitteln bestritten, Beispiele sind die Formen der Grundsicherung, die Ausbildungsförderung oder das Wohngeld.
Gerhard Bosch variiert und differenziert einige übergreifende Grundprinzipien des deutschen Sozialmodells:67 Erstens nennt er das Subsidiaritätsprinzip, demzufolge ein Eingreifen des Staates erst erfolgt, wenn andere Ebenen nicht entsprechend helfen können, zweitens das mit der Rentenreform 1957 implementierte Prinzip der Sicherung des erreichten Lebensstandards, drittens das verfassungsrechtlich verankerte Prinzip der gleichen Lebensbedingungen in allen Landesteilen und viertens das Prinzip des equal pay bei vergleichbarer Arbeit in einem Betrieb.
Den zentralen Stellenwert bei der Darstellung der Einrichtungen und Leistungen des deutschen Sozialstaates nimmt das Sozialgesetzbuch (SGB) ein, das die Teile des verstreuten Sozialleistungsrechts in einem Gesetzeswerk zusammenfassen soll. 1976 begann diese große Aufgabe mit dem SGB I, dem Allgemeinen Teil. Der Allgemeine Teil des SGB beinhaltet eine Kodifikation sozialer Rechte des Bürgers, also eine Art „Sozialcharta für die Bundesrepublik Deutschland“68. § 1 SGB I formuliert als Aufgabe des Sozialrechts „… ein menschenwürdiges Dasein zu sichern, gleiche Voraussetzungen für die freie Entfaltung der Persönlichkeit, insbesondere auch für junge Menschen, zu schaffen…“. Die §§ 2 bis 10 beschreiben die sozialen Rechte der Bürger mit dem Anspruch auf soziale Sicherung, soziale Entschädigung und soziale Förderung, die §§ 13, 14 und 15 regeln Fragen der Durchsetzung des Rechtsanspruchs. Hierbei geht es um die Pflicht der Leistungsträger der Sozialen Sicherung zur Aufklärung, Beratung und Auskunft. Bisher sind 12 Bücher des Sozialgesetzbuches erschienen:
Abbildung 1: Sozialgesetzbuch (SGB)
Buch I: Allgemeiner Teil (1976) | Buch II: Grundsicherung für Arbeitssuchende (2003) |
Buch III: Arbeitsförderung (1998) | Buch IV: Gemeinsame Vorschriften für die Sozialversicherung (1977) |
Buch V: Gesetzliche Krankenversicherung (1989) | Buch VI: Gesetzliche Rentenversicherung (1992) |
Buch VII: Gesetzliche Unfallversicherung (1996) | Buch XIII: Kinder- und Jugendhilfe (1991) |
Buch IX: Rehabilitation und Teilhabe behinderter Menschen (2001) | Buch X: Sozialverwaltungsverfahren und Sozialdatenschutz (Neufassung 2001) |
Buch XI: Soziale Pflegeversicherung (1994) | Buch XII: Sozialhilfe (2003) |
Schließlich sei noch die Finanzierung des deutschen Sozialstaates kurz aufgegriffen. Die deutschen Sozialversicherungen als das Kernstück des Sozialstaates werden durch ein Umlagesystem finanziert, das aber eine begrenzte Liquiditätsreserve für kurzfristige Schwankungen beinhaltet.