Manfred Krapf

Der deutsche Sozialstaat seit der Jahrhundertwende


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Raum gebräuchlichen Terminus Wohlfahrtsstaat bzw. welfare state, der noch an die Wohlfahrtspflege aus der vordemokratischen Epoche des aufgeklärten Absolutismus erinnert.53 Demgegenüber wird hier betont, dass der moderne, voll ausgeprägte Sozialstaat „eine besondere Form der Massendemokratie“ ist, wenngleich einzelne Elemente des Sozialstaates durchaus in vordemokratischen Staaten und planwirtschaftlich organisierten Staaten, autoritären Staaten oder faschistischen Diktaturen zu finden sind. Sozialpolitik als Begriff kam in der Mitte des 19. Jahrhunderts auf und erlebte immer wieder einen Definitionswechsel. Dies galt auch für Deutschland als Pionierland der Sozialpolitik, wo seit Bismarcks Zeiten immer wieder Bezeichnungen auftauchten wie „Soziale Frage“, „Arbeiterfrage“ oder „Sozialstaat“. Letztlich ist der Begriff Sozialpolitik heute sehr umfassend angelegt, denn er beinhaltet neben staatlicher Sozialpolitik die Sektoren Markt, Verbände und Familien sowie andere Politikfelder wie z.B. Bildungspolitik oder regionale Wirtschaftsförderung oder Arbeitsbeziehungen.

      Der Begriff des Sozialstaates ist in Deutschland wohl auf Lorenz von Stein in der Mitte des 19. Jahrhunderts zurückzuführen, der die Bezeichnung „soziale Demokratie“ und den Terminus des „sozialen Staates“ verwendete. In der Weimarer Republik sprach man vom „Sozialstaat“ in einem positiveren Sinne. Der moderne Sozialstaat, der sich begrifflich nach 1945 im (west)deutschen Sprachgebrauch endgültig durchgesetzt hat, beinhaltet die „wesentlichen demokratischen Elemente der Gleichheit und Selbstbestimmung der Staatsbürger“. Der Terminus „Sozialstaat“ vermeidet Anklänge an eine paternalistische Wohlfahrt aus der Zeit des Absolutismus, die die bürgerliche Freiheit beschränkte.

      Die genannten Autoren sprechen von dreifachen Entgrenzungen der Sozialpolitik, nämlich sektoraler, funktionaler und territorialer Art, und verwenden einen erweiterten Begriff von Sozialpolitik, um die Pluralität der Wohlfahrtsproduktion insgesamt zu erfassen. Denn neben dem Staat als den wichtigsten Produzenten agieren auch andere Akteure, Programme oder Angebote. Man spricht im Kontext der erweiterten Sozialpolitik von einem Wohlfahrtsmix, einem Wohlfahrtspluralismus oder einer Wohlfahrtsproduktion. Dabei wird zwischen den Sektoren Staat, Markt, Verbänden und Familien/Haushalten unterschieden, wobei sich die Sektoren verwischen. Unter einem erweiterten Begriff von Sozialpolitik subsumieren andere Forscher staatliche, fiskalische, marktförmige, freiwillige informelle und betriebliche Programme und betonen Privatisierungen und eine Vermarktlichung sozialpolitischer Aktivitäten. Man beschreibt sie als hybride Märkte mit sozialpolitischer Zielsetzung und bezeichnet sie als Wohlfahrtsmärkte (Beispiel: die Riesterrente).

      Neben dieser sektoralen Entgrenzung läuft parallel die funktionale Entgrenzung, durch die immer mehr Politikfelder ins Blickfeld der Sozialpolitik geraten, d.h. Mittelstandspolitik, Wettbewerbspolitik, Verbraucherschutzpolitik oder Umweltpolitik. Zwar sei die „Vermeidung sozialer Risiken und Kompensation von Marktungleichheiten [ist] weiterhin funktionaler Kern der Sozialpolitik, wird aber mittlerweile häufig weiter gefasst“. Zusammenfassend umgreift der Aufgabenbereich der Sozialpolitik verschiedene Politikbereiche und weist keinen funktionalen Kern mehr auf.

      Schließlich fungiert als dritte Entgrenzung die territoriale Ebene, wobei zunächst nur die nationale Ebene maßgeblich war. Nunmehr aber habe sich die territoriale Ebene zweifach entgrenzt, d.h. einerseits in Richtung einer Regionalisierung und andererseits in Richtung einer Internationalisierung, wenngleich weiterhin gilt, „der nationale Wohlfahrtsstaat bleibt aber der zentrale Bezugspunkt der Sozialpolitik“, da sich eine dem Nationalstaat vergleichbare europäische Sozialpolitik bisher nicht ausbilden konnte. Resümierend gesehen hat sich ausgehend vom eher engen Konzept des nationalen Wohlfahrtsstaates die Sozialpolitik auf sektoraler, funktionaler und territorialer Ebene dreifach entgrenzt. Aus heutiger Perspektive zählen zur Sozialpolitik alle Ebenen und Funktionen, wobei der Staat die sozialpolitische Koordinierung beibehält. Der Nationalstaat bleibt aber dessen ungeachtet die „mit Abstand wichtigste Quelle von Sozialpolitik“ und die nationale Gesetzgebung legt weiterhin die Grundregeln fest.