übrigens (in der Vorrede zur Proximus-Histori) auch die Bezeichnungen „denckwürdig“, „merckwürdig“, „wunderbarlich“ für erzählenswerte historische Ereignisse.33
Daß die deutsche Garzoni-Übersetzung insgesamt eine Art Sprachschule für Grimmelshausen gewesen ist, ist bekannt. Im Historiker-Diskurs Garzonis fand er darüber hinaus auch speziellere Anweisungen zur stilistischen Ausarbeitung seiner Historien. Garzoni fordert vom Historiker einen „schönen stylus […] nicht gezwungen/oder zu gar curiosus, sondern viel mehr auffrichtig/vnnd laufftig [= geläufig]/als sonsten sey“;34 „klar vnd verständlich“35 solle er schreiben und „eine gute Ordnung nach der zeit“ einhalten.36 Auch sei erforderlich, „daß er nicht zu lange dicentes mache/sondern eine Geschicht kurtz fasse/doch daß nichts vergessen werde/das zu wissen nötig/vnd nichts darzu gesetzet werde/das nicht dahin gehöret“.37
Grimmelshausen hat sich an diese Anweisungen gehalten. Seine Historien sind verständlich, halten sich an die Abfolge der Ereignisse und sind vergleichsweise kurz; er macht in der Tat „nicht zu lange dicentes“, gebraucht übrigens selbst diese Redewendung.
Bei solcher Nähe zu Garzonis Historiker-Diskurs fällt umso deutlicher der gravierende Unterschied in der Konzeption von Geschichte ins Auge. Garzoni stellt die Historie nicht in den Rahmen der Heilsgeschichte. Der italienische Humanist orientiert sich an der vorchristlichen antiken Geschichtsauffassung und beschränkt sich auf Hinweise zum moralischen Nutzen der Historien: diese „entzünden die Gemüther zur Tugendt“, bringen die „Ehrlichen“ bei der Nachwelt zu Ehren, bewirken immerwährende Schande der „Unehrlichen“, halten zur Gottesfurcht an usw.38 Dieser indifferenten Auffassung von Geschichte gibt der Konvertit Grimmelshausen die für das 17. Jahrhundert typische augustinische geschichtstheologische Ausrichtung, indem er die Geschichte der providentia Dei unterstellt, ohne daß dadurch der freie Wille der Akteure eingeschränkt würde. Diese Geschichtsdeutung wurde vor allem durch jesuitische Autoren vertreten und über die Konfessionsgrenzen hinweg durchgesetzt.39 Grimmelshausen ist ihr vermutlich schon bei seiner Arbeit am Keuschen Joseph in Jeremias Drexels Joseph-Traktat (deutsch Mainz 1645) begegnet.40 Drexel hatte die biblische Joseph-Historia als Muster einer Historia („gantz voller Safft“) gepriesen, die sich aufgrund ihrer inhaltlichen, dispositionellen und affekterregenden Qualitäten gleichsam von selbst erzähle, und hatte ihren Nutzen als „lebendiger Spiegel aller Tugenden“ herausgestellt, in dem Joseph als „rechtes Muster der hohen Obrigkeit“ erscheine. Er hatte aber vor allem auf ihre heilsgeschichtliche Dimension als ihren großen Vorzug aufmerksam gemacht. Einzigartig sei diese Historia dadurch, daß sie dem Leser die „Vorsehung Gottes/als ein rechte Schiltwacht/so nicht vberrauschet noch vbergangen kan werden“, vor Augen stelle.41 Drexel ist einer der erfolgreichsten Vermittler augustinischen Denkens im 17. Jahrhundert. Sein Traktat „Heliotropium seu Conformatio humanae voluntatis cum divina“ – „Sonnenwend das ist/von Gleichförmigkeit deß Menschlichen Willens mit dem Willen Gottes“ (lat. und deutsch 1627) liefert im übrigen das Modell, nach dem Grimmelshausen die zur Demut fähigen Helden seiner Historien und ihre Versuche, in Übereinstimmung mit der göttlichen Vorsehung zu handeln, dargestellt hat.42 Gegenteiliges Handeln ist, einem Kommentar in der Proximus-Histori zufolge, vergeblich:
Aber ach? waß ists mit vnß? waß ists mit vnseren schwachen Kräfften? Was ist mit vnserem geringen Widertsandt/wan wir wider vnser aigne Natur: wider den Willen des höchsten (der vns so weit verborgen ist/so weit er etwas ins künfftig zuthun beschlossen vnd ihm allein zuwissen vorbehalten) kämpffen vnd streitten wollen? diser oder jehner göttlichen Vorsehung zuentgehen? 43
Selbst im picarischen Genre bildet die providentia Dei die Grundlage für die Geschichtsdarstellung. Die Folge seiner Histori erfordere, argumentiert der Ich-Erzähler im „Simplicissimus Teutsch“ (I 4), daß er „der lieben posterität hinderlasse/was vor Grausamkeiten in diesem unserm Teutschen Krieg hin und wieder verübet worden“; mit seinem eigenen Exempel wolle er „bezeugen/das alle solche Ubel von der Güte deß Allerhöchsten/zu unserm Nutz/offt notwendig haben verhängt werden müssen: Dann lieber Leser/wer hätte mir gesagt/daß ein GOtt im Himmel wäre/wann keine Krieger meines Knans Hauß zernichtet/und mich durch solche Fahung unter die Leut gezwungen hätten/von denen ich genugsamen Bericht empfangen?“44 Der seine Histori aufzeichnende Simplicissimus treibt rückblickend die Deutung seines Lebenslaufes von der providentia Dei her bis zur äußersten Konsequenz. Grimmelshausen steht mit solcher Geschichtsdeutung keineswegs allein unter den Dichtern des 17. Jahrhunderts. Die historischen Dramen Lohensteins, dessen Arminius-Roman demonstrieren gleichfalls das Wirken der göttlichen Vorsehung in der Geschichte, ihre Verkennung im Banne der Affekte und ihren endlichen Triumph. Erst in Leibnizens Theodizee-Schrift erreicht die Reflexion über die augustinische Geschichtsdeutung ihren barocken Gipfelpunkt.45
III
Damit ist der Horizont abgesteckt, in dem sich der Erzähler Grimmelshausen als Historiker bewegt, aber noch nicht geklärt, was Grimmelshausen unter einer Histori versteht. Denn nicht nur die vier historischen Erzählwerke bezeichnet er so, sondern auch den Simplicissimus Teutsch und dessen Sproßgeschichten. In seinem Verständnis bietet eine Histori anscheinend Raum für Abschweifungen und Erweiterungen aller Art. In diesem Zusammenhang spricht er verschiedentlich von der „Vollkommenheit“ der Histori, so in seiner Dietwalt-Histori:
Allein diß darff ich nicht verschweigen/weil ich vermeine es müste unserer Histori umb zu ihrer Vollkommenheit zu gelangen/ohnumgänglich einverleibt werden; das sich nemblich zwischen diese grosse Personen auch der kleine Gott gemängt/der die Hertzen der Menschen mit Lieb beladen: und hingegen die freye Gemühter ihrer Freyheit zu berauben pflegt. 46
Im Musai argumentiert der Erzähler in ähnlicher Weise:
Meine gnädige Frau vergebe mir/daß ich hier einen kleinen Absprung nehmen muß/meine Histori zu erläutern/indem ich der Semiramide gedencken muß/wann ich anders meine Histori/wo nicht vollkommen/doch etwas verständlicher erzehlen will.47
Manfred Koschlig hat in seiner Studie „Das Lob des Francion bei Grimmelshausen“ (1957) gezeigt, daß Grimmelshausen diesen Begriff aus der 1662 erschienenen deutschen Übersetzung von Charles Sorels Roman Histoire comique de Francion übernommen hat.48 „Vollkommenheit der Histori“ bedeutet dort die Einführung von Umständen, die zwar nicht „denckwürdig“ sind, aber zur „Abbildung des menschlichen Lebens“ dazugehören,49 wie vor allem schamverletzende Liebeshändel, die dieser Satiriker „gar natürlich“ beschreiben und dazu die „gantze Sprach“ benutzen will, weil sonst seine Histori eben „unvollkommen“ sein würde.50 Grimmelshausen übernimmt von Sorel diese Begrifflichkeit, hatte allerdings zuvor auch schon dem Historiker-Diskurs Garzonis entnehmen können, daß es nicht nur darum gehe, „Namen/Gerücht/Leben/Natur vnnd Qualitet der Personen“, sondern auch ihre Handlungen mit allen Umständen und Zufällen „ordentlich“ zu erzählen.51 Die zitierten Textstellen in Grimmelshausens Historien sind gleichwohl nicht im Sinne der Sorelschen Freiheit des Satirikers zu deuten. Im „Dietwalt“ meint die „Vollkommenheit der Histori“ die Einbeziehung der Liebesaffekte der versammelten germanischen Fürstensöhne und -töchter, die zu folgenschweren politischen Verwicklungen führen. Im „Musai“ bezeichnet „Vollkommenheit“ die Einbeziehung einer scheinbar abseitigen historischen Gestalt, die aber durch ihre Liebesaffekte das Leben des Vaters des Helden und damit auch dessen Werdegang entscheidend beeinflußt. „Vollkommenheit der Histori“ ist bei Grimmelshausen kein Freibrief für schlüpfrige Nebendinge, sondern erfüllt eine Funktion im Rahmen seiner Geschichtsdeutung: Eingeführt werden Affekthandlungen, die zu einer Verkennung der providentia Dei führen, die aber das durch die providentia Dei gesetzte Ziel der Histori letztlich nicht aufhalten können und damit deren Macht – „verständlich“ – erweisen.
Aus einer (von Koschlig nicht erwähnten) Stelle in der „Continuatio“ geht zudem hervor, daß Grimmelshausen die „Vollkommenheit“ nicht eigentlich zu den Erzählprinzipien der Gattung Historia rechnet; er schreibt:
Mein großgünstiger hochgeehrter Leser/wann ich eine Histori zuerzehlen hätte/so wolte ichs kürzer begreiffen und hier nicht soviel Umbständ