»Der Sitz des Römischen Reiches ist Konstantinopel«, schrieb Georg Trapezuntios, »und wer Kaiser der Römer ist, der ist auch Herrscher der ganzen Welt«.2
Moderne Nationalisten haben die Belagerung Konstantinopels als Kampf zwischen den Griechen und den Osmanen gedeutet, doch solche Vereinfachungen sind irreführend. Keine der beiden Seiten hätte diese Deutung akzeptiert oder auch nur verstanden, wenngleich sie die jeweilige Gegenseite Griechen und Osmanen nannten. Die Osmanen, genauer gesagt der Stamm von Osman, nannten sich selbst so oder einfach nur Muslime. »Türke« war eine herabsetzende Bezeichnung, die von den westlichen Staaten verwendet wurde; der Name »Türkei« war den Osmanen unbekannt, bis er bei der Gründung der neuen Republik im Jahre 1923 aus Europa entlehnt wurde. Das Osmanische Reich war 1453 bereits ein multikulturelles Gebilde, das die Völker der von ihm unterworfenen Gebiete in sich aufsog, ohne großen Wert auf ethnische Identität zu legen. Seine Kerntruppen waren Slawen, sein führender General ein Grieche, sein Admiral ein Bulgare und sein Sultan wahrscheinlich ein halber Serbe oder Mazedonier. Aufgrund der komplizierten Regelungen des mittelalterlichen Feudalrechts begleiteten ihn Tausende christlicher Soldaten auf dem Marsch von Edirne aus. Sie wollten die Griechisch sprechenden Bewohner Konstantinopels unterwerfen, die wir heute Byzantiner nennen, eine Bezeichnung, die erstmals 1853 verwendet wurde, genau vierhundert Jahre nach der großen Belagerung. Sie galten als die Erben des Römischen Reiches und bezeichneten sich selbst daher als Römer. Ihr Befehlshaber war ein Kaiser, der zur Hälfte Serbe und zu einem Viertel Italiener war, und die Verteidiger waren zum größten Teil Menschen aus Westeuropa, welche die Byzantiner »Franken« nannten: Venezianer, Genuesen und Katalanen, die unterstützt wurden durch einige ethnische Türken, Kreter – und einen Schotten. Auch wenn es schwierig ist, den Teilnehmern der Belagerung feste Identitäten oder Loyalitäten zuzuschreiben, so gab es doch eine Dimension dieses Kampfes, die von den Chronisten nie vergessen wurde: die Frage des Glaubens. Die Muslime bezeichneten ihre Gegner als »verabscheuungswürdige Ungläubige«, »unglückselige Gottlose«, »Feinde des Glaubens«; im Gegenzug wurden sie »Heiden«, »heidnische Ungläubige« oder »die ungläubigen Türken« genannt. Konstantinopel lag in vorderster Front in einem über weite Entfernungen ausgetragenen Kampf zwischen Islam und Christentum um den wahren Glauben. Es war ein Ort, an dem unterschiedliche Versionen der Wahrheit seit achthundert Jahren aufeinandergetroffen waren, im Krieg oder im Frieden, und hier sollte im Frühjahr 1453 in einem verdichteten historischen Moment das Verhältnis zwischen den beiden großen monotheistischen Religionen um neue und dauerhafte Aspekte bereichert werden.
O Christus, Herrscher und Meister der Welt, Dir weihe ich diese Stadt, die Dir untertan ist, dieses Szepter und die Macht Roms.
Inschrift auf der Konstantinsäule in Konstantinopel1
Das Streben des Islams nach der Eroberung dieser Stadt ist fast so alt wie der Islam selbst. Der Glaubenskrieg um Konstantinopel begann schon mit dem Propheten und wurzelt in einem Ereignis, dessen Wahrheitsgehalt wie so vieles in der Geschichte der Stadt nicht verifiziert werden kann.
Im Jahr 629 unternahm Herakleios, der »Selbstherrscher der Römer« und 28. Kaiser von Byzanz, zu Fuß eine Pilgerreise nach Jerusalem. Dies war der krönende Höhepunkt seines Lebens. Er hatte gegen die Perser mehrere eindrucksvolle Siege errungen und die bedeutendste Reliquie der Christenheit zurückgeholt, das sogenannte Heilige Kreuz, das er im Triumphzug wieder zur Grabeskirche überführte. Der islamischen Überlieferung zufolge wurde ihm ein Brief übergeben, als er in der Stadt ankam. Darin hieß es: »Im Namen Allahs, des Gütigsten und Barmherzigsten: Dieses Schreiben kommt von Mohammed, dem Sklaven Allahs, und seinem Apostel, und richtet sich an Herakleios, den Herrscher der Byzantiner. Friede sei mit jenen, die sich der göttlichen Führung beugen. Ich lade Dich ein, Dich Allah zu unterwerfen. Nimm den Islam an, und Allah wird Dir eine zweifache Belohnung zuteil werden lassen. Doch wenn Du diese Einladung zurückweist, wirst Du Dein Volk auf einen falschen Weg führen.«2 Herakleios kannte den Verfasser des Briefes nicht, doch er stellte Nachforschungen an, wie berichtet wurde, und tat das Schreiben anscheinend nicht in Bausch und Bogen ab. Ein ähnlicher Brief an den »König der Könige« in Persien war zerrissen worden. Mohammed quittierte diese Nachricht mit einer unverblümten Drohung: »Richtet ihm aus, dass sich meine Religion und meine Herrschaft weiter ausdehnen werden, als es das Königreich Chosraus jemals vermochte.«3 Für Chosrau war es mittlerweile zu spät – er war im Vorjahr mit Pfeilschüssen getötet worden –, aber das apokryphe Schreiben war eine Vorankündigung der Katastrophe, die über das christliche Byzanz und seine Hauptstadt Konstantinopel hereinbrechen und alles vernichten sollte, was der Kaiser geschaffen hatte.
In den vorhergehenden zehn Jahren war es Mohammed gelungen, die sich bekämpfenden Stämme auf der arabischen Halbinsel mithilfe der schlichten Botschaft des Islam zu einen. Motiviert durch das Wort Gottes und diszipliniert durch das gemeinschaftliche Gebet, wurden Gruppen nomadisierender Räuber in eine disziplinierte Kampftruppe verwandelt, deren Tatendrang nun nach außen gerichtet wurde, über den Rand der Wüste hinaus in eine Welt, die durch die Religion in zwei voneinander getrennte Bereiche geteilt wurde. Auf der einen Seite stand das Dar-al-Islam, das Haus des Islam, auf der anderen befanden sich jene Gebiete, die erst noch erobert werden mussten, das Dar al-Harb, das Haus des Krieges. Ab 630 tauchten muslimische Heere an den Grenzen des Byzantinischen Reiches auf, wo das besiedelte Land in Wüste überging, und sie wirkten wie Geister aus einem Sandsturm. Die Araber waren wendig, gut ausgerüstet und wagemutig. Sie überraschten die schwerfälligen Söldnerarmeen in Syrien. Sie griffen an, zogen sich schnell wieder in die Wüste zurück und lockten ihre Gegner aus ihren Festungen heraus, umzingelten und massakrierten sie. Sie durchquerten die unwirtlichen menschenleeren Wüstengebiete, töteten auf ihrem Marsch ihre Kamele und tranken das Wasser aus deren Mägen – und erschienen dann unerwartet im Rücken ihrer Feinde. Sie belagerten Städte und lernten, wie man sie eroberte. Zuerst fiel Damaskus, dann auch Jerusalem; Ägypten ergab sich 641, Armenien 653; im Laufe von zwanzig Jahren brach das persische Reich zusammen, und seine Bewohner nahmen den Islam an. Die Geschwindigkeit der Eroberungen war atemberaubend, die Anpassungsfähigkeit der Araber außergewöhnlich. Beflügelt durch das Wort Gottes und ihren Eroberungsdrang, bauten die Wüstenvölker in den Häfen Ägyptens und Palästinas mithilfe von Christen Schlachtschiffe, um »den Heiligen Krieg auf dem Meer zu führen«,4 nahmen 648 Zypern ein und besiegten 655 eine byzantinische Flotte in der so genannten »Schlacht der Masten«. Im Jahr 669 schließlich, 40 Jahre nach dem Tode des Propheten, sandte der Kalif Muawijja eine große See- und Landstreitmacht aus, um Konstantinopel einen vernichtenden Schlag zu versetzen. Im Vertrauen auf die Dynamik der muslimischen Siegesserie erwartete er, dass er auch hier erfolgreich sein würde.
Für Muawijja war dies der Höhepunkt eines ehrgeizigen, seit langer Zeit verfolgten Plans, der sehr sorgfältig und gründlich ausgearbeitet und durchgeführt worden war. Im Jahr 669 besetzten arabische Armeen das asiatische Ufer gegenüber der Stadt. Im folgenden Jahr fuhr eine Flotte aus 400 Schiffen durch die Dardanellen und errichtete einen Stützpunkt auf der Halbinsel Kyzikos an der Südküste des Marmarameers. Dort wurden Vorräte angelegt, ein Trockendock gebaut und Versorgungseinrichtungen geschaffen, um einen Feldzug zu unterstützen, der so lange andauern sollte, bis die Stadt gefallen war. Nachdem die Muslime die Meerenge westlich der Stadt überquert hatten, setzten sie erstmals einen Fuß auf das europäische Ufer. Hier nahmen sie einen Hafen ein, von dem aus sie die Belagerung in die Wege leiten und im Hinterland der Stadt groß anlegte Raubzüge und Überfälle durchführen konnten. Die Verteidiger Konstantinopels verschanzten sich hinter ihren dicken Mauern, während ihre Flotte, die im Goldenen Horn vor Anker lag, Gegenschläge auf den Feind vorbereitete.
In den fünf Jahren von 674 bis 678 wiederholten die Araber ihre Angriffe immer nach demselben Muster. Zwischen Frühjahr und Herbst belagerten sie die Stadtmauern und unternahmen Marineoperationen in der Meerenge, bei denen es immer zu Zusammenstößen mit der byzantinischen Flotte kam. Auf beiden Seiten kam dieselbe Art von Rudergaleeren zum Einsatz, und auch die Mannschaften waren ebenbürtig, denn die Muslime hatten sich das seefahrerische Wissen der Christen aus der eroberten Levante