Peter Gerdes

Fürchte die Dunkelheit


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Na, die hatte er ja jetzt.

      »Schicken Sie ihn mir mal her, den Olthoff.« Stahnke wandte sich ab. Der Dicke hatte offenbar mitgehört und folgte ihm ohne weitere Aufforderung über die schmale Brücke, von den Umstehenden wegen dieses Privilegs neidisch beäugt.

      Stahnke führte ihn zur schattigen Terrasse und bot ihm einen der Gartenstühle an. Olthoff nahm Platz, tupfte sich mit einem fleckigen Taschentuch die Schweißperlen von der rosigen Stirnglatze und blickte erwartungsvoll.

      Der Hauptkommissar blickte zurück und schwieg. Drei Kinder, überlegte er, drei tote Kinder. Hier im Garten verscharrt. Zwei davon seit wer weiß wie vielen Jahren schon, eins erst seit relativ kurzer Zeit. Und das hier ist der Nachbar. Ein Dörfler, ein Ostfriese, einer vom Stamm der gewohnheitsmäßigen Pflasterer und Über-den-Zaun-Gucker. Einer, dem sein Nachbar solch ein Dorn im Auge ist, dass er ihm bei passender Gelegenheit die Durchfahrt zubrettert. Was wusste so einer? Was konnte, was musste er wissen?

      Olthoff trug eine beigefarbene Sommerhose, deren Bund zwischen seinen Bauchfalten verschwand, und ein hellgraues, kurzärmliges Hemd mit großen, weiß verkrusteten Schweißflecken unter den Achseln. Seine leicht vorstehenden Augen waren erwartungsvoll geweitet. Er war gespannt, eindeutig – gespannt wie ein Fußballfan vor dem Anpfiff, wie ein Fernsehzuschauer kurz vor Beginn seiner Lieblingsserie. Keine Spur von Schuldbewusstsein oder gar Angst. Im Gegenteil, er schien seine unverhoffte Wichtigkeit zu genießen. Komplizen stellte man sich anders vor.

      Stahnke entschied sich für eine unverfängliche Einstiegsfrage. »Wann haben Sie Esdert Frerichs zuletzt gesehen?«

      Olthoff nickte beifällig; die Frage schien innerhalb seiner Erwartungen zu liegen. »Ja, also, gestern Mittag, nicht wahr. Als er abgeführt wurde. Von Ihren Kollegen.« Der Dicke lächelte erwartungsvoll, als rechne er mit einer guten Note.

      »Hatten Sie die angerufen?«

      »Nein.« Olthoff legte seine rosafarbene Stirn in Falten des Bedauerns. »Ich habe den Schuss nämlich nicht gehört. Muss wohl gerade im Haus gewesen sein. Bei mir ist alles gut isoliert, wissen Sie, Fenster und so, wegen der Bundesstraße, man hätte ja sonst überhaupt keine Ruhe. Aber da waren ja diese Radler, nicht wahr, Ausflügler, die haben’s gehört, und einer von denen hatte ja sein Handy mit.«

      »Natürlich.« Stahnke winkte ab; sicherlich stand das alles in der Akte. Wurde Zeit, dass er sie mal las. »Und davor? Wann hatten Sie zuletzt Kontakt mit Esdert Frerichs? Oder mit seiner Frau?«

      Energisches Kopfschütteln: »Überhaupt nicht.«

      »Wieso überhaupt nicht? Sie wohnen doch praktisch … Na ja, vielleicht nicht Tür an Tür, aber doch Grundstück an Grundstück. Da müssen Sie Ihre Nachbarn doch hin und wieder sehen.«

      »Gesehen, ach so, na sicher, wenn Sie das meinen! Ich dachte … Also, Kontakt haben wir nämlich seit Jahren nicht mehr.« Er rollte die Augen gen Himmel. »Seit mehr als viereinhalb Jahren, wenn ich mich nicht irre. Seit dieser Sache vor Gericht.«

      Er holte Luft, aber Stahnke schnitt ihm das Wort ab: »Sie meinen Ihren Rechtsstreit um das Überwegungsrecht. Ja, ich weiß Bescheid. Haben Sie sich nicht verglichen seinerzeit? Damit dürfte die Angelegenheit doch erledigt gewesen sein.«

      »Ja, das ist richtig.« Olthoff schien beeindruckt. Seine Miene nahm einen ehrfurchtsvollen Ausdruck an, der Stahnke peinlich war, denn er wusste ja, was er alles nicht wusste. »Aber erledigt, also na ja, erledigt … Man ist ja doch etwas reserviert nach so was, nicht?«

      »Was heißt das konkret?«

      »Na, dass wir danach eben nicht mehr miteinander gesprochen haben.«

      »Kein Wort? Seit viereinhalb Jahren?«

      »Genau.« Olthoff nickte mehrmals und verschränkte die sonnenverbrannten Arme.

      »Waren Sie denn vorher miteinander befreundet?«

      »Nein, eigentlich auch nicht. Mal eben ›Moin‹ und ›Wie geht’s?‹ übern Zaun, mehr nicht. Hat sich nie ergeben. Sie, also Margarethe Frerichs, hat ja fast nie ein Wort gesagt. Und er – na, Sie haben ihn ja sicher kennen gelernt.«

      »Ich möchte es lieber von Ihnen hören«, sagte Stahnke, der sich fühlte wie früher in der Schule. Wieder einmal keine Hausaufgaben gemacht; jetzt nur keine Blöße geben.

      Olthoff schien seine Unterarme noch fester um seinen Oberkörper zu knoten. »Er ist so – abweisend, nicht? Wie er einen anguckt. Ich hab immer eine Gänsehaut gekriegt, wenn ich mehr als zwei Sätze mit ihm gesprochen habe. Weiß auch nicht warum, aber Frerichs kann einem Angst machen. Das heißt, inzwischen weiß man ja doch warum, nicht?«

      Stahnke ging nicht darauf ein. »Ging das nur Ihnen so, oder haben das andere Menschen auch so empfunden? Hatte das Ehepaar Frerichs insgesamt wenig Kontakte, waren die beiden isoliert?«

      Olthoffs Gesicht formte sich zu einem Fragezeichen – Wölbungen über Stirn und Wange, der kleine offene Mund als Punkt. Zu abstrakt gefragt, entschied Stahnke und setzte neu an: »Waren die Frerichs’ viel unter sich oder bekamen sie öfter Besuch?«

      »Besuch!« Jetzt nickte Olthoff wieder. »Oh ja, andauernd. Und immer hier über meine Einfahrt. Einfach immer volle Pulle über meinen Grund und Boden. Ich habe ja keine Kinder, nicht wahr, und einen Hund hab ich auch nicht, aber wenn, da wäre ja keiner seines Lebens sicher gewesen! Und der Frerichs selber auch, immer mit Karacho rein und drüber, ohne eine Spur von Rücksicht, lebensgefährlich!«

      »Haben Sie das auch vor Gericht ausgesagt?«

      »Ganz genau so, Wort für Wort.«

      Stahnke hätte drauf wetten können.

      »Und der Besuch, das waren ja nicht nur die Leute hier vom Dorf, Vereinskameraden und so«, fuhr Olthoff fort. »Da waren auch viele Fremde dabei. Welche von weiter weg.«

      »Von woher denn?«

      »Na, Oldenburg zum Beispiel. Konnte man ja an den Nummernschildern sehen.«

      Stahnke musste sich das Lachen verbeißen. Oldenburg! Das waren fünfundsechzig, na, von hier aus vielleicht gut siebzig Kilometer. Ach ja, die Dörfler und die Fremden. Natürlich hatten sie nichts gegen Fremde, außer die Fremden waren nicht von hier.

      Die Miene des Dicken verfinsterte sich; anscheinend hatte er feinere Antennen als vermutet. Schnell schob Stahnke nach: »Aus Oldenburg also, aha. Und woher noch?«

      »Aus Holland«, sagte Olthoff. »Gelbe Nummernschilder. Nicht so oft wie die Oldenburger, aber immer mal wieder.«

      Die Niederlande lagen von hier aus noch weit näher als Oldenburg, aber gut, Ausland waren sie auf jeden Fall. Die Waffengeschichte fiel Stahnke wieder ein. »Haben Sie denn bemerkt, ob da irgendetwas geliefert wurde? Oder abgeholt? Ein- und ausgeladen?«

      »Leider nein. Frerichs hat einen Parkplatz, ein gepflastertes Gelände hinter der Garage, da kann ich von hier aus nicht hingucken. Auf den Vordereingang habe ich freie Sicht, voraus­gesetzt, die Hecke ist richtig geschnitten, nicht wahr, aber der Hintereingang und die Stalltür sind verdeckt. Bedaure.«

      Spitzel, dein Name ist Nachbar, dachte Stahnke. Diesmal brauchte er sich kein Lachen zu verkneifen.

      »Das Einzige, was ich habe, sind die Nummern«, sagte Olthoff.

      »Nummern?«

      »Die Autonummern. Ich hab sie aufgeschrieben. Ein Vierteljahr lang, damals vor der Verhandlung. Hat mir mein Rechtsanwalt empfohlen.« Olthoff machte eine wegwerfende Handbewegung: »Kam dann aber überhaupt nicht dran.«

      »Und Sie haben die Aufzeichnungen noch?«

      »Na klar«, sagte Olthoff stolz, »ich werf doch nichts weg. Wollen Sie sie haben?«

      »Ich bitte darum«, sagte Stahnke.

      Auf Olthoffs vor Wichtigkeit strahlendes Gesicht fiel ein Schatten: Kramer.

      »Was gibt es?«, fragte Stahnke.

      »Nummer