unvermutet ausgebremst, traf ihn die Erschöpfung wie ein Rammbock. Seine Füße schmerzten, seine Beine begannen zu zittern, die Finger seiner schweißklebrigen Hände schienen sich kaum noch biegen zu lassen, und in seinem Kopf machte sich ein kaltes, ziehendes Gefühl breit. Er stützte sich auf das Fußteil des freien Krankenbetts, erspähte dann die kunststoffüberzogenen Besucherstühle an der Wand und setzte sich schlurfend in Bewegung. Der Gedanke, sich hinsetzen zu können, jetzt gleich, ein paar Minuten nur, entwickelte einen hypnotischen Sog.
KK Rosenbohm schien dergleichen Anfechtungen nicht ausgesetzt zu sein. Sie schob sich an ihm vorbei, verstellte ihm den Weg zu den begehrten Stühlen und sagte: »Frau Haak? Könnten wir Sie bitte einen Augenblick sprechen?«
Allzu tief konnte die junge Frau in dem grellweiß bezogenen Bett nicht geschlafen haben. Sie reagierte sofort, öffnete die Augen, hob leicht den Kopf, wandte sich ihnen zu und lächelte.
So muss sich der Urknall angefühlt haben, dachte Stahnke, als heiße Partikelströme Welle um Welle seinen Körper durchdrangen, als Myriaden winziger, brennender Stiche, von denen er nicht genug bekommen konnte, seine Nervenbahnen entlangfegten. Das Zittern in Armen und Beinen verstärkte sich, das Epizentrum der brodelnden Beben aber verlagerte sich in seine Bauchregion. Als ihm der Schweiß aufs Neue ausbrach, wurde ihm schwindelig; da war der erste Ansturm fast schon vorbei, und sein Verstand setzte wieder ein. Die ersten Versuche einer Übersetzung des soeben Empfundenen aber scheiterten kläglich.
Das Gesicht unter dem blonden Schopf war hübsch, war ebenmäßig, fein und glatt wie das einer Porzellanpuppe, aber das war es nicht. Der Körper war vom Oberbett vollständig verhüllt, gesprochen hatte die Frau noch kein einziges Wort, hatte noch nicht das Geringste von ihrem Wesen offenbart. Stahnke wusste durchaus um seine Empfänglichkeit für weibliche Reize, aber spätestens seit seiner Zeit mit Sina konnte er sich doch sicher sein, dass jugendliche Schönheit alleine ihn nicht aus den Socken haute. Also was?
Dumme Frage. Es war der Blick.
Ihre Augen hatten die Farbe von Sahnekaramellbonbons, irgendwo zwischen gold und braun und unbeschreiblich. Die Wärme, die sie ausstrahlten, floss in Schauern über ihn hinweg und durch ihn hindurch, tauchte ihn in ein duftendes Bad aus heißem Glücksgefühl, in dem er zergehen wollte wie ein Kluntje in einer Teetasse, und hob ihn zugleich über alles andere empor, trug ihn hoch hinauf wie ein Aufwind aus Zufriedenheit, aus Bestätigung und Erfüllung. Ihn, ja, ganz sicher ihn, nur ihn allein. Dieser Blick konnte für niemand anderen gedacht gewesen sein.
Jedenfalls nicht für Maike Rosenbohm. Die nämlich begrüßte die junge Frau völlig unbeeindruckt, höflich, aber sachlich und begann mit einer routinemäßigen Befragung, zunächst zur Person, dann zum Hergang der Tat. Stahnke ließ sich nun doch auf dem Plastikstuhl nieder, dankbar dafür, jetzt nicht selbst etwas tun zu müssen.
»Wo kamen Sie denn her letzte Nacht, als es passierte?« Schnell war seine Kollegin bei den interessanteren Fragen angelangt. Sie klang geschäftsmäßig, fast desinteressiert, aber Stahnke wusste ja, dass das Absicht war. Raus mit den Emotionen aus den Erlebnissen, freie Sicht auf die Fakten schaffen. Gewöhnlich eine sinnvolle Taktik. Manchmal allerdings waren es gerade die Gefühle, die verdrängte Erinnerungen freispülten wie Gletscherbäche den Ötzi. Aber das stand so natürlich nicht im Lehrbuch.
Die blonde Frau schaute die Polizistin irritiert an, schien Mühe zu haben, sich auf das Gespräch zu konzentrieren. »Am Abend war ich bei einem Konzert im Zollhaus«, antwortete sie dann. »Aber das war vor Mitternacht zu Ende. Ich bin danach noch etwas spazieren gegangen, weil es so eine herrlich warme Nacht war.«
Tatsächlich lächelte Marion Haak eindeutig anders, während sie KK Rosenbohms Fragen beantwortete. Ernsthaft und beherrscht sah sie aus, sehr nett, sehr hübsch anzusehen, aber anders als vorhin. Klar. Maike Rosenbohm war eben eine Frau. Also doch. Das da gerade eben war ein Lächeln nur für ihn gewesen.
»Etwas spazieren gegangen? Immerhin mehr als zwei Stunden«, warf Maike Rosenbohm ein. »Das nenne ich Ausdauer.«
»Ach, das mache ich gerne hin und wieder. Vor allem durch die Altstadt und rund um den Hafen. Man kann dabei echt gut abschalten. Ich merke dann gar nicht, wie die Zeit vergeht.« Marion Haak ließ ihren Blick von Maike Rosenbohm zu Stahnke wandern und wieder zurück. Wieder spürte Stahnke die Eruptionen im Bauch, die heißen Wellen im ganzen Körper. Am liebsten hätte er die Augen geschlossen, um sich vor einer Überdosis dieses Blicks zu schützen und ihn gleichzeitig auf den Innenseiten seiner Lider für immer zu konservieren. Mühsam beherrschte er sich.
»Und warum sind Sie dann wieder zum Zollhausparkplatz zurückgegangen?«
»Na, weil mein Auto dort stand.« Mildes Erstaunen, fast schon eine höfliche Zurechtweisung klang aus Marion Haaks Stimme. »Ich arbeite draußen in Nüttermoor, das ist zu Fuß etwas weit, nicht wahr? Und weil es im Labor wieder einmal später geworden ist, war ich direkt von dort zum Zollhaus gefahren.«
Maike Rosenbohm nickte. »Ist Ihnen während Ihres Spaziergangs etwas aufgefallen? Oder jemand? Vielleicht eine Person, die Ihnen folgte?«
Die junge Frau überlegte; die steile Falte in ihrer hohen Stirn stand ihr gut, fand Stahnke. »Nein«, sagte sie dann. »Ich war allerdings auch nicht sehr aufmerksam.«
»Gut.« Die Kommissarin blickte von ihren Notizen auf: »Und wie war das dann auf dem Parkplatz? Ein Angreifer oder mehrere?«
Marion Haak schloss die Augen. Die Erinnerung musste quälend für sie sein, denn ihr ohnehin heller Teint war noch blasser geworden, fast schon so weiß wie das Bettzeug. »Ich weiß es nicht«, sagte sie dann mit brüchiger, rauer Stimme. »Vielleicht einer, vielleicht mehrere, keine Ahnung. Ich kann mich nicht erinnern. Nicht einmal daran, ob ich etwas gesehen habe oder nicht. Es ist einfach weg, verstehen Sie?«
»Ja, das verstehen wir«, schaltete sich Stahnke ein. »Das ist alles sehr schwer für Sie, und wir wollen Sie nicht überfordern. Ruhen Sie sich jetzt erst einmal richtig aus. Morgen ist auch noch ein Tag.«
Er stand auf. Auch Maike Rosenbohm erhob sich, allerdings deutlich langsamer als ihre Augenbrauen.
»Kommen Sie«, sagte Stahnke und griff nach ihrem Ellenbogen. »Pausen sind manchmal einfach nötig.«
Sie brauchte ja nicht zu wissen, dass er von sich selber sprach.
8.
Die Tür zu Manningas Büro stand offen und schickte einen Lichtkegel und eine Wolke erkaltenden Zigarettenrauchs hinaus auf den dämmerigen Korridor. Der Chef arbeitete also noch, wie erwartet. Stahnke klopfte kurz an den Türrahmen und schob seinen massigen Körper über die Schwelle, ohne auf ein »Herein« zu warten.
Alt sieht er aus, überlegte er, als er den Kriminaldirektor an seinem Schreibtisch sitzen sah. In einem übervollen Aschenbecher kämpfte die Glut einer nachlässig ausgedrückten Selbstgedrehten hartnäckig ums Überleben. Manninga hatte seinen Oberkörper halb zwischen die aufgestützten Ellbogen sacken lassen; sein Kinn lag auf der Brust auf. Nur die Schreibtischlampe brannte. Ihr kalkiges Licht ließ Manningas Haare schütterer als gewöhnlich wirken und zeichnete harte Schatten in sein erschlafftes Gesicht. Der Mann wirkte erschöpft, mehr noch: kaputt. Aber sehr viel besser sah Stahnke selber nach diesem Tag wohl auch nicht aus.
»Wie war die Vernehmung?«, fragte er. »Haben Sie etwas aus Frerichs rausgekriegt?«
Manninga schüttelte den Kopf: »Nichts. Kein Wort. Der Kerl schweigt wie ein Grab.«
So abgedroschen und unpassend er diesen Ausdruck auch fand, Stahnke war einfach zu müde, um darauf zu reagieren. »Nichts zu machen gewesen? Nicht einmal für Sie als Quasi-Nachbar?«
»Na, das ja nun auch nicht.« Manninga richtete sich auf und hob abwehrend die Handflächen. Die Finger seiner rechten Hand schimmerten gelblich. »Wir wohnen zwar im selben Dorf, aber gute Bekannte waren wir deswegen nicht. Gab ja kaum Berührungspunkte.«
»Ach so. Na, ich dachte ja nur.« Müdigkeit machte reizbar, Stahnke wusste das, und auf ein Streitgespräch mit seinem Chef konnte er wirklich verzichten. Ein andermal gerne, aber nicht