Ulrike Barow

Baltrumer Bitter


Скачать книгу

der ganzen Szene lag ein tiefblauer Himmel und kein Lüftchen regte sich.

      Als die Fähre in der Hafeneinfahrt drehte und die Besatzung die dicken Festmacherleinen aufnahm, fragte Klara: »Hast du schon Fahrkarten gekauft?«

      Frank Visser verschwand in dem kleinen Schalterhäuschen und Klara zog schnell ein Taschentuch aus ihrem großen Umhängebeutel. Einmal über die Augen. Die Tränen rauswischen. Eigentlich hatte sie mit Sonja ein paar Tage am Baggersee abhängen wollen. Alles war geplant gewesen, dann war Klaras Chef mit dem Wunsch an sie und Frank herangetreten, sie möchten auf die Insel fahren.

      »Nutzt eure Chance«, hatte er mit leuchtenden Augen gesagt. »Ich muss mich um das Bensersieler Projekt kümmern.« Sie hatte nicht ablehnen können. Nicht, wenn sie die Stufen auf der Karriereleiter weiter hochklettern wollte. So hatte sie zugesagt.

      »Ich habe die Karten. Mensch, der Chef lässt sich unsere Reise ganz schön was kosten«, stellte Frank schmunzelnd fest und wedelte mit den Tickets.

      »Das dürfte wohl der kleinste Teil der Investitionen sein. Aber es wird sich lohnen«, antwortete sie dem Kollegen. »Wenn wir gut sind. Und das werden wir sein.«

      Nach ihrer Ankunft auf Baltrum luden sie ihr Gepäck auf die Wippe, die für sie am Hafen bereitstand, und folgten der Wegbeschreibung ihrer Vermieterin ins Westdorf. Mit ihnen zog eine große Zahl neuer Gäste über die Hafenstraße. Dort, wo sich die Straße am Nationalparkhaus gabelte, bogen sie links ab, gingen am Witthus vorbei und dann gleich wieder rechts. Nach gut zehn Minuten hatten sie es geschafft. Klara sah eine sympathisch lächelnde Frau mit einer dunklen Kurzhaarfrisur am Gartentor stehen. Das musste Frau Steenken sein.

      Klara atmete tief durch. Die Hitze war fast unerträglich. Und das auf einer Insel. Sie mochte sich nicht vorstellen, wie es im Süden der Republik aussah. Dort konnte man bestimmt fast nicht mehr auf die Straße, ohne einen Hitzschlag zu bekommen. Ihre Füße schmerzten. Stöckelschuhe waren keine gute Entscheidung gewesen.

      Sie hoffte, dass Frank nicht wieder einen auf übertrieben superfreundlich machen würde, denn ihre Vermieterin erschien ihr dem ersten Eindruck nach durch und durch patent und bodenständig. Und genau so musste man die erreichen.

      »Frank Visser. Wir haben bei Ihnen eine Wohnung gemietet. Das ist Klara Ufken. Schön warm haben Sie es hier.«

      Glück gehabt. Ganz normal, die Begrüßung. Kein Gesülze von wegen »schönes Anwesen« und so. Die Klippe war umschifft. Nun kam die nächste. Mit leichtem Herzklopfen folgte sie der Frau in den ersten Stock. Würden Frank und sie sich zumindest zeitweilig aus dem Wege gehen können? Vor allen Dingen nachts?

      Frau Steenken öffnete eine Tür und ließ sie eintreten. »Hier ist das Wohnzimmer mit einer Küchenzeile. Dahinter links befinden sich das Schlafzimmer und die Dusche. Wenn Sie möchten, können Sie gerne morgens bei mir frühstücken. Müsste ich nur vorher wissen. Kurtaxanmeldungen liegen auf dem Tisch.«

      Klara bedankte sich und registrierte erfreut, dass im Wohnzimmer ein großes Schlafsofa stand.

      »Frank, holst du unser Gepäck? Ich muss mich dringend inselfertig machen.«

      Er nickte und ging raus. So was machte er, trotz der überheblichen Sprüche, die er gerade im Beisein von Geschäftsfreunden nicht lassen konnte.

      Klara warf einen Blick ins Schlafzimmer und in die Dusche. Es war okay. Nicht neu, aber alles sauber. Da hatte sie schon in weitaus schlimmeren Unterkünften übernachten müssen. Die Wände waren frisch tapeziert. Die Vorhänge passten farblich zur Bettwäsche. Das Badezimmer mit seinen grauen Fliesen – na ja. Sie schob die Gardine zur Seite und schaute aus dem Fenster. Hinter der Strandmauer sah sie das Meer, das fast wellenlos in der Sonne glänzte.

      *

      Margot Steenken war zufrieden. Es hatte nicht mal einen halben Tag gedauert, bis sie ihre Wohnung nach einer kurzfristigen Absage wieder vermietet hatte.

      Stadtmenschen, hatte sie spontan gedacht, als das junge Paar bei ihr aufgetaucht war. Er: Anzughose in dunklem Blau, mit Bügelfalten, zu einem dezent gestreiften Blazer und sie: Stöckelschuhe und kleines Kostüm. Solche Typen sah man hier ansonsten nur, wenn das Ausflugsschiff von Norderney anlegte. Auf Baltrum trugen die Urlauber bei diesem Wetter kurze Hose, T-Shirt und Sandalen. Die beiden haben unterschiedliche Namen, überlegte Margot Steenken. Scheinen wohl nicht verheiratet zu sein. Oder vielleicht doch. Das weiß man heutzutage ja nicht mehr so genau. Ihr Bauchgefühl sagte im Moment gar nichts. So entschied sie, dass es völlig egal war, wie die zwei miteinander verbandelt waren.

      Schließlich lebten sie nicht mehr in den Sechzigern, als es noch verboten gewesen war, unverheiratete Paare zusammen in einem Doppelzimmer schlafen zu lassen. Damals hatte es den sogenannten Kuppelparagrafen gegeben. Ihre Mutter hatte immer ganz genau hingeschaut, wer ihre Zimmer bezogen hatte. Allerdings dann so manches Mal ein Auge zugekniffen. Hauptsache, das Geld landete zum Schluss auf dem Konto. Die Winterzeit ohne Einnahmen war lang genug.

      Margot nahm ihren Badeanzug aus dem Schrank und steckte ein Handtuch in die Tasche. Zeit, schwimmen zu gehen. Das Wasser begann zwar gerade wieder abzulaufen, aber es würde reichen für ihre tägliche halbe Stunde. Seit vielen Jahren machte sie das nun schon, sobald die Temperatur es erlaubte. Sie war im Frühjahr die Erste und im Herbst die Letzte, die ihre Baderunde genoss. Gut für die Seele und für den Körper, behauptete sie stets, wenn ihre Freundinnen sie wieder einmal mit ihrer Leidenschaft aufzogen.

      Im Garten saß Hilda. Den Stall mit den Meerschweinchen hatte sie unter den großen Sonnenschirm geschoben. Ebenso ihre Liege. Margot fragte ihre Tochter nicht, ob sie mitkommen wolle. Sie wusste genau, dass Hilda nur den Kopf schütteln würde. Wasser machte ihrer Tochter Angst, seit sie als Kind einmal davon zu viel geschluckt hatte. Eine große Welle war damals über sie hinweggerollt. Noch heute erfasste Margot Steenken das Grauen, wenn sie an den Moment zurückdachte, als das kleine, vor Angst verzerrte Gesicht immer wieder aus dem Wasser aufgetaucht war, nur um gleich darauf wieder vom Meer verschluckt zu werden. Es hatte in Wirklichkeit wohl nur ein paar Sekunden gedauert, bis Arnold seine Tochter gepackt und sicher im Griff gehabt hatte, aber sie würde diesen Anblick nie in ihrem Leben vergessen.

      Auf der Straße sah sie kaum einen Menschen. Es war einfach zu warm fürs Spazierengehen.

      Sie stellte ihr Fahrrad bei der Mehrzweckhalle ab und machte sich auf den Weg zum Badestrand. In Höhe der Strandkorbvermietung hörte sie plötzlich ihren Namen. »Hey, Margot. Na, ruft das Wasser?« Sie legte die Hände über die Augen und suchte den Strand nach dem Besitzer der Stimme ab.

      Da war er. Im Strandkorb Nummer 241. Knut Ohlenberg. Nebst Claudia, Mark und Kevin. Gäste der ersten Stunde in ihrem Haus. Genauer gesagt waren die Eltern von Knut Ohlenberg bereits Gäste in ihrem Haus gewesen, als der noch ein kleiner Junge gewesen war. Jetzt kam auch er regelmäßig im Juli mit seiner Familie aus Fröndenberg für vierzehn Tage an die Nordsee.

      »Na, Haus wieder voll?«, fragte er neugierig.

      Sie nickte. »Gerade ist die Wohnung bezogen worden.« Sie hatte Ohlenbergs beim Frühstück erzählt, dass sie neue Gäste erwartete. Ohlenbergs wollten immer alles ganz genau wissen.

      »Dann werden wir sie spätestens morgen beim Frühstück kennenlernen«, sagte Knut vergnügt.

      »Haben die Kinder?«, fragte Kevin neugierig.

      »Ein junger Mann und eine junge Frau. Keine Kinder. Scheinen nett zu sein«, fasste Margot für Ohlenbergs zusammen. »Jetzt muss ich aber los. Das Wasser wartet nicht auf mich. Wir sehen uns.«

      Claudia Ohlenberg hatte derweil ihre Haltung im Strandkorb nur unwesentlich verändert. Jetzt schob sie ihre Sonnenbrille über die wasserstoffblonden Haare und stand auf. »Warte, ich komme mit.«

      Margot musste sich zwingen, nicht aufzustöhnen. Sie hatte keine Lust, im Doppelpack ihre Runden zu drehen. Sie hatte über die Jahre ihren eigenen Rhythmus entwickelt, den wollte sie beibehalten. So konnte sie am besten abschalten.

      »Mama, Mama, wir wollten doch ein Eis kaufen. Das hast du uns versprochen«, jaulte Mark. Er griff nach einer Plastikschaufel und begann, seine Mutter