Ulrike Barow

Baltrumer Kaninchenkrieg


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saß. Ingeborg Opitz starrte ihn an, starrte, ging dann mit wackeligen Schritten zurück zu ihrem Stuhl. Konnte es sein, dass Hartmut Opitz’ Gesicht von einem feinen Lächeln überzogen war? Oder versah er sich?

      Zumindest bei den anderen hatte diese Szene unüberhörbar für Erheiterung gesorgt. Das konnte wirklich spannend werden, wenn Oliver Abels die Lage nicht sofort wieder in den Griff bekam.

      Doch zunächst ließ Abels das Protokoll der letzten Sitzung durch die anwesenden Ratsherren unterschreiben, ohne auf Ingeborg Opitz näher einzugehen. Was er bestimmt liebend gerne getan hätte. Zu ihren Gunsten. Schließlich wünschte sich der Mann nichts sehnlicher, als dass die Kaninchen von der Insel verschwänden.

      Als Abels Punkt drei der Tagesordnung aufrief und Werner Gronewald bat, seine Meinung zum Kaninchen­streit zu äußern, wurde es wieder laut im Saal. Noch einmal klopfte der Ratsvorsitzende energisch auf den Tisch.

      Gronewald wartete einen Moment, dann sagte er: »Ich freue mich, dass ich hier und heute vielleicht als Ihr Moderator handeln darf. Ich weiß, dass es unter Ihnen viele verschiedene Meinungen gibt, wie mit den Kaninchen umzugehen ist, doch ich möchte Sie ganz nüchtern damit vertraut machen, in welchem gesetzlichen Rahmen wir uns in dieser Frage bewegen. Lassen Sie uns auf die Paragrafen im Jagdgesetz zu sprechen kommen, bevor wir uns …«

      »Scheiß auf die Paragrafen! Uns fressen die Viecher die Blumen weg.« Oliver Abels hatte den braunen Umschlag gegriffen und wedelte damit herum. »Was immer wir pflanzen, wird von den Karnickeln abgefressen. Und was die stehen lassen, holen sich die Rehe. Da brauchen Sie mir nicht mit Paragrafen zu kommen. Besser wäre es, Sie hätten einen großen Sack Gift dabei. Ein für alle Mal ausrotten, die Viecher. So muss es sein.«

      Hartmut und Ingeborg Opitz klatschten Beifall. »Bravo, Oliver. Genau so. Kaninchen weg. Kaninchen weg!«, skandierten sie.

      Tino Middelborg konnte es nicht fassen. Was war das denn für ein Affentheater? »Ich bitte um Ruhe«, schaltete er sich energisch ein. »Herr Abels, Sie als Ratsvorsitzender sollten mit gutem Beispiel vorangehen!« Sein Blick fiel auf Michael Röder, der sich offenbar sehr entspannt das Schauspiel ansah. Noch immer waren einzelne Stimmen zu hören. »Ruhe, verdammt noch mal. Sonst lasse ich den Saal räumen!« Er konnte noch lauter. Hatte viele Jahre im Sportverein eine Jugendmannschaft betreut. Da lernte man so was. »Können wir jetzt weitermachen? Herr Gronewald, bitteschön.«

      »Es nützt nichts, wenn wir uns hier gegenseitig zerfleischen«, begann der Mitarbeiter des Landkreises erneut. »Ich will auf ein paar Tatsachen hinweisen, die wir nicht außer Acht lassen dürfen. Dass Sie, Herr Abels, und die anderen Herrschaften mit der jetzigen Situation nicht zufrieden sind, ist klar.« Gronewald nickte den beiden Opitzens zu. »Es ist jedoch auch eine Tatsache, wenn ich das richtig verstanden habe, dass es hier auf der Insel durchaus gegenteilige Meinungen gibt.«

      »Das ist wohl wahr«, unterbrach einer der Rats­herren den Mann vom Festland. »Jedes Geschöpf hat das Recht zu leben. Aber davon einmal abgesehen – was meinen denn alle hier im Saal, wie die Gäste reagieren, wenn wir die Kaninchen kurzerhand vergiften? Eine schlimmere Negativwerbung kann es nicht geben. Das dürfte selbst den verbohrtesten Kaninchenmördern klar sein.«

      Wieder entstand eine hitzige Diskussion. Ingeborg Opitz sprang auf. Die Hände zu Fäusten geballt, lief sie auf den Mann zu. »Du, du … du bist ja nur neidisch, weil du keinen Garten hast, du hinterhältiger …«

      Tino Middelborg stöhnte, dann riss er sich zusammen. Er musste diese Sitzung zu Ende bringen, bevor es Tote gab. Er war sich nicht sicher, ob er sich wünschen sollte, dass Röder einschritt. Nein, das würde er schon ohne Polizeieinsatz hinkriegen. Wozu hatte man ihn als Bürgermeister gewählt? Und von Oliver Abels, dem Ratsvorsitzenden, der eigentlich durch den Abend hätte führen sollen, konnte er keine Neutralität erwarten. »Frau Opitz, würden Sie bitte den Raum verlassen. Es reicht jetzt!«

      »Wie bitte? Sie wollen mich rausschmeißen, nur weil ich meine Meinung sage?« Ingeborg Opitz beugte sich über den Sitzungstisch, riss den Umschlag aus Abels’ Händen, zog zwei weiße Blätter heraus und schrie: »Da! Siebenunddreißig Unterschriften. Jawohl. Alle haben die Schnauze voll von den Viechern!«

      »Raus!« Middelborg stand auf. »Ich unterbreche die Sitzung für eine Viertelstunde, um allen die Möglichkeit zu geben, sich zu beruhigen. Und Sie, Frau Opitz, schließe ich von der Sitzung aus.« Er schob seine Akten zusammen, klemmte sie sich unter den Arm und forderte die Mitglieder des Gemeinderates und Werner Gronewald auf, ihm zu folgen.

      »Ich möchte das Thema in Ruhe behandeln«, erklärte er, nachdem sie sich in seinem Büro versammelt hatten. »Auch wenn die Meinungen hier konträr laufen, muss es doch eine einvernehmliche Lösung geben.« Zumindest hoffte er es, doch so unversöhnlich, wie sich die Ratsherren anschauten, hatte er da so seine Zweifel.

      »Das wird es niemals geben. Oliver ist für den Abschuss, ich bin für das Leben. Wir beide sind Einzel­kämpfer im Rat. Also ohne Mehrheit. Da stellt sich eben nur die politische Frage: Wer von den anderen steht hinter wem?«, fragte ein Ratsherr in die Runde.

      »Aber ich hatte mehr Stimmen bei der Wahl. Schließlich bin ich Ratsvorsitzender und nicht du«, entgegnete Abels.

      »Natürlich. Du mit deiner großen Familie und den ganzen Angestellten. Außerdem hat deine beknackte Mutter jeden auf der Straße angequatscht. Das ist es kein Wunder …«

      »Nimm sofort das ›beknackte‹ zurück, sonst …« Oliver Abels hatte sich vor dem Mann aufgebaut, doch da er beinahe zwei Köpfe kleiner war, wirkte es eher komisch als bedrohlich, wie er mit geballter Faust vor ihm stand.

      »Vielleicht wäre es wirklich sehr hilfreich, wenn ich noch einmal …«, machte Werner Gronewald einen erneuten Versuch, doch der Chef der BB, der Bürgerinitiative Baltrum, winkte ab.

      »Ich glaube nicht. Diese beiden bekommen wir niemals unter einen Hut. Vergessen Sie’s. Wir fordern daher – im Sinne unserer Gäste und Insulaner: Fangen wir die Tiere ein und setzen sie am Festland wieder aus. Natürlich mit der entsprechenden Presse, versteht sich.« Stolz schaute der Mann in die Runde. »Natürlich ist uns klar, dass das nicht einfach wird. Aber diese Idee, die Idee der BB, sehe ich als einzige und beste Möglichkeit, unsere Zuschauer, die da draußen auf uns warten, einigermaßen beruhigt nach Hause zu schicken. Wir müssen es nur richtig – und vor allem geschlossen – verkaufen.«

      Schweigen breitete sich im Bürgermeisterbüro aus. Nur die alte Wanduhr tickte unbarmherzig. Selbst Oliver­ Abels schien es die Sprache verschlagen zu haben.

      Tino Middelborg sah sich bereits tage- und nächtelang vor einem der Kaninchenlöcher liegen und auf die Tiere lauern, sie sodann fest an den Ohren packen und in einer Kiste verstaut ans Festland zu schaffen. Ganz großes Kino. Das war einfach unausführbar, würde aber die Gemüter unter Umständen ein wenig beruhigen.

      Werner Gronewald schüttelte den Kopf, als der Mann von der Bürgerinitiative noch einmal nachlegte: »Immerhin ist das Kaninchen am Festland in manchen Gegenden selten geworden. Da würde sich der eine oder andere Jäger bestimmt freuen, wenn er ein paar Tiere bekäme. Vielleicht sollten wir einen Wettbewerb unter den Gästen ausschreiben. Für jedes gefangene Kaninchen gibt es fünf Prozent Rabatt auf die Kurtaxe. Die Leute wären beschäftigt und die Tiere innerhalb einer Saison definitiv verschwunden.«

      »Das klappt doch nie«, erklärte Oliver Abels abschätzig. »Es wird Jahre dauern. Wenn es nicht unmöglich ist. So schnell, wie die sich vermehren, können wir die gar nicht einfangen. Das ist ein Kampf gegen Windmühlenflügel. Mit anderen Worten: Komplett dummes Zeug.«

      Tino Middelborg hätte ihm gerne zugestimmt. Das Problem war nur, dass er keinen besseren Vorschlag hatte. Einen, der alle zufriedenstellte. Den gab es einfach nicht. Tatsächlich konnte es bei dieser Sache nur um Schadensbegrenzung gehen. »Was ist mit Vertagen?«, wagte er einen vorsichtigen Versuch. »Herr Gronewald wird uns – wie vorhin bereits angedeutet – mit den rechtlichen Möglichkeiten vertraut machen und wir denken ganz in Ruhe darüber nach.«

      Es klopfte. Erst zögernd, dann heftiger. Der Bürgermeister öffnete die Tür einen Spalt weit und stolperte beinahe,