Dominique Manotti

Marseille.73


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zu traditionalistisch als Milieu, aber Paris bot so viele andere Gelegen­heiten …

      In Marseille sieht das anders aus. Vincent, der im Begriff ist, sich als Anwalt in einer auf die Verteidigung von Gangstern spezialisierten großen Kanzlei der Stadt zu etablieren, ein sicheres und angesehenes Berufsfeld, legt Wert darauf, sich nicht zu kompromittieren, und behandelt ihre Liebesaffäre mit höchster Diskretion. Er hat Daquin lang und breit erklärt, dass ein junger Commissaire von siebenundzwanzig, obendrein Pariser, in Marseille seine Homosexualität nicht öffentlich zeigen, nicht einmal erahnen lassen darf, andernfalls wird er aus der Polizei und der Stadt verstoßen. Deshalb unterhalten die beiden Männer eine heimliche, episodische, lauwarme und bequeme Affäre, während sie auf bessere Zeiten warten. Heute Abend wird er Vincent wiedersehen, er fühlt sich mit einem Mal wie unter Hausarrest. Frustrierend.

      Er geht zurück zum Balkon, um wieder in sein Buch abzutauchen. Stopp, Warnlicht. Vincent, auf die Verteidigung von Großgangstern spezialisierte Kanzlei, »gestern Abend Schlägerei, Kleinganoven, ein Toter, schöne Gelegenheit, meine Karriere wird durchstarten«, er selbst hat nichts davon gehört, da ist etwas faul … Neugier. Das ist immerhin mein Job, selbst im August … Er greift nach dem Quotidien de Marseille, der auf dem Couchtisch liegt und den er fest vorhatte nicht zu lesen, blättert darin. Wie es sich für das Wochenende vom 15. August gehört, war gestern nichts los. Oder fast nichts. Auf Seite 2 (bedeutsamer als die Lokalnachrichten auf Seite 5) unter der Überschrift »Zoff in Vallon des Tuves«:

      »Auslöser für die Prügelei war eine junge Frau … Es fielen Schüsse … Ein Toter, ein Verletzter … beide gebürtig aus Algerien …«

      Vincent und seine Kanzlei sollen sich für diese Geschichte interessieren? Unendlich unwahrscheinlich. Aber dann, in der letzten Zeile des Artikels: »… der Chef der Sûreté ist am Tatort.« Man fährt so schweres Geschütz auf wegen einer Prügelei unter Nordafrikanern um ein Mädchen? Ganz sicher nicht. Steckt also etwas anderes dahinter? Vincents Einsatz bei diesem Fall rückt wieder in den Bereich des Möglichen.

      Er ruft Inspecteur Michel an, der die Tagesbereitschaft allein sicherstellt. Ja, er ist über Vallon des Tuves auf dem Laufenden, ja, er hat den Staatsanwalt erreicht, nein, nichts für uns, eine Schlägerei zwischen rivalisierenden Banden mit bösem Ende, der Staatsanwalt und der Chef der Sûreté haben sich darauf geeinigt, die Sûreté mit der Ermittlung zu beauftragen. »Du kannst weiterfaulenzen.«

      Unnötig, heute ins Zentralkommissariat im Évêché zu gehen, ich werde nicht mehr in Erfahrung bringen. Vincent wird später nicht widerstehen können zu plaudern, sich wichtig zu machen … Er versenkt sich wieder in die Lektüre vom Tag der Eule.

      Vincent kommt gegen Abend, eine Flasche Champagner in der Hand. Die Männer setzen sich auf den Balkon und köpfen die Flasche. Vincent erzählt von seinem Urlaub auf den Balearen, Daquin hört nicht zu, betrachtet ihn. Ein schöner Mann. Er erinnert sich an ihren ersten Sex. Nicht in Paris, sondern in Marseille, das Treffen begann auch da auf dem Balkon bei einer Flasche Champagner. Er spürt wieder die Wonne der ersten Berührung des mageren, starkknochigen Gesichts, des muskulösen Körpers ohne einen Hauch Fett, des hübschen Hinterns. Er weiß, dass diese tief unter den vorstehenden Brauenbögen liegenden blauen Augen grau werden, wenn die Begierde wächst. Daquin liebt das Vergnügen, den Körper wiederzuentdecken, den seine Hand schon gestreichelt hat, die Empfindungen, die ihn zum Beben gebracht haben. Schätze dies Vergnügen nicht gering, Théo. Vergiss nicht, du bist für die Einsamkeit nicht gemacht. Er trinkt den Champagner aus, steht auf.

      »Ich koche uns ein Spaghettigericht. Ich brauche eine Viertelstunde.«

      »Vor oder nach der Liebe?«

      »Dieselbe Frage hast du mir bei unserer ersten Verabredung vor sechs Monaten gestellt …«

      »Und du hast geantwortet …«

      »Erst die Liebe, dann das Kochen.«

      Zwei Stunden später sitzen sie zusammen vor einer Schüssel Spaghetti mit Knoblauch, Piment und Olivenöl. Vincent ist euphorisch.

      »Diese Spaghetti, die Krönung eines goldenen Tages.«

      »Vallon des Tuves lässt sich gut an?«

      Vincent schreckt auf. »Der Staatsanwalt sagte, er würde nichts verlautbaren …«

      »Gerüchte verbreiten sich schnell im Haus. Aber ich dachte, du interessierst dich nur für die Verbrecherelite.«

      »Die Verbrecherelite hat auch Handlanger, die sich in ihrer Freizeit zu Dummheiten hinreißen lassen, und ich wiederum muss mich bewähren.«

      Noch ein Glas Côtes-du-Rhône, und Vincent geht etwas mehr aus sich heraus: »Das Schwierigste für mich ist, meinen Klienten zu einem Schuldbekenntnis zu überreden. Die Leute in der Gegend kennen ihn, haben ihn wiedererkannt, ihn schießen sehen, und er besteht darauf, irgendwelchen Unsinn zu erzählen. Wenn er sich vor dem Schwurgericht in Aix schuldig bekennt, erwirke ich mildernde Umstände für ihn. Mein Klient stand drei Arabern gegenüber, als er geschossen hat. Drei Araber auf einem Haufen, das macht Angst, alle Geschworenen werden dem zustimmen. Also Notwehr und Bewährung. Und das wäre eine hervorragende Visitenkarte für meine künftige Karriere.«

      Eine Verteidigung, die stinkt und wahrscheinlich funktioniert. »Deine Karriere … Weißt du noch, dass wir dich an der Uni den idealen Schwiegersohn nannten?«

      Vincent verzieht das Gesicht, böse Erinnerung an erlittene Schikanen.

      »Wir hatten recht. Karrieretechnisch gebe ich dir einen Rat: Verheirate dich. Schleunigst.«

      Montag, 20. August

      Daquin durchquert das Panier-Viertel und steigt in der herrschenden Hitze hinauf zum Évêché. Seine Inspecteurs kommen heute aus dem Urlaub zurück, und der neue Chef der Brigade Criminelle rückt an. Der Betrieb nimmt wieder Fahrt auf. Er läuft schnell und erreicht den Vorplatz der Kathedrale. Das Meer ist da, sich immer gleich, glitzernd in der Sonne, zudringlich. Es hinterlässt einen scharfen Geschmack auf seinen Lippen. Er wendet sich um. Vor ihm die kantige, massige Silhouette des ehemaligen Bischofspalasts, klassische Architektur, die den Neubau verdeckt, einen Kubus aus Beton und Glas, der zur Vergrößerung des Zentralkommissariats errichtet wurde. Die geordnete, klassische Fassade bildet einen auffallenden Kontrast zur Struktur des Innenraums, einem Labyrinth aus endlosen Fluren, Sackgassen, Treppen, die von einem Gebäude ins andere führen, überall fahles Licht, der Geruch nach schmutzigem Staub. Da ist ein untergründiger Gleichklang zwischen der Anlage der Gebäude und der Architektur der Machtnetzwerke, die darin ansässig sind, haufenweise offizielle, halboffizielle, geheime, mafiöse Gestalten, Garanten einer allgegenwärtigen Macht und Überwachung hinter der Fassade von Polizeiapparaten, die beinahe beruhigend, weil althergebracht sind. Zum ersten Mal sieht Daquin den Évêché als kohärentes Universum.

      Genug getrödelt, er nimmt einen tiefen Atemzug und betritt das Gebäude.

      Die Teamchefs der Brigade Criminelle sitzen um den Besprechungstisch. Commissaire Principal Percheron betritt den Raum. Mitte vierzig, breite Statur, wenn nicht leicht klobig, fleischiges Gesicht, schwarze Augen, schwarzer Bürstenschnitt. Er setzt sich, stellt sich in aller Kürze vor: »Vor meiner Berufung an die Spitze der Marseiller Brigade Criminelle war ich bei der in Montpellier. Wir hatten ein paar gemeinsame Dossiers, bestimmten Fällen werde ich hier wiederbegegnen.«

      Dann kommt er zur Sache. »Ich habe eine großartige Woche mit der Führung der Marseiller Kriminalpolizei verbracht, um mich mit den aktuellen Fallakten vertraut zu machen. Seien wir ehrlich miteinander. Ehrlichkeit innerhalb der Abteilung, untereinander, ist ein wesentlicher Grundsatz, und ich werde ehrlich mit Ihnen sein. Ich bin hier, weil die Brigade Criminelle in der Krise ist. Man muss gar nicht bis zum Frühjahr ’72 zurückgehen mit der Ermordung eines unserer besten Ermittler durch einen immer noch flüchtigen Gangster – die Brigade Criminelle hat gerade das Fiasko im Mordfall Jeremy Cartland in Pélissanne erlebt. Ich will jetzt nicht die ganze Affäre nochmals ausbreiten. Aber ich rufe Ihnen in Erinnerung, wie sie endet: Scotland Yard kreuzt bei uns auf, um die Ermittlung