Oskar Negt

Politische Philosophie des Gemeinsinns


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dass es sich hierbei nicht um eine akademische Angelegenheit handelt – das wäre das schlimmste Missverständnis. Ich betrachte diese Vorlesung nicht als akademische Angelegenheit, und wer sie als solche betrachtet, versteht grundlegend falsch, was ich beabsichtige. Das bedeutet natürlich nicht, dass man bei jedem nachprüfen kann, ob er es richtig oder falsch versteht, und schon gar nicht, dass jeder reden muss oder das nur in Kleingruppen aufarbeiten könnte. Es vollziehen sich Bildungsprozesse auch dadurch, dass Leute aufmerksam zuhören. Meine Bildungsprozesse zum Beispiel sind wesentlich durch Zuhören gelaufen. Ich habe bei Adorno kaum je ein Wort gesagt. Das heißt aber nicht, dass ich nicht wirklich gearbeitet hätte. Dieser ständige Druck, etwas sagen zu müssen und nicht zu können, nicht zu wissen was, führt doch zu Blockierungen. Ich sehe daher in der Vorlesung keinen Rückschritt zur Tradition, sondern auch eine Reaktion aus Unzufriedenheit mit bestimmten Kleingruppenarbeiten. Zwar ist es in Einführungsseminaren absolut notwendig, dass kleine Gruppen einen Text interpretieren und sich den erarbeiten. Aber es gibt Stufen im Bildungsprozess, auf denen diese Kleingruppen ruinös sind.

      Aktuell geht es mir nicht darum, den Protest der Tutoren abzuschneiden oder abzuwürgen. Ich bin überzeugt, da besteht ein Ausbeutungsverhältnis gegenüber Leuten, die häufig mehr machen in der Universität als Hochschullehrer. Das muss tatsächlich verschwinden, und es gibt keine anderen Möglichkeiten, als das mit manifesten Streiks und so weiter zu machen. Diese Sache halte ich für außerordentlich wichtig, und ich solidarisiere mich auch vollkommen mit diesen Protesten. Gleichzeitig möchte ich aber daran festhalten, dass wir in unserem Zusammenhang an dem Faden weiterspinnen, den wir bereits aufgenommen haben, weil ich glaube, dass bei den hier Anwesenden auch große Theoriebedürfnisse bestehen, und das ist nur durch eine bestimmte Abstraktion von der unmittelbaren Praxis zu machen.

      Ich habe in der letzten Stunde den Versuch unternommen, bestimmte Kriterien und Merkmale der deutschen Geistesgeschichte im Interpretationszusammenhang von Kant und Hegel aufzuzeigen, wobei die Beziehung zwischen Politik und Moral ins Zentrum rückte. Dieses Verhältnis ist außerordentlich in dem Sinne, dass sich in Deutschland nie wie in Westeuropa eine politische Sphäre ausgebildet hat, die von jener der traditionellen, vorbürgerlichen Gewalten abgetrennt war. Das bedeutet, dass die Tendenz zur Moralisierung und Verinnerlichung des Politischen und weiter gefasst zur Umsetzung revolutionärer Bewegungen in Denkweisen ein Strukturelement dieser deutschen Geschichte gewesen und geblieben ist. Diese Form der objektiven Einhelligkeit, wie Kant sagt, von Politik und Moral hat immer auch den deutschen Politikbegriff bestimmt. Dieser hatte nie die liberale, abwägende, kommunikative Struktur, wie sie im Begriff der bürgerlichen Öffentlichkeit ausgeprägt ist. Habermas hat im Öffentlichkeitsbuch111 analysiert, wie sich auf der Ebene der Kommunikation, der Verständigung von Privatleuten politische Entscheidungen vollziehen. Diese Kommunikationsebene hat sich jedoch in Deutschland nie als eine autonome ausgebildet, anders als zum Beispiel in England oder in Frankreich während der Revolution ab 1789 und zum Teil auch in den späteren Revolutionen. Das bedeutet, dass in Deutschland ein Überhang von Innerlichkeit vorliegt, der auch die Linke mitbetrifft, ein Überhang von Moralität und Willen gegenüber einer sich nicht dem Willen gemäß strukturierenden Realität, der zugleich produziert ist von dieser Realität: Als Ergebnis der Realität stellt sich der Wille dieser Realität gegenüber – das ist die eigentliche Dialektik, die Hegel im Kapitel »Die absolute Freiheit und der Schrecken« entfaltet. Ein Produkt der Abstraktion stellt sich demgegenüber, wovon es abstrahiert ist. Das heißt aber, eine gewaltsame Auflösung trifft zwangsläufig beide Abstraktionen. Es gibt den berühmten Satz von Hegel, den Krahl mal als Motto völlig richtig benutzt hat: Abstraktionen zu realisieren, heißt Realität zerstören, Abstraktionen verwirklichen, in die Wirklichkeit umsetzen, heißt Wirklichkeit zerstören.112

      Was bedeutet das? Abstraktionen, die Momente eines Ganzen fixieren, festhalten und als das Ganze setzen, sind in dem Augenblick, da sie von der Realität abgezogen werden, der Realität als Komplexität nicht mächtig. Die Breitseite der Gewalt, wie Hegel sagt, läuft immer zuungunsten dessen, der Gewalt ausübt, und mit der Breitseite der Gewalt verändern sich nicht die Verhältnisse. Hegel hat sehr wohl begriffen, dass die geschichtliche Entwicklung wesentlich durch Gewalt abläuft. Gewalt und List sind eigentlich die beiden konstitutiven Elemente der Geschichte, aber es geht dabei um eine Gewalt, die durch die Objekte hindurchgeht, die sich ihnen nicht gegenüberstellt. Mit anderen Worten: Eine Gewalt, eine Abstraktion ist nur dann der Realität mächtig, wenn sie in die Bewegungsgesetze der Realität eingeht und sie als Hebel für ihre eigenen Zwecke benutzt. Das ist geschichtlich gesehen ein Stück List, eine List der Vernunft. Diese benutzt etwas ganz anderes, die Realität, für eigene Zwecke, sie benutzt vorhandene Gewalt, um sie im eigenen Sinne umzusetzen. Sie benutzt die Naturgesetze, um sie für sich und ihre eigenen Zwecke arbeiten zu lassen. Subjektivität schaltet sich dabei in die Realität ein und stellt sich ihr nicht gegenüber, sondern schaltet sich als wollende Subjektivität, als mit Willen begabte Subjekte in die Realität mit ein und bringt sie in Hegel’scher Terminologie auf ihren Begriff. Das heißt, Gewalt ist bei Hegel immer mit einem Stück List verbunden. Man überlistet die Realität dadurch, dass man mehr weiß als sie selbst, dass man ein höheres Bewusstsein als der Gegner hat. Dieses höhere Bewusstsein bedeutet, dass man die eigenen Mechanismen der Realität besser begriffen hat, als sich die Realität selbst begreift. Nur das ermöglicht listiges Verhalten, und nur das bedeutet ein Verhalten, in dem Realität für eigene Zwecke mobilisierbar ist und sich nicht einfach der abstrakten Macht, der abstrakten Gewalt überstülpt und kaputtmacht. Das meint diese »Breitseite der Gewalt«, mit der man nichts an der Realität ändert. Mit der Breitseite der Gewalt gegen die Realität vorgehen, bedeutet vielmehr, einzelne Momente dieser Realität zu zerstören, dabei aber gleichzeitig selbst zerstört zu werden. Das Opfer ist gesetzt in der Zerstörung von einzelnen Elementen dieser Realität. Die Breitseite der Gewalt ist immer das Produkt bestehender Verhältnisse.

      Napoleons Erfolg bestand darin, um das an einem historischen Beispiel zu veranschaulichen, dass er im höchsten strategischen und politischen Bewusstsein, das von der Französischen Revolution herrührte, begriffen hatte, dass die feudalen Systeme partikulare Gewaltverhältnisse aufrechterhielten und perpetuierten, die nicht mehr das Ganze der Gesellschaft ausdrückten. Deshalb konnte er diese Gewaltverhältnisse selbst noch als Hebel benutzen, um sie zu zerstören. Seine ganze Bündnispolitik war auf diese Zerstörung gerichtet, und selbst seine militärischen Siege verdanken sich seinem geschichtlichen Bewusstsein von der Überholtheit etwa des Systems der geschlossenen Schlachtordnung, die Friedrich der II. entwickelt hatte. Denn diese Schlachtordnung bestand vor allem darin, Disziplin aufrechtzuerhalten, damit die Soldaten nicht wegliefen. Die Technologie, über die Napoleon verfügte, war genau die partikulare Gewalt, um diese Systeme und Heere zu zerstören.

      Nun vollzieht sich in dieser Gewaltfrage eine Transposition, die sich gleichermaßen fast wörtlich bei Kant und Hegel findet und die eben für die deutsche Situation kennzeichnend ist. Die Materialität der Revolution, die schon Kant in Zweifel zog, wurde auf Geschichtszeichen, auf Symbole, auf Fanale und so weiter reduziert, ihres materiellen Charakters entkleidet. Das heißt, sie wurde in die Komplexität von Subjekten transponiert, aufgenommen, subjektiviert, und da, frei von Materialität, in aller Kompliziertheit entwickelt. Das bedeutet, der deutsche Idealismus ist sicherlich auch ein Abwehrprodukt dieser Revolution, also eine Verarbeitung von bedrohlicher Realität.

      Immer hat die Herrschaft im Reiche des Begriffs etwas von der realen Herrschaft an sich oder ist ein Kompensationsprodukt realer Herrschaft. Die Entfaltung dieser begrifflichen Systeme ist auch ein Produkt der Reduktion des Realitätsgehaltes. Aber gerade deshalb konnte diese Philosophie eine Dimension und Tiefe erreichen, die politisch in dem Sinne nicht angreifbar und anfechtbar war wie andere Systeme, die nur im Bereich des Gedankens sich entfalteten, und somit Methoden entwickeln, die weit über diese Systeme hinausgingen. Das heißt, die Widersprüchlichkeit innerhalb des deutschen Idealismus erzeugt zwei Dinge: auf der einen Seite eine Entmaterialisierung der politischen und ökonomischen Bewegungen und bürgerlichen Revolutionen, insbesondere der Französischen Revolution, auf der anderen Seite die Freisetzung des spekulativen Gedankens, der sich aus der Spekulation heraus dieser Realität bemächtigt und sie mit dem Begriff noch einmal durchgeht und zwar relativ unabhängig von unmittelbarer politischer Repression.

      Wir wissen heute durch die Arbeiten von Karl-Heinz Ilting (1925–1984), der