Oskar Negt

Politische Philosophie des Gemeinsinns


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und wiederholt sich dann in der gesamten deutschen Philosophie und Bildungstradition: dass nämlich eigentliche, geschichtlich wirksame Politik auf Bildung beruht und ein Problem der Moral sei. Das ist eine spezifische Moralisierung von Politik, und Sie kennen die entsprechenden Beispiele des 20. Juli, wo die Moralität und was damit zusammenhängt, praktisch alle politischen Probleme aufgezehrt hat, um die es dabei ging.

      Die Moralisierung der Politik oder exakter ausgedrückt, die Transposition des Politischen in den Alltag, in zwischen Individuen sich abspielende gesellschaftliche Verhältnisse, in die Objektivität von moralischen Forderungen hat Kant in einem Anhang zu »Zum ewigen Frieden« thematisiert, in dem er sich über die Misshelligkeit zwischen Politik und Moral äußert. Dort heißt es, objektiv bestehe zwar kein Widerspruch zwischen Moral und Politik, subjektiv müsse er aber bestehen, weil der Widerspruch der »Wetzstein der Tugend«88 sei. Das heißt, diese Misshelligkeiten zwischen Moral und Politik bestehen objektiv nicht. Die Politik ist nämlich – und die Moral auf einer anderen Ebene genauso – für Kant angewandte Rechtslehre und damit eigentlich umgesetzte Vernunft. So lassen sich also gewisse politische Klugheitslehren verbinden, doch das macht noch nicht diesen etwas pathetisch gefassten Begriff der Politik als Umsetzung von allgemeinen Rechtsgesetzen in Realität aus. Es stellt sich hier vielmehr die Frage, inwieweit ein Zusammenhang zwischen dem Versuch, den revolutionären Prozess als einen objektiven, zwangsläufigen ohne handelndes Subjekt zu begreifen, und dieser Form von Einschmelzung von Moralität und Politik besteht.

      Zunächst ist festzustellen, dass diese empirische Depotenzierung des Politikbegriffs auch damit zu tun hat, dass das als Souverän definierte Volk in der Tat nicht verbunden ist mit dem Begriff der Politik und des Politischen, sondern mit dem Begriff des Räsonnements. Kant bezieht sich dabei auf Friedrich II., der gesagt hat, das Volk könne nicht nur räsonieren, es solle sogar räsonieren, aber es solle auch gehorchen. Das ist preußische Aufklärung. Aus politischem Räsonnement ergibt sich aber keine Verbindlichkeit und auch nichts Allgemeines. Was Allgemeines ist, kommt demnach in der Politik immer von oben und ist selbst schon Ausdruck von Gesetzmäßigkeit, ein Allgemeines, das umgesetzt wird. Es ist ein äußerliches Allgemeines im Unterschied zur Moralität, dem innerlichen Allgemeinen.

      Ich möchte diese Tendenz zur Verinnerlichung, die in der deutschen Geistesgeschichte als Prozess zu belegen ist, an der Dialektik entfalten, die sich bei Hegel auf einer bestimmten Stufe der Moralität als einer noch nicht zur Sittlichkeit gereiften Beziehung zwischen Individuen abspielt. Moralität erkennt Hegel als eine Form des abstrakten Geistes wie auch des abstrakten Rechts. Diese Begrifflichkeit, die Hegel in der »Phänomenologie des Geistes« im Kapitel »Der sich entfremdete Geist« unter dem Abschnitt »Die absolute Freiheit und der Schrecken« entwickelt, ist ein Versuch, die Französische Revolution zu interpretieren. Ich möchte nun die Begriffe und die Dialektik, die Hegel hier entfaltet und die zunächst einmal schwer zu fassen sind, etwas genauer bezeichnen und verdeutlichen.

      Es geht Hegel dabei um das Problem von Innerlichkeit schlechthin, um die Frage, was bedeutet diese Moralität, die bei Kant ein Allgemeines darstellt, ein allgemeines Gesetz mit der Handlungsmaxime: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit als allgemeines Gesetz gelten könnte«. Nicht der Wille, sondern die Maxime, das subjektive Gesetz deines Willens soll so sein, dass es als allgemeines Gesetz verbindlich für alle Menschen gelten könnte, nicht aber gelten muss. Nun hat Kant dabei ganz die Subjektivität ausgespart, die Subjektivität in einem empirischen, zufälligen Sinne. Wie kommt der Mensch dazu, allgemein zu handeln, wo er doch ein Individuum ist mit bestimmten Neigungen und Vorstellungen? Diese Dialektik und den damit verbundenen Vermittlungsprozess entfaltet Hegel in einem Abschnitt, in dem er auch die Herr-Knecht-Dialektik noch einmal anführt.

      Der Geist wäre aus diesem Tumulte zu seinem Ausgangspunkte, der sittlichen und realen Welt der Bildung, zurückgeschleudert, welche durch die Furcht des Herrn, die wieder in die Gemüter gekommen, nur erfrischt und verjüngt worden. Der Geist müßte diesen Kreislauf der Notwendigkeit von neuem durchlaufen und immer wiederholen, wenn nur die vollkommene Durchdringung des Selbstbewußtseins und der Substanz das Resultat wäre […]. Die Bildung, die es in der Wechselwirkung mit jenem Wesen erlangt, ist daher die erhabenste und letzte, seine reine einfache Wirklichkeit unmittelbar verschwinden und in das leere Nichts übergehen zu sehen.89

      Hegel betrachtet die einzelnen Stufen der Philosophie als Ausdrucksformen realer Vorgänge und verbindet die abstrakte Moralität bei Kant mit jener Dialektik, in welcher der Knecht in Todesfurcht vor dem Herrn lebt und dadurch erst sein abstraktes Selbstbewusstsein gewinnt. Der Herr seinerseits erfährt nie selbst diese Bedrohung, sondern nur die Bedrohung des anderen als eine vermittelte Erfahrung, eine abstrakte, disponierende Erfahrung. Der Knecht hingegen erfährt die Bedrohung des Todes unmittelbar, ist gezwungen zu arbeiten, und das ist der Schritt hinaus aus seinem abstrakten Selbstbewusstsein. Er arbeitet sein abstraktes Selbstbewusstsein im Stoffwechsel mit der Natur ab, er agglomeriert Realität in sich mit dem abstrakten Selbstbewusstsein. Er hat also beides, während der Herr nicht arbeitet und so allmählich in der Geschichte die Substanz seines disponierenden Selbstbewusstseins verliert. Es ist der Feudalherr, den Hegel dabei im Auge hat, und dieser arbeitet sich nicht ins Allgemeine oder, anders ausgedrückt, seine Subjektivität vergegenständlicht sich nicht in der Objektivität, sondern bleibt abstraktes Subjekt. Mit anderen Worten: Er macht keine Erfahrungen und bleibt Disposition. Der Knecht aber, der Selbstbewusstsein gewonnen hat – das ist die Figur des Bourgeois, des Bürgers –, dieser Knecht arbeitet sich an der Natur und der Gesellschaft ab, objektiviert Innerlichkeit und nimmt Äußerlichkeit ins Innere auf. Er konkretisiert also das Allgemeine für sich selbst und subjektiviert die Realität, vergegenständlicht sein Selbst in den Objekten, die er anschauen kann. Hier ist die Dialektik von Selbstbewusstsein und Arbeit noch einmal aufgenommen und wird jetzt in Bezug auf revolutionäre Prozesse interpretiert: Was sich aufseiten des Bourgeois vollzogen hat, vollzieht sich nun aufseiten des Citoyen. Diese Stelle behandelt die Beziehung zwischen Selbstbewusstsein und Realität beim Citoyen.

      Hegel sieht hier ganz klar, dass durch bloße Bildung, durch bloß anschauende Rezeption der Dinge, dieser Prozess der tödlichen Bedrohung und damit auch des Selbstbewusstseins nicht zustande kommen kann. Für Hegel wie für Kant steht fest, dass die Entfaltung der Menschen durch Gewalt erfolgt. Es hat geschichtlich keinen Sinn, dem Knecht äußerlich klar zu machen, dass er etwas ist, sondern er muss erfahren, dass er etwas ist, das man zerstören kann. Es sind praktische und geschichtliche Prozesse, die sich hier abspielen, allerdings transponiert in die Selbstbewegung des absoluten Geistes, der sich hier auf einer bestimmten Stufe befindet:

      In der Welt der Bildung selbst kommt es nicht dazu, seine Negation oder Entfremdung in dieser Form der reinen Abstraktion anzuschauen; sondern seine Negation ist die erfüllte, entweder die Ehre oder der Reichtum, die es an die Stelle des Selbsts, dessen es sich entfremdete, gewinnt; – oder die Sprache des Geistes und der Einsicht, die das zerrissene Bewußtsein erlangt […]. Alle diese Bestimmungen sind in dem Verluste, den das Selbst in der absoluten Freiheit erfährt, verloren.90

      Die absolute Freiheit ist die Kantische Stufe der geschichtlichen Entwicklung, denn Moralität kann nur aus absoluter Freiheit gesetzt werden. Das moralische Gesetz ist ein Produkt absoluter Freiheit. Für die Moralität gilt nichts anderes, kein Reichtum, keine Ehre, keine Bildung, keine Herkunft und so weiter. Die gesamte Statushierarchie fällt deshalb zusammen, weil Reichtum nicht konstituierend ist für das moralische Handeln, sondern allein das schlicht Allgemeine selbst. Insofern steckt wirklich ein bürgerlich-emanzipatives Moment in diesem Allgemeinen. Weiter sagt Hegel hier, diese äußerlichen Dinge fallen vom Menschen ab, der nur noch im Notstand, wenn sein Leben gefährdet ist, die Möglichkeit hat, unmoralisch zu handeln. So ist das jedenfalls bei Kant.

      »[S]eine Negation ist der bedeutungslose Tod, der reine Schrecken des Negativen, das nichts Positives, nichts Erfüllendes in ihm hat.«91 Zunächst ist hier nur bezeichnet, dass die Negation von Realität nicht zum physischen Tod führen muss, sondern der Tod des Begriffs ist. Tod bezeichnet hier zunächst nur eine Abstraktion, in der kein Inhalt ist, in der alles Spezifische von außen wegfällt. Der Mensch ist reines Selbst, auf sich selbst reduziert. Sie müssen hier auf die Untertöne bei Hegel achten: Bei ihm ist das bürgerliche Individuum, das sich ganz auf sich stellt, todgeweiht. Hegel durchschaut hier sehr genau die gesellschaftliche