Oskar Negt

Politische Philosophie des Gemeinsinns


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RAF gewesen. Das ist für mich schlicht zynisch, und ich muss gestehen, vor solchen Argumenten habe ich Angst. Ich weiß nicht, was mit mir passieren würde, wenn sie die Macht bekommen. Sogar die russischen Anarchisten haben solche zynischen Argumente vermieden. Derselbe Zynismus liegt auch darin, dass man einfach einen Richter abknallt. Möglicherweise wollte man ihn entführen. Aber das man ihn abknallt, ist Ausdruck der Verzweiflung, und hat nichts mit irgendwelchen Zusammenhängen zu tun, für die die europäische Arbeiterbewegung einmal einstand. Ich bitte, zu entschuldigen, dass ich mich darauf immer wieder beziehe, aber das ist nun mal der Normenzusammenhang, in dem ich argumentiere. Für mich sind der Marxismus und die europäische Arbeiterbewegung nicht nur einfach eine vergangene Stufe, sondern das, was da erkämpft worden ist, selbst die Niederlagen, haben für mich eine gewisse Verbindlichkeit in der Durchsetzung humanerer Ziele.

      Es gibt in der Tat Möglichkeiten, dass die Mittel die Zwecke kaputtmachen. Die Reflektion auf die Dialektik von Mittel und Zwecken ist eine wesentliche Reflexion einer sozialistischen Arbeiterbewegung. Das bedeutet gar nicht, dass die Arbeiterbewegung groß sein muss. Das Argument, dass die kleinen Gruppen nicht dieses Recht hätten, dass man sich mit denen immer nur solidarisieren könnte, wenn sie die Chance haben, sich zu erweitern, trifft nicht zu. Es haben nur diejenigen Gruppen, jedenfalls was meine Person betrifft und ich rede nur für meine Person, ein Recht auf Solidarität, einen Solidaritätsanspruch, die in ihren Aktionen, Programmen, in ihrem realen Verhalten und nicht zuletzt in ihrem Denken ein Stück von dem repräsentieren, was jahrhundertelange Kämpfe der Arbeiterbewegung und der Unterdrückten ausgezeichnet hat, und das ist immer mit einem Stück mehr an Humanität und Humanisierung verbunden gewesen. Der Begriff der Solidarität ist ein Begriff, der auf die gegenwärtigen Verhältnisse zielt. Aber der Identifikationsmechanismus, der jetzt in Gang gesetzt ist, ist ein Stück Selbstillusionierung und Verschleierung von notwendigen Diskussionen über diese Positionen und auch von notwendigen Momenten einer sozialistischen Politik, wie ich sie im Auge habe.

      Mein Argument nehmen diese Leute überhaupt nicht wahr, und die Beschimpfungen, die ich von ihnen erfahren habe, will ich hier ganz beiseite lassen, weil sie mit Argumenten nichts zu tun haben. Ich beschäftige mich mit der RAF, solange irgendeiner da ist, der meint, das wäre richtige Politik. Das ist mein Motiv der Beschäftigung mit der RAF: Solange noch jemand da ist, der die Idee hat, das sei richtig, solange muss ich mich damit auseinandersetzen und alle zur Verfügung stehenden politischen Möglichkeiten nutzen, um diese Position zu bekämpfen.

      Heute eine Studentenbewegung zu erzeugen unabhängig von den Fraktionen, die es gibt, wäre die Belebung eines Leichnams. Das ist Totenbeschwörung, und Aktionismus ist eine Scheindifferenzierung, als ob der Ortswechsel eine wichtige Sache wäre für den Inhalt. Es kommt vielmehr darauf an, was die Studenten bei der Artikulation ihrer Interessen und Aktionsformen innerhalb von sozialistischen Konzeptionen tun können, damit sie sich nicht weiter von anderen gesellschaftlichen Gruppen isolieren. Deshalb sind kurzfristige Aktionen nichts: Mit hängender Zunge läuft man bloß von einer Aktion zur anderen, und denkt noch das wäre Fortschritt. Das ist aber keine wirkliche, keine substanzielle Fortentwicklung der Beteiligten, weder in Hinblick auf ihr Bewusstsein noch in Hinblick auf ihre Aktionsformen, sondern es ist schlicht eine Ortsbewegung, eine Veränderung des Ortes, an dem man steht. Eine solche Mechanisierung der Bewegung halte ich nicht für vertretbar, und die Störung dieser Selbstillusionierung würde ich in jedem Zusammenhang versuchen.

      Was ich über Marx denke, verstehe ich, als eine nicht-akademische Marx-Rezeption, für die ich meine geringen Mittel einzusetzen versuche. Aber natürlich bin ich darauf angewiesen, dass es dafür Räume gibt, und die stellt uns der bürgerliche Staat zur Verfügung. Das ist keine Selbstverständlichkeit: Es gibt Gesellschaften, in denen das nicht möglich ist. Eine bestimmte Stufe der Aneignung von Theorie kann politisch nachhaltiger und sehr viel sinnvoller sein, als das ständige unterbrechen von Theoriediskussionen durch irgendwelche Ad-hoc-Veranstaltungen. Ad-hoc-Aktionen sind das, was die bürgerliche Öffentlichkeit haben will, um zu berichten, dass irgendwo immer irgendetwas passiert. Aber das kann nicht unsere Politik sein. Auch die Erklärung von Daniel Cohn-Bendit, den ich sehr schätze, weil er bisher große politische Sensibilität bewiesen hat, man müsse sich jetzt hinter die RAF scharren, ist absoluter Blödsinn. Die Zeiten der mechanischen Solidarisierung sind schlicht vorbei.

       Moralität, Politik und Anarchismus

       Vorlesung vom 15. November 1974

      Ich möchte zunächst an unsere RAF-Diskussion anschließen, die ich zugegebenermaßen etwas erregt geführt habe, wodurch ich nicht zuletzt mich selbst blockiert habe. Ich glaube auch, dass die Argumente, die ich brachte, zwar nicht falsch, aber zum Teil etwas abstrakt waren, weshalb ich hier einmal den Zusammenhang zur Kantinterpretation herstellen möchte. Vor leichtfertigen Analogien und Parallelitäten muss ich dabei allerdings ausdrücklich warnen.

      Es geht mir darum, einige Linien der deutschen Geistesgeschichte aufzuzeigen, Linien, die sich natürlich nicht nur in den Köpfen der betreffenden Theoretiker abgespielt haben, sondern die Ausdrucksformen eines bedeutenden Teils der deutschen Geschichte gewesen sind und zwar bis heute. Auch wenn der Versuch, etwas wie die Thematik konkreter politischer Gewalt auf der Ebene philosophischer Theorie zu rekonstruieren, zunächst etwas zweifelhaft sein mag, möchte ich hier zwei Linien verfolgen, die von brennender Aktualität sind: Zum einen möchte ich am Beispiel Kants und Hegels etwas über das Verhältnis von Moralität und Politik sagen. Zum anderen möchte ich mich dem Anarchismus zuwenden, weil mir inzwischen meine Aussage, die RAF sei anarchistisch, zum Teil unzutreffend erscheint.

      Zunächst möchte ich daran erinnern, was wir im Zusammenhang mit der Französischen Revolution gesehen haben, dass nämlich für Kant die Revolution ein Umwälzungsprozess ohne materielles Subjekt ist. Er will die Umwälzung und ihre Folgen, und er will die Veränderung der Denkungsart als eine innerliche Form der Umwälzung, aber die materiellen Voraussetzungen dieser Umwälzungen möchte er nicht. Deshalb sagt er, die Revolution sei ein Fanal, ein Geschichtszeichen, an dem man sich orientieren könne und das man in Innerlichkeit umsetzen müsse, denn nur dann habe es revolutionäre Folgen. Die Revolution einfach auf der objektiven Ebene zu belassen, sei unmöglich, man müsse dieses Fanal, diesen Hinweis der Natur auf eine moralische Anlage der Menschen, so auffassen, dass gewissermaßen der Einzelne angesprochen und aufgefordert ist, sich selbst zu verändern. Wie es bei Rilke in »Archaïscher Torso Apollos« heißt: »Du musst dein Leben ändern«87 – eine Forderung insbesondere des deutschen Bildungsbürgertums.

      Dieses Geschichtszeichen ist zwar nichts Realitätsloses, hat es doch ein empirisches Ereignis zum Ursprung, aber es ist in seiner Komplexität und Vermitteltheit nicht fassbar. Geschichtszeichen oder Hinweise der Natur sind etwas Anschaubares, etwas Sichtbares, etwas Wirkendes, auch kausal Wirkendes, aber eben gleichsam mit dem Verbot versehen, sich der gesamten materiellen Vermitteltheit der Vorgänge, die für dieses Geschichtszeichen stehen, zu bemächtigen. Das heißt, es ist der Versuch der Depotenzierung materieller Vorgänge. Revolution spielt sich im Geiste ab, und nur das führt langfristig zu einer wirklichen Veränderung der Verhältnisse. Revolution ist damit eine moralische Angelegenheit und nicht bloß eine Angelegenheit der Veränderung von Besitzverhältnissen oder des Umsturzes von Regierungen und so weiter. All das mag zwar damit verbunden sein, ist aber nicht die Substanz, nicht die Hauptsache von revolutionären Veränderungen.

      Hier zeigt sich deutlich eine spezifische Bildungstradition: Was in Deutschland Geist hieß, ist buchstäblich nicht zu übersetzen, weder in die englische noch in die französische Sprache. Natürlich ist Geist nicht esprit und auch nicht reason. Herbert Marcuse (1898–1979) hat einmal bitter darüber geklagt, man könne in Amerika keine Übung über die »Phänomenologie des Geistes« abhalten, weil dieser Geistbegriff schlicht nicht übersetzbar sei. Schon der Werktitel bedeute eine unüberwindbare Barriere, vom Inhalt ganz zu schweigen.

      Geist enthält in den Traditionen, die ich hier anspreche, noch die Totalität der Welt und der Gesellschaft und ist noch nicht vollständig verinnerlicht. Er wird, wie auch Georg Lukács meint, erst im Stadium der parasitären Innerlichkeit, nämlich im Spätkapitalismus, zu einer totalen Innerlichkeit und Verinnerlichung. Hier, wenigstens