und »Gesetz und Gewalt« jeweils für sich, und Gewalt ist ein Bestandteil dieses Zusammenhangs. In den Aussagen »Gewalt ohne Freiheit und Gesetz ist Barbarei« beziehungsweise »Gewalt mit Freiheit und Gesetz ist Republik« verkehrt sich jedoch das Subjekt des Ganzen. In den ersten Bestimmungen waren »Gesetz« und »Freiheit« die Subjekte, und »Gewalt« war das Prädikat. Jetzt aber nimmt Kant für zwei Formen der Gesellschaft, für die Barbarei und für die Republik, Gewalt als Subjekt: Gewalt ohne Gesetz und Freiheit ist Barbarei, wobei Gewalt hier nicht näher qualifiziert ist; es ist Gewalt beginnend mit Naturkräften, schlicht mit der körperlichen Stärke der Menschen, die gegenüber Schwächeren zum Einsatz kommt, bis hin zu staatlichen Gewaltmaßnahmen. Das ist noch einfach zu verstehen, aber das Bemerkenswerte ist, dass Gewalt mit Freiheit und Gesetz als Republik erscheint, Gewalt also das Substanzielle, das Subjekt ist, während Freiheit und Gesetz Prädikate sind. Das bedeutet, dass die Gewalt zwar nicht das Primäre ist, aber doch essenziell für die republikanische Verfassung, während viele andere Dinge fehlen können.
Wenn aber die Gewalt das konstituierende Element der bürgerlichen Gesellschaft ist, so stellt dies einen totalen Gegenentwurf zum bürgerlichen Selbstverständnis dar, wie es sich etwa bei Benjamin Constant (1767–1830) in »Über die Gewalt« ausdrückt. Dieser hat die erste große Abhandlung über diesen Sachverhalt im nachnapoleonischen Zeitalter geschrieben und festgestellt, alle Gewalt, die es gibt, sei vorbürgerliche Gewalt.77 Solange also Gewaltsysteme bestehen, ist das bürgerliche Zeitalter noch nicht angebrochen. Das bürgerliche Zeitalter und die industrielle Produktion werden als schlicht gewaltlos interpretiert. Ähnliches findet sich bei Auguste Comte (1798–1857), der Stadien der Gewaltreduktion aufzeigt und für den die industrielle Gesellschaft, wenn sie sich einmal etabliert hat, grundsätzlich eine gewaltlose ist. Wer sollte da noch gegen wen Gewalt ausüben wollen, wo Arbeiter und Industrielle beide produktive Arbeit leisten, das heißt kein parasitäres Element mehr enthalten ist? Das Selbstverständnis sowohl des angelsächsischen Liberalismus als auch bestimmter soziologischer Theoriebildung, die eine industrielle Revolution statt der politischen ins Zentrum stellen, beruht auf der Gewaltlosigkeit: Die bürgerliche Gesellschaft, die kapitalistische Gesellschaft produziert sich und reproduziert sich, wenn sie auf der Höhe ihrer Entwicklung steht, nicht mehr nach Prinzipien von Gewalt. An dieser Auffassung, das sei hier nur am Rande bemerkt, sollte sich bis zu Marx nichts ändern. Die außerökonomische Gewalt tritt nur noch in der Sicherung des zentralen ökonomischen Gewaltverhältnisses auf, aber der hier waltende Mechanismus ist gewaltlos und beruht stattdessen auf Tausch.
Kant hingegen sagt, für die bürgerliche Gesellschaft sei eine zweckbestimmende Gewalt das konstitutive Element. Das ist keine Fetischisierung der Gewalt, auch kein Mythos, wie ihn Georges Sorel (1847–1922) produziert hat,78 sondern die nüchterne Einschätzung, dass ein in bestimmter Weise angelegter Mensch in dieser so strukturierten Gesellschaft nicht auf gewaltfreie Weise zum Menschen werden kann, sondern nur durch jene Mittel der Gewalt, die allerdings vom Philosophen definiert werden im Sinne einer Einschränkung, einer Regulierung und einer gesetzmäßigen Ausdrucksweise. Man kann Gewalt nicht aus der Welt schaffen, sondern sie nur der Vernunft subsumieren, sie nur zu einem Instrument der Vernunft machen. Bezeichnenderweise ist bei Kant die Idee des ewigen Friedens mit dieser Form von Gewalt verknüpft.
Das grundsätzliche Problem der außerökonomischen Gewalt werde ich in der Auseinandersetzung mit Marx behandeln. Hier sei nur festgehalten, was das liberale Selbstverständnis anbetrifft, dass die Theorie des Nachtwächterstaates nie zutreffend gewesen ist.79 Der Staat ist immer mit der Gewalt aufgetreten, die notwendig war, um grundlegende Herrschaftsverhältnisse zu sichern. In bestimmten Phasen ist es weniger notwendig gewesen als heute, weil die Legitimationsgrundlagen auch dieser Herrschaftsverhältnisse andere waren. Das heißt aber nicht, dass der Staat selbst den Produktionsprozess, das zentrale Gewaltverhältnis zwischen Kapital und Lohnarbeit, konstituiert hat. Dieses zentrale Gewaltverhältnis ist in der globalen Phase der ursprünglichen Akkumulation öffentlich hergestellt worden – mit öffentlicher, mit außerökonomischer Gewalt –, hat sich aber nicht durch den ständigen Eingriff dieser öffentlichen Gewalt, sondern immer nur phasenweise reproduziert. Das bedarf allerdings einer Einschränkung: Ich glaube, dass ein Zug der ursprünglichen Akkumulation gegenüber menschlichen Fähigkeiten und gegenüber der Umwelt strukturell mit dem Kapitalismus verbunden ist. Ich glaube also nicht, dass sich das System auf der Ebene des Gewaltlosen, des Austausches von Lohnarbeit und Kapital, halten konnte. Entsprechend glaube ich auch, dass der Satz von Marx – dem Arbeiter geschehe kein Unrecht, wenn er seine Arbeitskraft verkauft, solange er nicht übertölpelt oder übers Ohr gehauen wird – nur eine Seite des Kapitalismus beschreibt. Die zweite Seite ist die permanente ursprüngliche Akkumulation. Marx bezeichnet das in der Gewerkschaftsfrage als die beständigen Gewaltübergriffe des Kapitals, die durch die Gewerkschaften als proletarische Organisationsformen abgewehrt werden.80 Diese Gewaltübergriffe sind Alltagspraktiken des Kapitals, welche die Alltagskatastrophen der Arbeiter auf ganz verschiedenen Ebenen mitkonstituiert haben, zum Beispiel auf der Ebene der Okkupation von Lebensverhältnissen.
Nie hat sich das Kapital darauf beschränkt, nur innerhalb der Fabriktore allein die Arbeitskraft auszunutzen. Das Kapital hat immer die Tendenz gehabt, den Lebenszusammenhang des Arbeiters zu erfassen. Am deutlichsten, wenn auch vielleicht nicht am folgenreichsten, zeigt sich das an der Ideologie des Hauses zum Beispiel der Krupps, Siemens’ und so weiter. Da heißt es nicht »Konzern«, sondern »unser Haus«, praktisch »unsere Familie Siemens«. Günter Wallraff 81 hat das sehr schön dargestellt in der Analyse von alten Kruppianern, Leuten, die vierzig, fünfzig Jahre lang treue Anhänger der Familie Krupp gewesen sind, ihre Wohnung vor Ort am Werk hatten, und dann feststellen, wie sie betrogen worden sind, indem man ihnen alle zehn Jahre eine billige Silbermedaille oder ein Fünfmarkstück aus Gold zugesteckt hat als Treueprämie. Das war ein permanenter Betrug, unter dessen Ebene sich die Okkupation ihrer Fähigkeiten, die vollkommene intensive Ausnutzung ihrer Arbeitskraft vollzogen hat. Das heißt, dieses Moment von Gewalt innerhalb der Gewaltlosigkeit des Austauschprozesses zwischen Lohnarbeit und Kapital halte ich für ein konstitutives. Ein anderes Beispiel: Es gibt diesen berühmten Roman von Upton Sinclair »Am Fließband. Mr. Ford und sein Knecht Shutt«. Das ist der erste große Fordroman. Es geht in der Tat um das Fließband, es geht aber wesentlich um die Lebensgeschichte von Henry Ford, vom Anfang der Autoproduktion bis zum Ende. Ford nimmt mit wachsendem Kapital und wachsenden Fähigkeiten ganz Detroit und andere Städte ein, um sie zu einer einzigen Produktionsöffentlichkeit zusammenzuschließen und um Polizei und Behörden zu okkupieren. Hierzu setzt sich parallel die Katastrophengeschichte des Fordarbeiters auf ganz verschiedenen Ebenen durch. Zum Beispiel überwacht Ford das Leben der Arbeiter auf der Grundlage von sittlichen Maßstäben: Wer sich anständig verhält, kriegt eine Prämie. Diese Prämien führen dazu, dass die Händler ihre Preise hochsetzen. Die sagen, wenn die Arbeiter mehr kriegen und sich anstrengen, sittlich zu leben, können wir unsere Preise erhöhen. Ein System kommt in Gang, aus dem eine solche Arbeiterexistenz nicht mehr herauskommt, bis zur einzigen Einsicht, welche die Hauptfigur hat, als sie an einer Gewerkschaftsversammlung teilnimmt, in der geschossen wird. Die Verflechtungen und die Schuldgefühle, die der Protagonist gegenüber Ford empfindet, ergeben sich aus der Okkupationsgewalt des Kapitals. Ich erwähne diesen Zusammenhang nur, um die strukturelle Gewalt gegenüber den Betroffenen zu zeigen. Am liebsten möchte man sich den Arbeiter ganz aneignen, seinen ganzen Lebenszusammenhang verwerten, und diese Tendenz funktioniert zweifellos arbeitsteilig: Bestimmte Medienverbundsysteme sind darauf abgestellt, den Lebenszusammenhang der Arbeiter ganz zu verwerten und in den Verwertungsprozess hineinzuziehen.82 In dieser Weise hat Kant völlig Recht: Gewalt in ganz unmittelbarem, direktem Sinne und nicht in verschleierter Form ist das konstitutive Moment dieser Gesellschaft.
Man hat innerhalb des zentralen Gewaltverhältnisses immer zwei Gewaltmomente. Das eine ist die unmittelbare Gewalt, das andere die institutionalisierte außerökonomische Gewalt, die für die Betroffenen eine Existenznotwendigkeit ist: für den Kapitalisten, um zu verwerten, und für den Arbeiter, um Leben zu können. Der Kapitalismus möchte an sich das institutionalisierte Gewaltverhältnis wieder aufbrechen und die unmittelbare Gewalt, also eine ursprüngliche Akkumulation wiederherstellen, was nur deshalb nicht gelingt, weil es mächtige Gewerkschaften gibt. Groß ist der Unterschied in diesen Gewaltverhältnissen allerdings nicht.
Kant