wir gesehen haben, führt Kant in seinem Werk »Anthropologie in pragmatischer Absicht« drei Naturanlagen des Menschen auf, die Potenzen, Potenziale, Fähigkeiten oder Möglichkeiten der Entwicklung bezeichnen, die sich aber für sich und isoliert auf das einzelne Individuum nicht entfalten können. Diese Anlagen sind vielmehr darauf angewiesen, durch gesellschaftliche Kräfte in den Prozess der Entwicklung einbezogen zu werden. Gleichwohl sind sie von Natur aus bei jedem Menschen vorhanden und insofern keine gesellschaftlichen Produkte. Diese Fähigkeiten und Anlagen sind Naturanlagen, wobei Kant eine technische, eine pragmatische und eine moralische unterscheidet. Im Folgenden wird es nun darum gehen, in welcher Weise diese Naturanlagen entwickelt werden können und entwickelt werden müssen.
Zuletzt hatte ich ein Schema eingeführt, in dem Kant die Gewalt auf verschiedene Weise mit Gesetz und Freiheit kombiniert und so Organisationsstufen der Gesellschaft beschreibt. Dieses Modell gilt es nun noch eingehender zu interpretieren. Zunächst sagt Kant, dass es eine Art »Maschinenwesen der Vorsehung« gebe, »wo die einander entgegenstrebende Kräfte zwar durch Reibung einander Abbruch tun, aber doch durch den Stoß oder Zug anderer Triebfedern lange Zeit im regelmäßigen Gange erhalten werden.«74 Er beschreibt mit dem Maschinenwesen nichts anderes als das, was in der bürgerlichen Gesellschaft passiert, nämlich dass einzelne Kräfte und Konstellationen mehr oder weniger zufällig aufeinandertreffen, aber das Ganze so etwas wie einen Zug, eine Stoßrichtung oder einen Durchschnitt ergibt und sich entsprechende Durchschnittsverhaltensweisen herausbilden. Nun ist das »Maschinenwesen der Vorsehung« eine sehr merkwürdige Bezeichnung, ist darin doch das theologische Element, das im Begriff der Vorsehung früher enthalten war, völlig zerstört. Vorsehung ist hier auf mechanische Vorgänge reduziert, auf Transformationen von mechanischer Energie in andere Energieformen. Es ist die Zusammenfassung der Gesellschaft als Maschine (nicht der Tiere als Maschine, wie es Descartes begriffen hat), als eines mechanischen Vorgangs, der mit einer gewissen Gesetzmäßigkeit ausgestattet ist und einzelne Dinge vorantreibt. Kant sagt, dieses Maschinenwesen der Vorsehung erzeuge, was man als Entfaltung der Kräfte bezeichnen kann, und diese Entfaltung der Kräfte kombiniere in einer bestimmten Form Freiheit, Gewalt und Gesetz zur Voraussetzung.
Nehmen wir zunächst die erste Kombinationsmöglichkeit in besagtem Kantischen Schema. Da heißt es: »A. Gesetz und Freiheit ohne Gewalt (Anarchie).« Beim Begriff der Anarchie und der Anarchisten muss man besonders vorsichtig sein, weil jede Gesellschaft Anarchie anders definiert und sich jede Generation von Anarchisten von früheren unterscheidet. Der Begriff ›Anarchie‹ ist in dem Sinne ein soziologischer Grenz- und Ausgrenzungsbegriff, der immer das bezeichnet, was nicht zur etablierten Ordnung gehört. Er ist dort ein Restbegriff, wo er nicht ein positives Selbstverständnis beschreibt, und die ganze europäische Kulturgeschichte beruht darauf, Anarchie und Anarchismus negativ zu wenden. Warum also sagt Kant, Gesetz und Freiheit ohne Gewalt seien Anarchie, wo doch dem Anarchismus und der Anarchie üblicherweise gerade ein Gewaltmoment zugesprochen wird?
In den Debatten des Konvents hat Maximilien de Robespierre (1758–1794) den bestehenden Ordnungen und restaurativen Mächten den Vorwurf gemacht, sie verkörperten Anarchie und Despotismus, denn ihre Herrschaft beruhe nicht auf Gesetz und Freiheit. Wir finden also auch in den Konventsdebatten eine Umkehrung, das Zurückschleudern des Vorwurfs der Anarchie gegen etablierte Gewalten und Mächte. Hier ist Anarchie also nicht Herrschaftslosigkeit, die positive Auslegung von Anarchie, sondern sie ist Korruption und ein Durcheinander der Gesellschaft, ja Gesetzlosigkeit. Aber warum schlussfolgert nun Kant, Gesetz und Freiheit seien Anarchie, wenn die Gewalt fehlt?
Das Gesetz wirkt bei Kant typischerweise nicht aus sich selbst wie im naturrechtlichen Gesetzesbegriff, sondern als eine abstrakte und generelle Regel. Diese Regel erhält die Kraft zur Durchsetzung nicht durch sich selbst oder durch die Natur, wie das die naturrechtlichen Theorien angenommen hatten, sondern es bedarf eines gesonderten Aktes, eines Gewaltaktes der Sanktion, um Gesetze durchzusetzen und ihnen Geltung zu verschaffen. Deshalb ist es nicht zufällig, dass bei Hegel in der Rechtsphilosophie die Realität des Gesetzes erst in den Gerichten existiert, folglich mit der gesamten Sanktionsgewalt, die hinter der Rechtsprechung steht. Erst diese verschafft dem Gesetz Geltung. Es ist von Hobbes der Satz überliefert: »non veritas, sed auctoritas facit legem«, nicht die Wahrheit, sondern die Autorität und damit die Gewalt mache den Wahrheitsgehalt des Gesetzes aus.75 Insoweit kann ein Gesetz, das keine Gewalt hat, nur moralisch für seine Einhaltung appellieren. Das ist aber für Kant eine Frage der Moralität, der Selbstverpflichtung, nicht der Durchsetzung.
Wenden wir uns nun der zweiten Aussage im Kantischen Schema zu, in der es heißt: »B. Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotism).« Kant hat immer Lösungsmöglichkeiten für Konflikte im Auge und sieht klar, was sich in der Geschichte abgespielt hat, und doch kommt er auch beim Despotismus zunächst zu einer sehr merkwürdigen Bestimmung, denn Despotismus ist eigentlich nicht in Verbindung mit dem Gesetz zu verstehen.
Der Fortschritt zum Bürgertum liegt darin, dass der Despot, dadurch dass er Gesetze gibt, seine Willkürherrschaft einschränkt – noch sind die Gesetze nicht aus der Souveränität des Volkes legitimiert, jedenfalls nicht in der Realität, der Fortschritt besteht vielmehr noch in der Verbürgerlichung des Despotismus. Der Hobbes’sche Staat ist seiner Form nach ein autoritärer, seinem Inhalt nach jedoch ein vollkommen bürgerlicher Staat. Diese Gesetzeshaftigkeit gesellschaftlicher Regeln des Zusammenlebens ist ein bürgerliches Element, selbst wenn diese Gesetze von einem Despoten erlassen werden. Das ist bei Friedrich II. der Fall, der sich allenfalls mit ein paar Leuten beraten hat, bevor er Gesetze erließ, was aber gegenüber dem Hobbes’schen Staat nichts Neues darstellt. In der Generalität des Gesetzes aber lag etwas fundamental Neues, beruhten die feudalen Gesetze doch noch auf Exemption, also auf der Ausnahme. Auch da hatte es natürlich allgemeine Gesetze gegeben, insbesondere im strafrechtlichen Bereich, doch die Allgemeinheit des Gesetzes in allen Bereichen war das, was den Despotismus beschränkte.
Nun kommt Kant und behauptet, Gesetz und Gewalt ohne Freiheit seien Despotismus. Was bedeutet diese Freiheit? Es ist die transzendentale Idee der Möglichkeit der Begründung von Gesetz überhaupt. Die liegt darin, dass die vereinigte Willkür des Volkes dem zustimmen könnte – vorausgesetzt, schränkt Kant ein, das Volk sieht seine objektiven Interessen ein. Da es dazu aber meist nicht in der Lage ist, so Kant, ist die empirische Legitimation nicht notwendig, ja häufig sogar schädlich, was er in der Rechtstheorie noch sehr viel klarer ausdrückt. Die Kritik an den vorherigen Gesetzen und Souveränen besteht im Grunde darin, dass das Gesetz nicht auf diesen transzendentalen Punkt gebracht ist, dass die Gesetzgeber es einfach aus der auctoritas, der Souveränität entscheiden, also dezisionistisch. Kant sagt demgegenüber: Hier müsse ein Moment von Freiheit enthalten sein. Freiheit bedeutet auf der Rechtsebene, dass jeder Mensch das Recht hat, über einen bestimmten Umkreis von Willkür zu verfügen. Die Willkürsphären des Menschen sind dabei so definiert, dass sie mit anderen Willkürsphären nicht aufeinandertreffen. Das heißt mit anderen Worten: Das Gesetz formuliert die Bedingungen, unter denen die Willkür eines Menschen mit der äußeren Willkür aller anderen vereinbar ist.76 Damit formuliert Kant einen ganz wesentlichen Punkt des bürgerlichen Selbstverständnisses. Diese Willkürsphären sind völlig freigesetzt von Moralität und Zwang, wodurch der bürgerliche Begriff der Intimität zu einer fassbaren Kategorie wird. Intimität beschreibt jenen Bereich, in dem es keinen etwas angeht, was passiert, der buchstäblich nicht öffentlich ist. Als das schlechthin Nicht-Öffentliche ist dieser Bereich einer der freien Willkür, was aber nicht identisch ist mit Freiheit, weil es diese für Kant nur aus dem Gesetz gibt. Willkür bedeutet, dass der Mensch dort tun und lassen kann, was er will, vorausgesetzt, dass er andere nicht verletzt, dass er nicht auf die Willkürsphären anderer stößt.
Es muss also den Gesetzen die Idee zugrunde liegen, dass ihnen prinzipiell alle Menschen zustimmen könnten, wenn sie einsichtige, vernünftige Wesen wären, denn dann bedarf es keiner Zwangsgesetze mehr. Da sie aber nun einmal vernünftige Wesen sind, die mit Naturanlagen zur Unvernunft und zum Bösen ausgestattet sind, bedarf es dennoch zwingender Gesetze, um das Verhältnis zwischen potenzieller Unvernunft und Vernunftfähigkeit zu regeln. Die Kantische Philosophie rankt sich um die Frage: Wie macht man aus unvernünftigen Wesen vernünftige? Wie erreicht man bei einem Wesen, das einerseits Anlagen zur Vernunft und andererseits Anlagen zur Unvernunft hat, dass es sich durch eigene Gesetze