die Formen, die sich in den Gefängnissen abspielen, immer am Maßstab jener, wenn auch als illusionär sich erweisenden Freiheiten außerhalb der Gefängnisse zu messen, setzt eine Einschätzung der politischen Bedeutung liberaler Freiheitsrechte im System voraus. Wer sagt, »das ist alles Mist, das muss man zerstören, dieser liberale Staat ist ein Scheinsystem der Unterdrückung, nur auf Verschleierung beruhend«, der spricht nicht die Sprache der Arbeiterbewegung und redet darüber hinaus kompletten Unsinn. Zu behaupten, es sei gleichgültig, ob offener Terror waltet wie im Faschismus oder ob ein System existiert, das wenigstens der Form nach eine Teilung der Gewalten aufweist und damit bestimmte Rechtsweggarantien kennt, ist schlicht Unsinn. So zu tun, als sei das gegenwärtige System eine Bananenrepublik, ist eine völlig falsche Einschätzung. Das geht nicht, das ist falsch, und alle Dinge widerlegen das. Die eigenen Erfahrungen widerlegen das.
Der Protest auf dieser Ebene setzt eben voraus, dass man sagen kann, und da würde ich streng leninistisch argumentieren: Historisch mag es zwar sein, dass die Parlamente, die bürgerlichen Gerichte und meinetwegen auch die bürgerlichen Freiheiten überholt sind, sie sind aber nicht im praktischen Verständnis der davon betroffenen Menschen überholt. Deshalb ist es notwendig, sich mit diesen Dingen auseinanderzusetzen. Man kann behaupten, in hundert Jahren gebe es vielleicht keine bürgerlichen Parlamente mehr, nur nützt das den Betroffenen überhaupt nichts und erst recht nicht den Massen, die eben, wie Lenin sagt, noch nicht so weit sind, das zu begreifen. Genau diese Isolierung von den Massen, schon von den studentischen Massen, ist für mich Ausdruck einer nicht-sozialistischen Politik, wie immer man das drapieren mag. Das ist für mich keine sozialistische Politik, die sich hier ausdrückt, sondern das ist eine Politik, die fast zwanghaft auf Isolierung aus ist, und da hilft es auch gar nichts, wenn wir uns mit diesen Gruppierungen solidarisieren. Vor allem ihnen selbst hilft das nicht.
Denn das wäre ein mechanischer Solidaritätsbegriff, der überhaupt nichts mit dem politischen Solidaritätsbegriff zu tun hat, eine Art Reflex, sich, wenn die Rechten eine Sache angreifen, mit den Angegriffenen zu solidarisieren. Das ist aber für mich keine Politik, sondern eine mechanische Solidarität, die sich eingespielt hat zuungunsten aller Beteiligten. Sie vernachlässigt nämlich zweierlei: Zum einen muss ein Protest, der sich darauf richtet, dass Menschen in diesem System in Gefängnissen isoliert, drangsaliert, eventuell gefoltert, jedenfalls mit Methoden bedacht werden, die nach dem eigenen Selbstverständnis des Rechtsstaatssystems unmöglich sind, unabhängig von der RAF für alle betroffenen Personen sprechen. Einem solchen Protest schließe ich mich vollständig an. Zum anderen muss ich, wenn ich politisch argumentiere, nachweisen können, ob diese Politik, die von dieser Gruppe vertreten wird, in irgendeiner Weise politisches Potenzial zu mobilisieren vermag. Und das muss ich eindeutig verneinen. Diese Politik ist falsch, die ist so falsch, dass es im Grunde nicht möglich ist, sich ungespalten zu solidarisieren, und ich halte es für gefährlich, dass man eine Identifikation mit dieser Politik einkauft, indem man Solidarität mit den Betroffenen fordert.
Für mich steht fest, wer Solidarität mit der Baader-Meinhof-Gruppe fordert, muss gleichzeitig die Solidarisierung mit allen Gefangenen und allen Leuten fordern, die in Gefängnissen sitzen und bestimmten Methoden unterworfen sind, die mit dem Rechtsstaatssystem nicht vereinbar sind. Wer das voneinander trennt, entpolitisiert diesen Vorgang sträflicher und vor allem für die Betroffenen selbst gefährlicher Weise. Diese können nämlich keine Lernprozesse mehr machen, wenn sich bei jedem Anlass bestimmte studentische Gruppen um sie scharen. Da können sie immer die Illusion hegen, sie mobilisierten Massen. Diese Illusion muss man zerstören. Es sind nicht Massen, sondern, was sich da solidarisiert, sind Leute, die etwas wie eine Moral haben völlig unabhängig von ihrer politischen Auffassung. Das sind aber andere Gruppen, als sie ansprechen wollen, und die sind auch von jenen verschieden, die sozialistische Politik betreiben wollen. Wer das nicht erkennt und zusammendenkt, ist nach meiner Auffassung auf dem Wege, Zusammenhänge zu vernebeln und zu entpolitisieren.
Es gab anfangs einzelne politische Ansätze in der RAF. Seit der Befreiung von Andreas Baader (1944–1977) jedoch ist die Illegali-sierung zum existenziellen Zwang der Beteiligten geworden, und unter diesen Voraussetzungen ist eine sozialistische Politik nicht mehr möglich. Diese Randgruppengeschichte, die wurde ja nicht von der RAF entdeckt und auch nicht von Anfang an betrieben, sondern die RAF hat zunächst noch bestimmte Prozesse in ihre Politik eingegliedert. Aber seit der Befreiung von Baader vollzieht sich eine ganz andere politische Linie.
Es besteht doch ein qualitativer Unterschied zwischen einer Gruppe, die in ihrer Konzeption Erweiterung vorsieht und nichts unterlässt, um diese Erweiterung zu fördern, und einer Gruppe, die herumballert. Zwar kann ich Letztere psychologisch verstehen, aber das bedeutet nicht, dass ich ihre Handlungen als Politik begreife: Das sind Verzweiflungsaktionen. Zur alten sozialistischen Tradition gehört es, dass man nicht unentwegt von Waffen und bewaffnetem Kampf redet, sondern nur dann, wenn es notwendig ist. Diese Gruppe redet aber unentwegt von Waffen und Bewaffnungen und ist dabei selbst bewaffnet. Das ist keine Möglichkeit, um Zusammenhänge von Gewalt innerhalb der Gesellschaft zu analysieren und zu begreifen, sondern ist darauf abgestellt, bewaffneten Kampf zu demonstrieren. Nur stellvertretend wird der bewaffnete Kampf geführt. Das ist allerdings ein altes Syndrom des russischen Anarchismus, und dieser Traditionszusammenhang ist nicht zu leugnen, den muss man als anständiger Soziologe analysieren.
Man kann die republikanischen und liberalen Freiheiten nur einklagen, indem man gleichzeitig sagt: Eine Politik, die sich darauf stützt, republikanische Freiheiten entweder völlig zu ignorieren oder zu zerstören, ist zum Scheitern verurteilt. Nur das schafft die Möglichkeit einer ungespaltenen Solidarisierung mit denjenigen, die in Gefängnissen leiden. Das ist jedenfalls für mich die Bedingung der Möglichkeit dafür.
Wenn ihr nun zunächst Solidarisierung mit den Gefangenen fordert, weil angeblich die bürgerliche Öffentlichkeit Zusammenhänge herstelle – dabei sind die Zusammenhänge nicht konstruiert, das lasse ich mir nicht einreden –, dann ist das eine Wiederholung einer ganz fatalen Geschichte, in der sich die Protestbewegung von 1968 ihre eigenen politischen Ziele und Erfolge durch die bürgerliche spektakuläre Öffentlichkeit vortragen ließ. Dass die Protestierenden glaubten, die Resonanz in der Öffentlichkeit sei zentral, war fatal. Die haben mehr auf die Öffentlichkeit geschaut, als auf das, was sie machten, und nicht reflektiert, was sie wirklich taten. Wenn das jetzt wieder beginnt, dass die bürgerliche Öffentlichkeit, die Massenmedien, die Staatsorgane, Zusammenhänge herstellen, die erst nachgewiesen werden müssen, bedeutet das für uns die Notwendigkeit, wenn wir eine autonome sozialistische Politik betreiben wollen, diese Zusammenhänge so nüchtern zu sehen, wie sie tatsächlich sind. Sonst entsteht ein Abhängigkeitsverhältnis gegenüber der bürgerlichen Öffentlichkeit, dem am meisten diejenigen unterworfen sind, die gar nichts von ihr halten. Das ist ein Mechanismus und keine dialektische Verhaltensweise gegenüber bürgerlicher Öffentlichkeit. Man meint diese Öffentlichkeit, wie Brecht sagt, zur Umfunktionalisierung für sozialistische Ziele zu nutzen, doch das ist nicht der Fall. Denn was von der bürgerlichen Öffentlichkeit aufgegriffen wird, ist Reaktionsmaxime der eigenen Politik. Daraus kann nichts werden, und wenn es hundert Jahre dauert. Daraus kann immer nur dasselbe werden, nämlich eine völlige Mechanisierung dessen, was Strategie, Taktik und sozialistische Politik ist, und das führt automatisch zur Selbstisolierung.
Sich damit in irgendeiner, nicht klar definierten Form zu solidarisieren, halte ich für unmöglich. Die Solidarität mit den Gefangenen ist ein ganz anderes Problem und berührt die RAF genauso wie einen beliebigen Untersuchungshäftling, der durch Fahrlässigkeit umkommt. Ich benutze nicht den Begriff ›Mord‹ dafür, das möchte ich ganz offen sagen. Denn es gibt einen viel treffenderen juristischen Ausdruck, den ich auch damals benutzt habe, entschuldigt wenn ich daran erinnere, für die Erschießung von Benno Ohnesorg (1940–1967), nämlich diesen Begriff dolus eventualis. Der bedeutet, dass man den Tod eines Menschen aufgrund der objektiven Situation in Kauf nimmt, einkalkuliert. Der Totschlag wird dabei nicht als bewusste Zielsetzung, sondern aufgrund eines bestimmten Einsatzes in Kauf genommen. Genau das hat sich bei Benno Ohnesorg zugetragen. Karl-Heinz Kurras, der Ohnesorg umgebracht hat, war kein gedungener Mörder. Nur die Fatalität dieses Masseneinsatzes mit Waffen, die ganz klar auch zu schießen bestimmt waren, das ganze Arrangement dieser Schlacht war darauf abgestellt, dass es Tote gibt. Das bezeichnet einen ähnlichen Zusammenhang wie hier in den Gefängnissen. Ich kenne nicht im Einzelnen