auf und pflegt sie, gibt ihnen Hinweise, setzt ihnen Zeichen: Die Natur entbirgt sich, vergegenständlicht sich für den Menschen in Zeichen. Ob es Revolutionen, Kriege oder Zwistigkeiten sind, die gesellige Ungeselligkeit – all das sind Zeichen der Natur, ohne die die Vorsorge nicht gewährleistet wäre.
Der erste Mensch würde im ersten Teich, den er vor sich sähe, ertrinken; denn Schwimmen ist schon eine Kunst, die man lernen muß; oder er würde giftige Wurzeln und Früchte genießen und dadurch umzukommen in beständiger Gefahr sein. Hatte aber die Natur dem ersten Menschenpaar diesen Instinkt eingepflanzt, wie war es möglich, daß er ihn nicht an seine Kinder vererbte; welches doch jetzt nie geschieht?66
Für Kant ist die körperliche Organisation gewissermaßen der organische Teil jenes Gebrauchs der Vernunft, der es ihm ermöglicht, sich selbst zu erhalten. Die technische Anlage ist schlicht jene Anlage zur Erzeugung von Mitteln für die Selbsterhaltung auf physischer Ebene. Die pragmatische Anlage wiederum erläutert er wie folgt: »Die pragmatische Anlage der Zivilisierung durch Kultur, vornehmlich der Umgangseigenschaften und der natürliche Hang seiner Art, im gesellschaftlichen Verhältnisse aus der Rohigkeit der bloßen Selbstgewalt herauszugehen und ein gesittetes (wenn gleich noch nicht sittliches), zur Eintracht bestimmtes Wesen zu werden, ist nun eine höhere Stufe.«67 Hierzu gehören Zucht, Disziplin, Erziehung, Geselligkeit und so weiter: »so daß sich das menschliche Geschlecht nur durch Fortschreiten, in einer Reihe unabsehlich vieler Generationen, zu seiner Bestimmung empor arbeiten kann«68.
Die pragmatische Naturanlage zeigt hier also jenseits der elementaren Grundausstattung des Menschen mit verlängerten Organwerkzeugen wie Händen und Fingern, die ihm die Selbsterhaltung erlauben, eine bestimmte Stufe der Zivilisierung, mithin der Entfaltung seiner Naturanlagen.
Die dritte Naturanlage, die moralische, ist für ihn die problematischste und wichtigste. Sie läuft in alter theologischer Form auf die Frage hinaus, »ob der Mensch von Natur gut, oder von Natur böse«69 sei. Kant ist der Auffassung, er sei von Natur schlecht, und lehnt sich darin ganz an Friedrich II. an, den er auch immer wieder zitiert. Man könnte darin natürlich ein theologisches, protestantisches Relikt bei Kant erblicken, doch dem möchte ich widersprechen. Das ist vielmehr die Auffassung der Friedrichanischen Aufklärung, die anders als die Französische Revolution keine rousseauistischen Elemente aufweist, sondern an der Zwiespältigkeit der menschlichen Natur festhält und sagt, der Mensch sei grundschlecht. Man könne sich auf ihn nicht verlassen, und wenn er einmal moralisch handelt, dann mit Sicherheit aus unmoralischen Gründen:
Friedrich II. fragte einmal den vortrefflichen Sulzer, den er nach Verdiensten schätzte und dem er die Direktion der Schulanstalten in Schlesien aufgetragen hatte, wie es damit ginge. Sulzer antwortete: ›Seitdem daß man auf dem Grundsatz (des Rousseau), daß der Mensch von Natur gut sei, fortgebauet hat, fängt es an besser zu gehen.‹ ›Ah (sagte der König), mon cher Sulzer, vous ne connaissez pas assez cette maudite race à laquelle nous appartenons.‹70
Ganz offensichtlich geht die Friedrichanische Aufklärung vom Hang zum Bösen aus und hält gerade deshalb Vernunft und Aufklärung für die einzigen Mittel, um aus dieser Dunkelheit herauszukommen. Diese Aufklärung geht nicht wie Rousseau von der Fortsetzung von Natureigenschaften in dem Sinne aus, dass der gute wilde Mensch für seine Entfaltung einfach gesellschaftlich fortgesetzt wird, sondern umgekehrt: Die Welt ist verlassen, destruktiv, und wir müssen mit äußerster Disziplin und Anstrengung dem Menschen Korsettstangen einsetzen, damit er stehen kann. Diese Korsettstangen sind Produkte von Vernunft, Disziplin, Allgemeinheit und so weiter. Die Vernunft ist hier das Gerüst, an dem sich die menschliche Natur festmachen kann, um nicht völlig kaputtzugehen.
Die Frage ist hier: ob der Mensch von Natur gut, oder von Natur böse, oder von Natur gleich für eines oder das andere empfänglich sei; nachdem er in diese oder jene ihn bildende Hände fällt (cereus in vitium flecti etc.). Im letztern Falle würde die Gattung selbst keinen Charakter haben. – Aber dieser Fall widerspricht sich selbst; denn ein mit praktischem Vernunftvermögen und Bewußtsein der Freiheit seiner Willkür ausgestattetes Wesen (eine Person) sieht sich in diesem Bewußtsein selbst, mitten in den dunkelsten Vorstellungen, unter einem Pflichtgesetze und im Gefühl (welches dann das moralische heißt), daß ihm, oder durch ihn anderen recht oder unrecht geschehe. Dieses ist nun schon selbst der intelligibele Charakter der Menschheit überhaupt, und in so fern ist der Mensch seiner angebornen Anlage nach (von Natur) gut. Da aber doch auch die Erfahrung zeigt: daß in ihm ein Hang zur tätigen Begehrung des Unerlaubten, ob er gleich weiß, daß es unerlaubt sei, d. i. zum Bösen sei, der sich so unausbleiblich und so früh regt, als der Mensch nur von seiner Freiheit Gebrauch zu machen anhebt, und darum als angeboren betrachtet werden kann: so ist der Mensch seinem sensibelen Charakter nach auch als (von Natur) böse zu beurteilen, ohne daß sich dieses widerspricht, wenn vom Charakter der Gattung die Rede ist; weil man annehmen kann, daß dieser ihre Naturbestimmung im kontinuierlichen Fortschreiten zum Besseren bestehe.71
Wir sehen, Kant geht davon aus, dass der Mensch seinem intelligiblen Charakter nach, der ihn als Vernunftwesen ausweist, gut ist. Er ist also dort gut, wo er der Realität widersprechen und autonom werden kann, mit anderen Worten, die Fähigkeit besitzt, nicht nur unter Gesetzen, sondern auch aus Gesetzen zu handeln, was ja das Moralische hier ausmacht. Seinem sensiblen, seinem empirischen Charakter nach, wie er also tatsächlich ist, ist der Mensch jedoch böse. Diesen Zwiespalt zu lösen, den sensiblen und den intelligiblen Charakter zu vermitteln, ist ein treibendes Motiv in der Kantischen Philosophie. Das bedeutet, dass der Charakter, sofern er als empirisch gilt, entwickelt werden muss, wofür die Natur selbst Anlagen und Mittel liefert.
Ich möchte hier noch einmal an jene Stelle erinnern, an der Kant behauptet, die Französische Revolution sei, wie blutig und gewaltsam sie auch gewesen sein mag, und selbst wenn keiner sie wiederholen wolle, doch ein nicht zu tilgendes Geschichtszeichen gewesen. Er ist der Meinung, dass diese Entfaltung der Naturanlagen ein Produkt von Gewalt sei, wobei es verschiedene Formen von Gewalt gibt. In der »Anthropologie« nun ist die Gewalt merkwürdigerweise der Geburtshelfer dieser Naturanlagen. An sich entfaltet der Mensch gar nichts, doch er steht eben unter dem Druck von Konkurrenz und unter dem Zwang, Vernunft anzunehmen. Daher nimmt er im umgangssprachlichen Sinne Vernunft auch nur dann an, wenn es fast schon ausgeschlossen scheint. »Freiheit und Gesetz (durch welche jene eingeschränkt wird) sind die zwei Angeln, um welche sich die bürgerliche Gesetzgebung dreht.– Aber damit das letztere auch von Wirkung und nicht leere Anpreisung sei: so muß ein Mittleres hinzu kommen, nämlich Gewalt, welche, mit jenen verbunden, diesen Prinzipien Erfolg verschafft.«72
Es kann bei Kant keine Rede davon sein, dass er die Gewalt nicht sieht, und deshalb nimmt er ein bestimmtes Strukturprinzip der bürgerlichen Gesellschaft viel klarer zur Kenntnis als andere, die im liberalen Selbstverständnis die aufkommende bürgerliche Gesellschaft legitimieren. Gewalt ist hier kein Relikt der feudalen Gesellschaft, sondern unter den anthropologischen Voraussetzungen, wie Kant den Menschen begreift, die einzige Möglichkeit, Fortschritt herzustellen und Entwicklung voranzutreiben. Wie gesagt, nur an einem Punkt seines Werkes bricht die konservative, auf Bestehendes gerichtete Gewalt heraus und leuchtet als revolutionäre Gewalt auf. Aber diese Gewaltformen haben dieselbe Funktion. Die revolutionäre Gewalt verhilft einem Stück moralischer Anlage zum Durchbruch, und die anderen Formen der Gewalt sind überhaupt lebenserhaltend, damit die Menschen sich nicht totschlagen, damit man eben nicht, wie Thomas Hobbes (1588–1679) befürchtet hat, morgens aufsteht und totgeschlagen wird. Der Hobbes’sche Staat besteht darin, das zu verhindern, wenn auch nicht empirisch, so doch dem Prinzip nach, zumal ja die häufigsten Gewaltverbrechen im engsten Bekannten- und Verwandtenkreis passieren. Aber für dieses Ausschließen der Zerstörung des Menschen, der Gefährdung von Leib und Leben, ist Gewalt nötig und zwar eine zwingende, eine gesetzmäßig zwingende Gewalt. Zudem kombiniert Kant Gewalt mit verschiedenen Dingen: » – Nun kann man sich aber viererlei Kombinationen der letzteren mit den beiden ersteren denken: A. Gesetz und Freiheit ohne Gewalt (Anarchie). [Er klassifiziert das alles, Anm. Negt] B. Gesetz und Gewalt ohne Freiheit (Despotism). C. Gewalt ohne Freiheit und Gesetz (Barbarei). D. Gewalt mit Freiheit und Gesetz (Republik).«73
Zum Begriff der Gewalt bei Kant