Bedingungen reflektiert, unter denen Gesellschaft möglich ist.
Schließlich haben wir gesehen, dass die Natur für Kant nichts Überflüssiges tut, weshalb er davon ausgeht, wo Vernunft angelegt ist, solle sich diese auch ausdrücken. Er ist überzeugt, die Natur schaffe nicht Anlagen, die eine Bestimmung haben, um sie dann verrotten zu lassen. Wenn es eine moralische Anlage gibt, so hat die Natur damit einen Hinweis gegeben, dass sie entfaltet werden soll. Kant sucht jetzt die Mittel für die Entfaltung dieser Anlagen, und er erkennt ein solches im »Antagonism«, in der »ungeselligen Geselligkeit des Menschen«.60 Dieser habe gleichermaßen den Hang, »in Gesellschaft zu treten«,61 wie jenen, sich zu isolieren. Was Kant hier auf einer anthropologischen Ebene ausdrückt, indem er diese Widersprüchlichkeit von Geselligkeit und Ungeselligkeit als Naturtatsache bezeichnet, ist auch eine geschichtliche Sozialisationsstufe, in der sich die Bildung des Individuums vollzogen hat.
Denn Geselligkeit – Kant spricht von einem Bedürfnis nach Geselligkeit, nach Kontakten, nach freundlichem, ja pfleglichem Umgang mit Menschen und Dingen – ist unter den Bedingungen, wie Kant sie vorfindet, nur mit Kosten zu erfüllen. Das heißt, der pflegliche Umgang ist einer, der nicht auf Raubbau gegenüber Menschen und Natur gerichtet, sondern der auf Bewahrung ausgerichtet ist und der auch nicht mit Produktion verbunden ist, mit Aneignung in diesem Sinne. Diesbezüglich betont Kant vielmehr, die Autonomie des Individuums als eines empirischen sei der Besitz. Das Privateigentum sei die Kernzelle des Autonomiebegriffs, sofern es sich um einen empirischen Autonomiebegriff handelt. Das heißt: Ein Bourgeois, wie Kant ihn in der Rechtslehre bezeichnet, ist derjenige, der fähig ist, ohne Hilfe anderer zu leben, auch ohne die eines Staates. Das bedeutet aber, dass der Bourgeois in gewisser Weise Okkupationsrechte hat gegenüber der Realität und gegenüber Menschen: Er hat das Recht, sich wenigstens die Früchte seiner eigenen Arbeit anzueignen.
Nebenbei sei erwähnt, dass Kant hier eine ganze andere Theorie zur Begründung des Eigentums hat als John Locke. Letzterer legimitiert das Eigentum aus der Arbeit,62 Kant sagt hingegen, die Arbeit sei ein Akzidenz des Besitzes. Damit eine Veränderung am Gegenstand, an der Substanz stattfinden kann, sei Eigentum die Voraussetzung: Bevor man einen anderen am Eigentum arbeiten lässt, muss dieses da sein. Kant sieht diese vorgängige Okkupation sehr viel klarer als Locke. Für ihn ist der Besitz die Substanz und die Arbeit die Akzidenz, für Locke ist es umgekehrt. Aber Locke hat in einem anderen Punkt Recht, wo die Eigentumstheorie von Kant noch mit bestimmten feudalen Elementen durchsetzt ist. Locke erkennt nämlich, dass sich in der Tat etwas wie Wert durch Arbeit konstituiert. Er erkennt die Wertsubstanz dessen, was entsteht, während Kant klarer den Vorgang selbst begreift, der sich in Bezug auf Herrschaftsverhältnisse abspielt. Wir haben hier einen subtilen Unterschied zwischen dem amerikanisch-angelsächsischen Liberalen und dem deutschen Gelehrten, der Ersteren rezipiert – Locke wurde von Kant gelesen – und gleichzeitig jene Schwäche erkennt, die darin steckt, wenn man damit auch liberales Eigentum, also Ausbeutung legitimieren will. Kant durchschaut, dass Arbeit eine Formveränderung von Besitz ist. Wenn Eigentum aber das Produkt von Gewalt ist, kann man nur noch daran gehen, diese Gewalt zu legalisieren.
Doch kommen wir zurück zu jenem Antagonismus der »ungeselligen Geselligkeit«, der sich durch die ganze Kantische Geschichtstheorie zieht und ein Instrument zur Entfaltung der Naturanlagen darstellt. Das größte Problem, das aufzulösen die Menschengattung durch die Natur gezwungen wird, ist die Erreichung einer allgemeinen, das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft. Die Natur stößt eigentlich jeden darauf, dass diese Gesellschaft zustande kommen soll und zwar nicht friedfertig, sondern durch Gewalt, durch sehr verschiedene Formen von Gewalt. Warum gibt es diese Gewalt, die Kant in aller Deutlichkeit sieht? Das Abschlachten der Menschen, das kann, laut Kant, nicht völlig sinnlos sein, sonst wäre ein großer Teil der Naturbeziehungen der Menschen und der Menschen selbst als Naturprodukte sinnlos. Das bezeugen jedoch nur jene Keime, welche die Natur in die Menschen legt, um sie zu entwickeln, die Naturanlagen. Was dies für die Anthropologie des Menschen bedeutet, werde ich im Folgenden zu zeigen versuchen.
Zunächst möchte ich aber den Stellenwert des Allgemeinen im Kantischen Werk in Augenschein nehmen. Es zeigt sich nämlich, dass die Produktionsweise der Intelligenz, wenn man so will, wie sie bei Kant vorliegt, auch unter dem Legitimationsdruck stand, sich total zu formalisieren. Die Formalisierung und die Form als das am deutlichsten Ausgewiesene von Erkenntnis ist ein altes aristotelisches Urteil und Vorurteil: Das, was am Allgemeinsten ist, ist das Wahrste; und was Form ist, gilt als Erkenntnis. Es ist festzustellen, dass die großen klassischen Werke »Kritik der reinen Vernunft«, »Kritik der praktischen Vernunft« und »Kritik der Urteilskraft« unter eben diesem Formalisierungszwang der akademischen Existenzweise standen, nur jene Begriffe und Gedanken zuzulassen, die für sich Allgemeinheit beanspruchen können. Die Produkthaftigkeit tritt dabei derart in den Vordergrund, dass jene Prozesse, die zur Formulierung bestimmter Probleme führen, fast vollständig verloren gehen, in die Unterwelt der Fußnoten rutschen oder eben jenen diskriminierten Vorarbeiten und Arbeiten überlassen werden, die es nicht in den Kanon der Philosophie schaffen. Die »Anthropologie« gehört zu diesem Fußnoten-Werk. Im Übrigen wendet Kant diese Fußnotentechnik in der Rechtslehre systematisch an, sodass er im Text nur die allgemeinen Dinge bearbeitet und in den Fußnoten Beispiele liefert. Diese Aufspaltung betrifft das ganze Werk. Ich aber werde gerade diese Marginalien zur Verdeutlichung bestimmter formalisierter Positionen heranziehen, die den Erkenntnisprozess schon gar nicht mehr sichtbar machen. Das gilt insbesondere für die pädagogischen Schriften, für die »Anthropologie« und selbstverständlich für den Nachlass, in dem Vorarbeiten vorliegen, und für weitere kleinere Gelegenheitsschriften.
Was bedeutet nun das Phänomen der Naturanlagen für die »Anthropologie«, für die Entwicklung der Menschen? Kant identifiziert beim Menschen drei spezifische Anlagen, die geschichtlich entwickelt werden sollen und werden können. Das ist zum einen die technische Anlage, zweitens die pragmatische und drittens die moralische. Diese Anlagen sind mit dem Menschen gesetzt, also Naturanlagen. Die Natur hat hier Vermögen in den Menschen hineingesetzt, von denen sie annimmt, dass sie entwickelt werden können, ja entwickelt werden sollen. Die technische Anlage bezieht sich wesentlich auf den Menschen als Werkzeuge produzierendes Tier, »tool-making animal«, wie es Benjamin Franklin (1706–1790) genannt hat. Kant sagt zur Anthropologie, die sich damit befasst:
Die Fragen: ob der Mensch ursprünglich zum vierfüßigen Gange […] oder zum zweifüßigen bestimmt sei, – ob der Gibbon, der Orangutan, der Schimpanse u. a. bestimmt sei […]; – ob er ein Frucht- oder (weil er einen häutigen Magen hat) fleischfressendes Tier sei; – ob, da er weder Klauen noch Fangzähne, folglich (ohne Vernunft) keine Waffen hat, er von Natur ein Raub- oder friedliches Tier sei – – die Beantwortung dieser Fragen hat keine Bedenklichkeit. Allenfalls könnte diese noch aufgeworfen werden: ob er von Natur ein geselliges oder einsiedlerisches und nachbarschaft-scheues Tier sei; wovon das letztere wohl das Wahrscheinlichste ist.63
Diese anthropologische Richtung interessiert Kant nicht so sehr. Er nimmt den Menschen so zur Kenntnis, wie er ist, macht keine Versuche einer teleologischen Naturbetrachtung und fragt also nicht, wofür die Natur Füße und Beine vorgesehen hat. Anders als Lichtenberg, von dem ein überlieferter Witz besagt, die Natur habe es doch so herrlich eingerichtet, gerade da, wo die Katze Augen habe, zwei Löcher im Pelz vorzusehen.64 Die Zweckmäßigkeit der Natur interessiert Kant hier nicht, sondern er stellt wiederholt fest: Der Mensch ist instinktreduziert, er kommt ohne Leitungs- und Steuerungsfunktionen zur Welt und muss irgendwie mit der Umwelt fertig werden. Und Kant sagt weiter, wenn die Natur gewollt hätte, dass er seine Anlagen nicht entfaltet, warum hat sie ihn dann überhaupt erzeugt? Ein so hilfloses Wesen auf die Welt zu setzen, könne nicht im Sinne der Natur gewesen sein, insofern müsse sie gewollt haben, dass er sich entwickelt. Er sagt hier völlig richtig: »Ein erstes Menschenpaar, schon mit völliger Ausbildung, mitten unter Nahrungsmitteln von der Natur hingestellt, wenn ihm nicht zugleich ein Naturinstinkt, der uns doch in unserem jetzigen Naturzustande nicht beiwohnt, zugleich beigegeben worden, läßt sich schwerlich mit der Vorsorge der Natur für die Erhaltung der Art vereinigen.«65
Es findet sich bei Kant die Idee einer bergenden, vorsorgenden Natur, was an mutterrechtliche Vorstellungen erinnert. Die Natur ist etwas, was nicht nur im rationalen Verstande liegt, und sie macht nichts völlig Falsches. Das irgendwo