zwischen Menschen gesorgt, die sich verselbstständigen kann bis hin zu Barbarei und Despotismus. Nun, sagt Kant weiter, hat der Mensch aber gleichzeitig Vernunft, und diese ist fähig, die Gewalt zu einem Mittel zu machen. Vernunft strukturiert Gewalt, sodass der Mensch sie benutzen kann, um etwas ganz anderes, ja das Gegenteil zu erzeugen, Zustände nämlich, in denen Gewalt in dieser Form überflüssig ist. Das ist die Ambivalenz des Gewaltbegriffs bei Kant: Der Krieg kann eine Schlachtbank sein und gleichzeitig die Menschen auf die Vernunft zutreiben, indem durch ihn Friedensverträge, rechtliche Regelungen zustande kommen, die Bedingungen fixieren, unter denen er überflüssig ist.
Im Folgenden möchte ich die Gewaltformen noch etwas differenzieren, wobei ich mich auf ein kurzes Gespräch mit Peter Brückner (1922–1982) beziehe, um das spezifische Moment dieses bürgerlichen Gewaltbegriffs zu verdeutlichen. Ich habe bereits skizziert, dass es zur Ideologie des Bürgertums gehört, von der grundsätzlichen Möglichkeit einer Trennung der gewaltlosen Sphäre von der Sphäre der Gewalt auszugehen. Das findet sich nicht zuletzt im Begriff der Öffentlichkeit wieder: Alles, was im öffentlichen Bereich abläuft, orientiert sich im Grunde am Modell der Parlamentstribüne und der Parlamentsdebatten, die nur in Ausnahmefällen gewaltsam verlaufen. Dieses Modell des Parlaments und des Marktes dient dazu, ganz klare Bereiche abzustecken, in denen eine gewaltlose Kommunikation möglich sein soll und in denen legitime Gewalt auftreten kann, ganz abgesehen von bestimmten Begriffsbildungen bei Max Weber (1864–1920), der den Staat als Monopol legitimer Gewaltanwendung definiert, wobei Legitimität hier nur bedeutet, dass keiner etwas dagegen unternimmt.83 Der Staat hat laut Weber das Gewaltmonopol, weil es keine andere Instanz gibt, die ihn zwingen kann, dieses nicht auszuüben. Wenn das Volk dem staatlichen Befehl nicht mehr folgt – Legitimität ist Folgebereitschaft –, dann herrscht Aufstand oder Revolution: Das Gewaltmonopol wird aufgehoben und ein neues installiert. Auch bei Max Weber findet sich ein Gewaltbegriff, der sehr subtil und fragil und keineswegs so definiert ist, dass sich gewaltsame Menschen von friedfertigen unterscheiden ließen.
Es fragt sich nun, was die bürgerliche Gewalt im Kantischen Sinne auszeichnet gegenüber späteren und vor allem gegenüber feudalen Gewaltformen. Man kann in der Tat behaupten, dass die Gewalt bei Kant insofern eine pädagogische Dimension gewonnen hat, als sie zum Mittel der Erziehung nicht des Einzelnen, sondern eher des Menschengeschlechts insgesamt geworden ist. Im engeren pädagogischen Bereich vertritt Kant keineswegs das Gewaltprinzip, sondern er gehört vermutlich zu denjenigen, die einsehen, dass Lernprozesse nicht mit Gewalt herzustellen sind. Aber Lernprozesse soweit sie die Gattung und die Gesellschaft betreffen, sind ihm nach sehr wohl mit gewaltsamen Mitteln herzustellen. Mit anderen Worten, diese Gewalt, die bei Kant auch etwas Sympathisches an sich hat, dient insoweit einem Zweck, ist zweckbestimmt, als sie tatsächlich die Menschen auf ihre eigenen objektiv notwendigen Lebensformen bringt.
Wie ich davon sprach, dass der Naturbegriff bei Kant einerseits etwas von einem pfleglichen Umgang mit Menschen und Natur hat, etwas Bergendes und Vorsorgendes, so hat auch buchstäblich dieser Gewaltbegriff keineswegs nur etwas menschenfeindliches, sondern ebenfalls etwas menschenfreundliches, indem er moralische Anlagen zum Tragen bringt. Er macht eine moralische Anlage sichtbar, die sich im Alltag des Bürgers nicht mehr zeigt. Die Gewalt bringt die Gattungsanlagen ins Licht der Öffentlichkeit. Darauf jedenfalls deuten Zeichen hin, selbst wenn es sich nicht mit Bestimmtheit sagen lässt. Das heißt, diese Gewalt hat nicht mehr dieses okkupative, aneignende, Mensch und Natur aufzehrende Moment wie Gewalt in vorbürgerlichen Gesellschaften. Während dort Gewalt schlicht mit Raub verknüpft ist, definiert von einer räuberischen Aneignung von Menschen und Natur, existiert bei Kant Gewalt zwar unweigerlich, aber als eine Form der Auseinandersetzung, die auf die Ebene von Vernunft gehoben werden kann und dadurch domestizierbar ist.
Ich glaube, dass die Unbefangenheit, ja Naivität, mit der Kant bestimmte Probleme und Widersprüche der bürgerlichen Gesellschaft analysiert, damit zu tun hat, dass er das Gewaltproblem nicht aus seiner Theorie verdrängt, sondern es so löst, dass er fortan nicht mehr Verhältnisse als gewaltlos legitimieren muss, in denen in Wirklichkeit Gewalt steckt. Das ist sonst in gewisser Weise der fragwürdige Traditionsbestand der gesamten bürgerlichen Theorie, dass sie immer drauf und dran ist, bürgerliche Gesellschaft als gewaltlos zu legitimieren, obwohl sie das nicht ist. Weil Kant hingegen den Gewaltbrocken nimmt, wie er ist, und ihn auch in seiner fortexistierenden positiven Form der bürgerlichen Gesellschaft akzeptiert, kann er sagen, die Verhältnisse, wie sie sein sollen, können nur mit Gewaltmitteln und den Mitteln der Antagonismen, der Widersprüchlichkeit und des Kampfes, hergestellt werden. Es ist hier also ein ideologiekritisches Element enthalten, das vor allem mit dem Gewaltproblem verknüpft ist, weil die Ideologien des Bürgertums von Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit alle versucht hatten, was noch an Gewalt die Freiheitsrechte konstituiert, aus dem Bewusstsein zu verdrängen. Das führte unter anderem dazu, dass Gewalt auf eine bestimmte Ebene transponiert wurde: Die politische Revolution etwa wurde zur industriellen entpolitisiert, und was an Gewaltmäßigkeit und Gewaltförmigkeit in einer politischen Revolution enthalten ist, nur in der noch akzeptierten Form der industriellen Revolution bezeichnet.
Diese Gewalt, die Subjekt einer Gesellschaft ist, hat wenig zu tun mit jener Gewalt, die in der ersten Aussage (A) des Kantischen Schemas als Prädikat auftritt. Letztere Gewalt ist tatsächlich etwas Akzidentielles, weil sie etwas rein Gewalttätiges an sich hat. Was Kant hier unterstellt, sind Gewaltformen, die nicht in sich die Möglichkeit der Vernunft und des Zwecks enthalten, aber als Mittel definiert sind. Sie sind Selbstzwecke oder sie sind Zwecke für Dinge, die nicht zur Autonomisierung des Menschen und der Gattung führen, zu einem höheren Maß an Freiheit und Moralität, sondern schlicht zur Aneignung fremden Eigentums dienen oder zur Ausbeutung. Man könnte hier, das wäre ein sehr interessanter Exkurs, noch die Frage erörtern, in welcher Weise dieser Gewaltbegriff mit jenem Robespierres zusammenhängt. In der Tat ist die revolutionäre Gewalt, wie sie die Jakobiner vertreten haben, eine gewesen, die gegen die korrumpierte Menschheit gerichtet war, gegen den Hang zur Korruption, der dem Menschen innewohnt, was sich etwa in der Behandlung von Georges Danton (1759–1794) zeigte. Der hatte zwar gar gegen die Republik nichts unternommen, aber das war auch nicht mehr notwendig, um geköpft zu werden. Die Verschwörung war zu einem objektiven Vorgang geworden, kein Vorgang subjektiver Vorbereitung von Hoch- und Landesverrat, sondern die Verschwörung war zu einem objektiven Vorgang des Abfallens von revolutionären Zielsetzungen und von revolutionärer Gesinnung geworden. Insofern war in aller Habitualisierung, wie Georg Büchner (1813–1837) sehr schön aufzeigt, die Konterrevolution schon als Banalität enthalten, wie es Isaak Babel (1894–1940) einmal sagte.84 Die drohende Habitualisierung der Französischen Revolution, das heißt das Einstellen auf menschliche Schwäche und Eigentum, war selbst Ausdruck einer Korruption der Natur, der nur mit Gewalt, mit dem Schwert, mit der Guillotine zu begegnen war.
Die bürgerlichen Staatstheorien von Montesquieu und anderen, auch von Rousseau, laborieren an dem Problem der Kontrolle und Domestizierung der Gewalt. Natürlich ließe sich von Montesquieu behaupten, dass er im »Geist der Gesetze« (1748) die Dreiteilung der Gewalten als eine Ratifizierung noch bestehender Gewalten betrachtet, also die exekutive, legislative und judikative Gewalt. Dass die exekutive Gewalt in Deutschland bis zu bestimmten Formen des Außenamtes im Feudalbesitz geblieben ist, ließe sich für heute noch geltend machen, denn nirgendwo gibt es so viele Adlige wie dort, obwohl der Adel als solcher keine gesellschaftliche Bedeutung mehr hat. Jedenfalls aber ist bis in die Weimarer Republik hinein die exekutive Gewalt, was die Personalstruktur anbetrifft, von nicht-bürgerlichen Elementen besetzt. Überhaupt hat das Bürgertum die Exekution seiner Interessen an nicht-bürgerliche Leute übergeben. Da wäre beispielsweise der Großgrundbesitzer Bismarck zu nennen, der im Grunde die bürgerlichen Interessen unter dem Horizont der Verwaltung eines Rittergutes betrieben hat und dabei seine Meriten und Erfolge hatte. Nur konnte der Nachfolger nicht mehr halten, was Bismarck aufgebaut hatte. Im ganzen wilhelminischen Staat ist die exekutive Gewalt eine Restgröße, allerdings eine für das Bürgertum konstitutive Restgröße feudaler Gruppierungen. Es hat in Deutschland keinen einzigen Staatsmann gegeben, der Politik wie ein Unternehmen geführt hätte. Es hat an der Spitze der deutschen Politik nie einen seriösen, zuverlässigen Geschäftsmann und Bürger gegeben. Meist sind es Abenteurer gewesen, die eine Welt von Erlebnissen dargestellt haben, wie sie dem Bürgertum fehlten: Der dritte Napoleon ist nur zur Macht gekommen, weil er den Menschen