Menschen so kaputtmachen, dass es nur noch eine Frage ist, wann das in die physische Existenzgefährdung eingeht –, dass hier tatsächlich mit diesem dolus eventualis gearbeitet worden ist. Dies geschah aber nicht in Hinblick auf die Ermordung eines Häftlings, sondern auf die Herstellung von Bedingungen, sodass auch der Tod eines Häftlings durch Fahrlässigkeit der medizinischen Betreuung, durch Aufseher und so weiter, also durch das ganze Arrangement einer verschärften, auf reine Sicherheitsinteressen abgestellten Haft, in Kauf genommen worden ist.
Man muss darüber reflektieren: Es ist ständig von Mord die Rede, dabei ist das ein sehr gefährliches Wort, und es gehört zur Selbstaufklärung von Sozialisten, dass sie solche Begriffe nicht einfach mechanisch benutzen, weil sie für ihre Identifizierung und für plakative Momente in der Öffentlichkeit gewisse Bedeutung haben. Denn das führt langfristig zur Verschleierung der Zusammenhänge, in denen sie selbst stehen.
Ich glaube, das sind Punkte, die muss man auch mal frei von Identität und Identifizierungszwang erörtern können. Nur dann kann man dieses Phänomen RAF, da würde ich euch in der Tat Recht geben, auch in der historischen Aufarbeitung dieser Konstruktionen verstehen. Im Falle von Ulrike Meinhof (1934–1976) war nicht absehbar, welche Politik sie machen würde. Ich weiß nur, dass sie ein halbes Jahr vorher die Absicht hatte, und ich wollte ihr dabei helfen, ein Suhrkamp-Bändchen mit ihren journalistischen Arbeiten herauszugeben. Sie betrachtete ihre journalistische Arbeit als einen Beitrag für eine neue Form des mit Reportage verbundenen Journalismus. Das hat Ulrike Meinhof, ein halbes Jahr vorher, intensiv betrieben. Politisch ist auch nicht so diskutiert worden, dass man hätte sagen können, hier deutet sich eindeutig eine Tendenz der Illegalisierung an. Das ist einfach nicht wahr. Die Konstellation, auch die persönliche Konstellation dieser Leute, hat zu dem geführt, was Frantz Fanon (1925–1961) in »Die Verdammten dieser Erde« (1961) analysiert hat, nämlich die Tatsache, dass bestimmte Gruppierungen und Einzelpersonen vollendete Tatsachen schaffen wollten, auch politisch schaffen wollten, auf dass sie in die bürgerliche Gesellschaft nicht mehr zurückkehren können, selbst wenn sie wollten. Es ist in der Geschichte vielfach so gewesen, dass tatsächlich Einzelne einen Mord begehen oder wenigstens derart mit dem Gesetz in Konflikt geraten mussten, dass sie keinen Verrat mehr begehen konnten und eine Form von Solidarisierung erzwungen war. Ich will das gar nicht unmittelbar übertragen. Ich meine nur, dass man einmal solche Mechanismen der Identifikation durch Illegalität erläutern muss, wo doch heute Illegalität der Tod jeder sozialistischen Bewegung ist. Denn daran halte ich steif fest: Es kann mir keiner beweisen, dass die Illegalisierung im gegenwärtigen Zeitpunkt in irgendeiner Weise nennenswerten Sinn für die Politik haben könnte. Das wäre eine Katastrophenpolitik.
Es ist auch bezeichnend, dass diejenigen Leute, die mit Entschiedenheit die RAF verteidigen, natürlich keine RAF-Politik machen. Was ich euch vorwerfe, ist viel schlimmer, dass ist die Tatsache, dass ihr überhaupt keine Ahnung von dem habt, was bürgerliche Öffentlichkeit ist, weil ihr an die bürgerliche Öffentlichkeit Ansprüche stellt, die sie von ihrer Struktur her nicht erfüllen kann. Dass die bürgerliche Öffentlichkeit das Antikommunismus-Syndrom in veränderter Gestalt fortexistieren lässt, ist mir bekannt. Da hat sich kaum etwas verändert, was mit der Struktur dieser Öffentlichkeit zusammenhängt. Meine Kritik an euch aber ist, dass ihr die undurchschauten Strukturen dieser Öffentlichkeit als ein Motiv für eure Solidarisierung nehmt. Das ist ein entscheidender Kritikpunkt von mir. Was Menschen betrifft, die unter Opfern zunächst für ihre Ideen oder Konstruktionen eintreten, auch öffentlich eintreten und damit die Repression des Staates in Kauf nehmen, gilt die Ursprungsunterscheidung von Dutschke: Gewalt gegen Sachen ja, Gewalt gegen Personen nein.86 Ob das irgendjemandem schadet, wenn ITT einen Büroraum verliert und erneuern muss? – Natürlich nicht. Erstens sind die versichert, sodass die Behebung des Schadens buchstäblich keinen Schaden darstellt. Wem schadet hier also etwas? Ich will das beantworten mit der Gegenfrage, wem der Schaden nützt. Denn, wenn man hinterher Flugblätter verteilt, die einen Zusammenhang von ITT und Chile-Aktionen des CIA skizzieren, werden diese Flugblätter als mögliche Aufklärung durch den ursprünglichen Akt schon blockiert. Ich halte es schlicht für ausgeschlossen, dass sich dadurch das Interesse auf Chile fokussiert und die Leute den Zusammenhang begreifen. Sie begreifen eher den Zusammenhang, dass Chile nicht die Bundesrepublik ist. Das bedeutet so viel, dass jede solcher Aktionen, es sei denn, es wären Notwehraktionen, insgesamt einer solchen Aufklärung und einer solchen Politik schaden. Dass das nicht weiterführt, habe ich aus der Protestbewegung gelernt.
Ich glaube auch, dass Momenterfolge irgendwelcher Art, in denen man sich sonnt, langfristig großen Schaden anrichten. Wirklich revolutionäre Gewalt ist getragen von der Arbeiterklasse. Andere revolutionäre Gewalt ist einfach nur eine Einbildung. Zudem ist die Bewunderung für existenzielle Entschlüsse mit Opfern der Person ein Stück Romantizismus, mit dem auch die RAF verknüpft ist. Für eine Reihe von Leuten erledigt die RAF das, was sie sich selbst nicht zutrauen. Diese Leute erblicken ihr eigenes Verdrängtes in der Aktivität der RAF. Das bedeutet, dass die geschichtliche Bewunderung für Rechtsbrecher, die tun, was man möchte, aber selbst nicht wagt – ob es nun Robin Hood ist oder ein anderer –, auch das Verhalten gegenüber dieser RAF prägt, nur mit einer Besonderheit: Die traditionellen Rechtsbrecher hatten eine Basis. Ob sie Lebensmittel verteilt haben, ob sie den Reichen etwas weggenommen und den Armen zugesteckt haben, sie konnten manchmal jahrzehntelang untertauchen. Manche Bauerngehöfte in den Vogesen sind Jahrzehnte besetzt gewesen von solchen Räuberhauptleuten, die den Grundbesitzern ihr Eigentum weggenommen und es verteilt haben.
Was hat in diesem Sinne die Bevölkerung von der RAF? Doch gar nichts! Ganz im Gegenteil, es werden nur Ängste und ein bestimmtes faschistisches Potenzial in der Gesellschaft dadurch mobilisiert und durch die bürgerliche Öffentlichkeit in einem ungeheuren Maße verstärkt und umstrukturiert. Auch wenn diese nicht durch die RAF selbst erzeugt werden. Potenziell halte ich zum Beispiel die CSU-Politik für viel gefährlicher, was die Verfassung anbetrifft. Der Faschismus hat sich immer im Zentrum abgespielt, nicht in den Randgruppen. Die Tatsache, dass Intellektuelle, Universitäten, Ärzte und Techniker ihrer ganzen Disposition nach faschistisch waren, einschließlich des Staatsapparats, hat die Möglichkeit des Faschismus als Massenbewegung ausgemacht. Wenn es diese Hilfsleistungen im Zentrum nicht gegeben hätte, wäre der Faschismus zusammengebrochen. Aber das war eine andere Situation, und man muss mal differenzieren, was der traditionelle Faschismus war und was faschistisches Potenzial ist, das sich in bestimmten Wahlen und anderen Zusammenhängen ausdrückt, um begreifen zu können, dass diese aktuelle Politik bereits vorhandene Ängste artikuliert und strukturiert – und ich sage ausdrücklich vorhandene Ängste, denn ich glaube nicht an das gegenseitige Aufschaukeln von Rechts und Links.
Was macht einen Streik aus? Streiks sind Massenaktionen der Arbeiter mit klar definierten Zielen zur Durchsetzung bestimmter Forderungen. Das heißt: Streiks ohne Massen gibt es eigentlich nicht. Was sollte das sein? Ohne Massen lässt sich gar keinen Druck auf die Gesellschaft ausüben. Ein Streik ohne Massen, von nur 10 oder 20 Leuten, verändert nicht die Verhandlungsbedingungen, der verändert gar nichts. Streiks sind per se Massenaktionen, in denen aber nie, selbst nicht im Mai 68, der Gewaltakt gegen Personen und Dingen Strategie ist. Ganz im Gegenteil: Jene Solidarisierungen damals haben sich erst fortgepflanzt über das ganze Land, als eine friedliche Demonstration mit Waffengewalt niedergeschlagen worden ist. Tatsächlich ist die Gewalt von der Arbeiterbewegung immer als eine Gewalt des Systems definiert worden und als Gewaltakt des Systems. Innerhalb der Logik einer Streiksituation, dafür gibt es nun in der Tat viele Beispiele, ist Gewalt als Gegengewalt, die sich ausdrückt gegen Personen, Einschüchterung von Personen, gegen Sachen, eine zufällige Sache, keine strategische Konzeption. Das ist ein entscheidender Unterschied.
Ich habe noch ein Moment vergessen, das mir für sozialistische Politik wichtig zu sein scheint. In der bestehenden Gesellschaft ist für mich sozialistische Politik unter anderem mit einer bestimmten Form der Gegenöffentlichkeit verbunden, also auch der Diskussionsmöglichkeit über bestimmte strategische und taktische Schritte. Wenn diese Diskussionsmöglichkeit abgeschnitten ist, auch aus objektiven Gründen – ich sage nicht, dass die RAF-Leute das nicht mehr wollten, die konnten es nicht mehr –, hat das schwerwiegende Folgen auch für eine Art der Selbsterfahrungskritik, die nicht mehr artikulierbar ist nach außen und damit eigentlich keine Politik mehr ist. Was Selbsterfahrung ist, ist mit Identifikationsprozessen verknüpft, ist mit Selbstbestätigung