vielen gesellschaftlich führenden Positionen und nicht minder selten im Gesundheitswesen anzutreffen ist.
Ihm fielen die Gedichtzeilen des „Trotz alledem“-Gedichts von Freiligrath ein, geschrieben nach der gescheiterten Revolution von 1848:
„…Denn ob der Reichstag sich blamiert
Professorhaft, trotz alledem!
Und ob der Teufel regiert
Mit Huf und Horn und alledem –
Trotz alledem und alledem,
Trotz Dummheit, List und alledem,
Wir wissen doch: die Menschlichkeit
Behält den Sieg trotz alledem!“
Und ihm fielen Dr. Großkotz, Prof. Neunmalklug und Frau Prof. Tausendschön ein, die in unheilig dreifaltiger Einigkeit seine Frau nicht nur auf dem Gewissen, sondern, im wahrsten Sinne des Wortes tatkräftig, Hand an sie gelegt hatten.
Die Stille im Totenzimmer der Palliativstation war unerträglich, schnürte ihm die Kehle zu, hinderte ihn zu schreien. Zu schreien, bis er außer Atem war. Zu schreien, bis sein Gesicht anschwoll, seine Augen rot unterliefen, sein Kopf zu platzen drohte. Hinderte ihn, sein Elend, seine Verzweiflung, seine nicht in Worte zu fassende Not aus sich heraus zu brüllen.
Stattdessen schrie er stumm. Wie Edvard Munch. Der seine eigene Seelenpein in vier nahezu identischen expressionistischen Meisterwerken zum Ausdruck brachte. Und von denen er, Reinhard, vor vielen Jahren eines, soweit er sich erinnern konnte dasjenige, welches Munch 1893 malte und das heute in der Norwegischen Nationalgalerie in Oslo hängt, zum Titelbild seiner Dissertation gewählt hatte.
Schloss sich hier ein Kreis, konnte man den Bogen spannen von dem engagierten jungen Arzt, der sich bereits vor Jahrzehnten mit den nach wie vor tabuisierten Themen von Sterben und Tod beschäftigte, zu dem desillusionierten, gleichwohl weiterhin kämpferischen Chefarzt im vorzeitig-unfreiwilligen Ruhestand, den man zum Teufel gejagt hatte, weil er das Spiel von Profit, Betrug und Lüge nicht mehr mitspielen wollte?
Kälte drang durch das geöffnete Fenster. Der Dezember-Frost sollte das Kühlhaus ersetzen. Schließlich wollte man den Angehörigen „eine schöne Leich“ präsentieren: Hatte man die Tote zu Lebzeiten mit Füßen getreten, bis aufs Blut gequält, so sollte wenigstens jetzt der Mantel des schönen Scheins über sie gebreitet werden. Welche Verlogenheit, welch Heuchelei.
Natürlich durfte in diesem Szenario der Heuchelei der Pastor nicht fehlen. Jedenfalls nicht in einem religionsgebundenen Krankenhaus der erzkatholischen Stadt München. Wo die Uhren langsamer ticken, bisweilen Dekaden der Gegenwart hinterher.
Angewidert verließ Reinhard das Zimmer, als seine Schwiegermutter, diese alte, heuchlerische Betschwester, auf die Knie fiel, um mit dem Geistlichen zusammen um Vergebung für die Sünden der Toten zu beten. Vergebung für die Sünden der Toten? Wer hatte hier gesündigt? Seine verstorbenen Frau gewiss nicht. Allenfalls diejenigen, die sie, die blitzgescheite, hochintelligente Philosophin und Theologin, mit Gewalt aus ihrem Haus ins Universitätsklinikum der Weltstadt mit Herz verschleppt, sie wochenlang in der psychiatrischen Abteilung gefangen gehalten und misshandelt, sie gegen ihren Willen und völlig überflüssig operiert und ihr bei dieser Operation eine sogenannte Krankenhausinfektion gesetzt hatten, weshalb sie in den folgenden Monaten dann mehr als dreißig mal nach-operiert wurde, bis sie elendiglich verstarb.
Reinhard musste an den mittelalterlichen Hymnus vom Jüngsten Gericht denken, Ursprung des Requiem, Grundlage zahlloser literarischer Verarbeitungen und musikalischer Vertonungen:
„Dies irae dies illa Tag der Rache, Tag der Sünden,
Solvet saeclum in favilla: Wird das Weltall sich entzünden,
Teste David cum Sibylla. wie Sibyll und David künden.
Quantus tremor est futurus, Welch ein Graus wird sein und Zagen,
Quando iudex est venturus, Wenn der Richter kommt, mit Fragen Cuncta stricte discussurus! Streng zu prüfen alle Klagen!
Liber scriptus proferetur, Und ein Buch wird aufgeschlagen,
In quo totum continetur, Treu darin ist eingetragen
Unde mundus iudicetur. Jede Schuld aus Erdentagen.
Iudex ergo cum sedebit, Sitzt der Richter dann zu richten,
Quidquid latet apparebit: Wird sich das Verborgne lichten:
Nil inultum remanebit. Nichts kann vor der Strafe flüchten.“
„Verstarb“ ist eine euphemistische Formulierung; man ließ seine Frau schlichtweg verrecken. Auch, indem man ihr nach einiger Zeit die kostenintensive Behandlung der Schäden, die man selbst verursacht hatte, verweigerte. Denn selbstverständlich unterliegen Krankenhäuser, unterliegt auch das sog. Gesundheits-, besser, genauer: Krankheits(verwaltungs)-Wesen der Kosten-Nutzen-Relation, die in unserer gesamten Gesellschaft gilt: „Es ist doch besser, wenn Sie sterben“, hatte ihr ein junger, nassforscher Oberarzt gesagt, „ihr Leben hat doch keinen Wert mehr“.
Wert hat offensichtliche nur, was sich in Mark und Pfennig, in Euro und Cent belegen, rechnen lässt.
So stand Reinhard nun am Totenbett seiner über alles geliebten Frau. Und ihm fiel das Brechtsche Gedicht „An die Nachgeborenen“ ein: „In Zeiten [„und diese Zeiten sind seit Anbeginn unserer Zivilisation und Kultur“, dachte Reinhard], wo ein Gespräch über Bäume fast ein Verbrechen ist, weil es ein Schweigen über so viele Untaten einschließt“, kann Kunst niemals l’art pour l’art sein. So dachte er. Vielmehr muss sie, die Kunst, Hoffnungen und Wünsche, Sehnsüchte und Ängste ausdrücken, muss sie mit der Kettensäge die Verzweiflung des Geistes, mit dem Pinselstrich die Narben der Seele zum Ausdruck bringen. Wie also könnte der Künstler sein, der nie wirklich Zweifel und Verzweiflung gespürt hat? Wie kann Kunst entstehen ohne Leid? Wie viel Leid indes kann der Künstler, kann der Mensch schlechthin ertragen?
Fragen über Fragen.
WER IST VER-RÜCKT?
sich finden ein versprechen für
immer glück mit den schatten
des lebens wachsend blasses
abbild eines traums
und doch ein
geschenk
Die Wände des Zimmers kamen näher und näher, bebend, schwankend, taumelnd. In der Ferne ertönte Musik, Maria konnte nur einzelne Fetzen erkennen und glaubte, eine Sequenz aus Mozarts Requiem zu hören: „Dies irae, dies illa … solvet saeclum in favilla.“ Fratzen, grell und bunt, mit grotesk verzerrten Zügen, die sie gleichwohl an Prof. Neunmalklug und Frau Prof. Tausendschön erinnerten, drangen aus allen Richtungen auf sie ein und verschwanden ebenso schnell, wie sie gekommen waren. Grellbunte Kreise und neonfarbene Spiralen tauchten die Zimmerwände in ein gespenstisches Licht. Über ihre Arme krabbelte Ungeziefer und verbiss sich in ihrer Haut. Ihr Kopf war leer, ihre Gedanken waren aus Watte und ihre Arme und Beine aus Gummi; sie konnte sich weder bewegen noch einen halbwegs klaren Gedanken fassen, war eingeschlossen, weggesperrt in sich selbst. Schreien wollte sie, brüllen oder auch nur jaulen oder winseln, jedoch erstickte jeder Ton in ihrer Kehle. Immer größer wurde die Angst, die in ihr hoch kroch, sich mehr und mehr ausbreitete, die sich wie ein Reif um ihre Brust legte, die sie hinderte zu atmen und sie nachgerade erstickte. Ihre Panik wuchs ins Unermessliche. Plötzlich entrang sich doch ein Schrei ihrer Kehle: laut, durchdringend, aus Verzweiflung bebend.
Maria wachte auf. Und nahm mit Bestürzung wahr, dass sie in einem fremden Bett und in einem fremden Zimmer lag. An Armen und Beine gefesselt, einen Schlauch im Hals und eine Kanüle in der Luftröhre. Langsam dämmerte die Erinnerung an das, was in den letzten Tagen geschehen war:
Sie saßen am Kaffeetisch, es war ein schöner Tag im Juni. Marias Mutter war zu Besuch, sie freute sich, dass ihre Tochter wieder wohlauf und von ihrer Krebserkrankung weitgehend genesen war. Auch Reinhard