Unwirsch erhob sich Reinhard und ging zur Tür.
„Aufmachen! Polizei!“, schrie es von draußen. Völlig irritiert öffnete er die Tür. Und erhielt unversehens einen Schlag gegen die Brust, so dass er rückwärts taumelte. Grün-Uniformierte, an der Aufschrift auf ihren Jacken als Polizei erkennbar, damit man sie nicht mit einem Rollkommando verwechsele, stürmten ins Haus, ihnen folgte ein Milchbart, dessen Wichtigkeit daran zu erkennen war, dass er die Aufschrift „Notarzt“ trug, zwei kräftige Bauernburschen, dem Anschein nach nicht bösartig, eher einfältig und ebenso dreinblickend, folgten ihm; sie waren als Sanitäter zu identifizieren.
„Was ist hier los? Was geht hier vor?“ presste Reinhard heraus, weil ihm der Stoß gegen die Brust noch immer den Atem nahm. „Wir bringen Ihre Frau in die Klinik“, kam kurz und knapp die Antwort. „Das muss ein Irrtum sein. Meine Frau will nicht in die Klinik. Warum auch. Sie ist nicht, jedenfalls nicht mehr krank. Außerdem bin ich selbst Arzt.“ „Wir haben den Auftrag, Ihre Frau in die Klinik zu bringen.“ „Wer hat sie beauftragt? Mit welchen Recht?“ „Dazu sagen wir nichts.“ „Haben Sie irgendeinen richterlichen Beschluss?“ „Brauchen wir nicht.“ „Wieso nicht?“ „Gefahr im Verzug.“ „Welche Gefahr? Welcher Verzug?“ „Halten Sie endlich die Fresse.“
Es war nicht zum ersten Mal, dass sich die Hüter von Recht und Ordnung gewaltsam bei Reinhard Einlass verschafften. Einige Jahre zuvor hatten das Bundeskriminalamt und mehrere Landeskriminalämter zwei Hundertschaften losgeschickt, um seine Klinik, die Zentralen seiner Firmen und private Wohnsitze auf den Kopf zu stellen. Wegen vermeintlichen Abrechnungsbetrugs, wegen angeblicher Rezeptfälschungen, wegen geradezu irrwitzig behaupteter Drogenschiebereien.
Wie die Vandalen waren die Hüter staatlicher Gewalt eingefallen – der Vergleich sei gestattet, ohne die Vandalen beleidigen zu wollen. Keinen Stein hatten sie auf dem anderen gelassen, mit Transportern hatten sie die beschlagnahmten Unterlagen weggeschafft. Nur wenige Stunden später wurden Reinhards angebliche Missetaten im Radio publik gemacht; entsprechende Informationen waren den Medien offensichtlich durch Polizei und Staatsanwaltschaft zugespielt worden. Kein Hund hätte in der Kleinstadt, in der Reinhard damals lebte, anschließend noch ein Stück Brot von ihm genommen.
Anlass des martialischen Großeinsatzes waren falsche eidesstattliche Versichrungen von Dr. G. Großkotz, zuvor Geschäftspartner von Reinhard, dann, aufgrund geschäftlicher und privater Zerwürfnisse, dessen, Reinhards, Todfeind.
Ursache des Haberfeldtreibens gegen Reinhard waren jedoch dessen Auseinandersetzungen mit der Kassenärztlichen Vereinigung und mit der Ärztekammer.
Auseinandersetzungen deshalb, weil Reinhard bedürftige Patienten, auch aus dem angrenzenden Ausland, umsonst behandelte. Auseinandersetzungen, weil Reinhard in seiner Klinik Organisationsstrukturen geschaffen hatte, die deutlich werden ließen, wie viel Geld im Gesundheitswesen zum Fenster hinausgeworfen wird. Auseinandersetzungen, weil Reinhard seine Patienten besser und gleichzeitig kostengünstiger behandelte als seine Kollegen. Was indessen nicht deren Anerkennung, vielmehr ihren Neid und ihre Missgunst zur Folge hatte.
Fast überflüssig zu erwähnen, dass die mehr als zehn Strafverfahren, die gegen Reinhard dann eingeleitet worden waren, nach fast zehn Jahren eingestellt wurden.
Zu Lasten der Staatskasse. Nachdem die fleißigen Ermittler fast fünfzigtausend Seiten Ermittlungsergebnisse zusammengetragen hatten. Nachdem Verfahren eingestellt und wieder eröffnet, nachdem Hauptverhandlungstermine anberaumt und wieder aufgehoben worden waren. Nachdem Reinhard ein halbes Dutzend Anwälte beauftragt und wieder entlassen hatte. Weil deren vornehmliche Tugend darin bestand, für ein horrendes Honorar möglichst wenig zu leisten. Nachdem die Banken all seine Kredite gekündigt und ihn in den Ruin getrieben hatten. Und zwar aufgrund weiterer eidesstattlicher Versicherungen seiner Todfeindes Dr. Großkotz. Eidesstattlicher Versicherungen, die sich im Nachhinein als erwiesenermaßen falsch herausstellten.
Weshalb Großkotz indes nie verurteilt wurde. Denn er stand „auf der richtigen Seite“. Wie die Staatsanwältin, die im Ermittlungsverfahren gegen das Recht verstieß. Was der zuständige Leitende Oberstaatsanwalt bestätigte. Ohne jedoch ein Verfahren wegen dieser Rechtsverstöße einzuleiten. Denn die Staatsanwältin habe nicht gewusst, was sie tat, Rechtsbeugung indes setze Vorsatz, bewusstes Handeln wider besseres Wissen voraus.
Dann aber, mit Verlaub, hätte man die treue Staatsdienerin wegen Unzurechnungsfähigkeit aus dem Verkehr ziehen müssen. Was freilich nicht geschah.
„Vor Feuer- und Wassersnot behüt´ uns, lieber Herre Gott“, heißt es in einem alten Kirchenlied, das Reinhard einfiel. Und vor Juristen wie diesen, dachte er.
All dies schoss ihm durch den Kopf, als seine Freunde und Helfer nun erneut bei ihm eindrangen. Wie vor nicht allzu langer Zeit, als sie sich wie Schwerkriminelle Zugang zu seinem Haus verschafft hatten. Weshalb Reinhards und Marias Anwalt mit folgender Beschwerde protestierte:
„…Rechtsanwaltskanzlei…
Vorab per Telefax…
Amtsgericht M.
…
DRINGEND! BITTE SOFORT VORLEGEN!
…
Beschwerde
… drangen am Montag, den 10.08.20..., gegen 8:00 Uhr morgens, bewaffnete Unbekannte auf das Grundstück und in Räume … im … S... (in) I. a. A. ein. Sie hatten sich in das o.g. Anwesen gewaltsam Zugang verschafft. Später konnte deren Identität [die der Eindringlinge] als Herr T… F…, Polizeiobermeister, ... Polizeiinspektion H. in ... Begleitung weiterer Polizeibeamter … festgestellt werden …
Aufgrund der Abgeschiedenheit des Wohnhauses, am Ende der Straße am Wald gelegen, ging Frau Dr. H… von einem Einbruch aus. Sie befand sich allein im Haus … Als sie in ihrem Treppenhaus einen Mann vorfand, der ... nicht als Polizeibeamter zu erkennen war, fing sie an, um ihr Leben ... zu schreien…
Der Mann trug weder Polizeidienstkleidung noch mit Polizeischrift versehene Einsatzkleidung, [vielmehr] Zivilkleidung, und befand sich mit im Anschlag befindlicher und ungesicherter Kurzwaffe im ... Treppenhaus ... Hinweise für einen notwendigen Waffeneinsatz sind weder … noch … zu entnehmen…
Die mit dem Waffeneinsatz einhergehende Lebensgefahr für die unbewaffnete Fr. Dr. H… bedarf keiner weiteren Erörterung …
Die Schwere des Eingriffs [vom Einbruch bis zur konkreten Lebensgefahr durch Schusswaffeneinsatz] steht außerhalb jeglichen Verhältnisses …
… Rechtsanwaltskanzlei,
durch
…
Rechtsanwalt
Fachanwalt für…“
Das angerufene Gericht verwarf die Beschwerde. Ohne jegliche Begründung. Mit einem einzigen, lapidaren Satz: „Der Beschwerde wird nicht abgeholfen.“
Noch im Sterben schrie Maria um Hilfe; „nicht schießen, nicht schießen“, waren die letzten Worte, die Reinhard von ihr hörte. „Nicht schießen, nicht schießen!“
Auf die Frage, warum der Einsatz überhaupt erfolgt war, hatte Polizeiobermeister Dummstark – so will ich ihn nennen – seinerzeit geantwortet: „Wir müssen doch ´mal nachschauen, welche Unterlagen Sie verstecken.“ Von welchen Unterlagen sprach er?
Nachdem Reinhards Klinik geschlossen, seine Firmen in die Pleite getrieben, sein gesamter Besitz verschachert worden war, nachdem er sein gesamtes Vermögen infolge der zuvor angesprochenen Ereignisse verloren hatte und er völlig mittellos war, versuchte er – teils der Not gehorchend, teils der Überzeugung folgend, nichts sei so schlecht, als dass es nicht auch für etwas gut sei –, seinem Leben eine neue Ausrichtung, neuen Sinn und Inhalt zu geben.
Schon zuvor hatte er eine Reihe von Krebskranken mit nicht-schulmedizinischen Methoden geheilt. Ohne indes genau zu verstehen, wie solch alternativen Methoden wirken. Diese Wirkung zu verstehen, wissenschaftlich-stringent