Die (d.i. Mira Alfassa) Mutter

Wahrheit und Falschheit


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seine Bewusstseinsmächte abstufen und verändern zu können und entsprechend dieser Abstufung oder Veränderung die Welt, den Grad und das Ausmaß seiner Selbstenthüllung zu bestimmen. Die manifestierte Schöpfung ist durch diejenige Bewusstseinsmacht, der sie angehört, begrenzt, und sie erkennt und lebt ihr entsprechend; sie vermag erst dann mehr zu erkennen, machtvoller zu leben, ihre Welt zu verändern, wenn sie sich einer größeren Bewusstseins-Macht darüber öffnet, ihr entgegenstrebt oder sie zum Herabkommen bewegt. Dies aber findet in der Bewusstseins-Evolution unserer Welt statt, nämlich dass eine Welt unbelebter Materie unter dem Druck dieser Notwendigkeit eine Macht des Lebens, eine Macht des Mentals hervorbringt, die neue Schöpfungsformen in diese einbringen und schließlich dahingehend wirken, eine supramentale Macht zur Herabkunft zu bewegen. Darüber hinaus wirkt eine schöpferische Kraft zwischen zwei Bewusstseinspolen. Einerseits besteht zuinnerst und darüber ein geheimes Bewusstsein, das alle Möglichkeiten in sich birgt – dort ewig manifest, hier noch der Befreiung harrend –, ein Bewusstsein des Lichts, des Friedens, der Macht und Glückseligkeit. Auf der anderen Seite gibt es noch ein anderes, ein äußeres an der Oberfläche und unter uns, das vom scheinbaren Gegenteil ausgeht, von der Unbewusstheit und Trägheit, von blinder Kraft und der Möglichkeit des Leidens, und dieses wächst, indem es in sich immer höhere Mächte aufnimmt, die seine Manifestation in immer größeren Ausdrucksformen erstehen lassen. Jede Neu-Schöpfung dieser Art lässt einen Teil der inneren Macht in Erscheinung treten und ermöglicht hierdurch die Herabkunft der darüber wartenden Vollkommenheit mehr und mehr. Solange die äußere Persönlichkeit, mit der wir uns identifizieren, in den niederen Bewusstseins-Mächten zentriert ist, ist ihr das Rätsel ihres eigenen Daseins, ihres Zwecks, ihrer Notwendigkeit ein unlösbares Mysterium; wenn diesem äußeren mentalen Menschen überhaupt ein Stück der Wahrheit vermittelt wird, erfasst er sie nur unvollkommen, er missdeutet und missbraucht sie vielleicht und lebt ihrer nicht gemäß. Sein eigentlicher Wanderstab besteht eher aus dem Feuer des Glaubens als aus einem erlebten und nicht zu bezweifelnden Licht der Erkenntnis. Nur indem er sich in ein höheres Bewusstsein erhebt, jenseits der mentalen Grenze, das ihm daher zur Zeit noch überbewusst ist, kann er aus seiner Unfähigkeit und Unwissenheit auftauchen. Seine volle Befreiung und Erleuchtung wird kommen, wenn er die Grenzlinie überschreitet und in das Licht eines neuen, überbewussten Daseins eintritt. Das ist die Transzendenz, die das Ziel der Mystiker und spirituell Suchenden ist.

      Doch an der Schöpfung würde dies an sich nichts ändern. Das Entweichen einer befreiten Seele aus der Welt verändert diese Welt nicht. Doch wenn das überschreiten der Grenzlinie nicht nur einem Aufsteigen, sondern auch einer Herabkunft zugewandt wäre, bedeutete dies die Umwandlung der Linie von dem, was sie jetzt ist, ein Lid, eine Barriere, in einen Durchgang für die höheren Bewusstseinsmächte des absoluten Seins, die sich jetzt noch über ihr befinden. Es würde eine neue Manifestation auf Erden bedeuten, ein Einbringen höchster Mächte, die die Grundbedingungen hier völlig umkehrten, und zwar derart, dass dies eine Schöpfung hervorbrächte, die in die volle Flut spirituellen und supramentalen Lichtes erhoben wäre, an Stelle einer, die sich in das Halblicht des Mentals aus der Finsternis stofflicher Nichtbewusstheit erhebt. Nur in solchem vollen Licht des verwirklichten Geistes könnte das verkörperte Wesen die Bedeutung und zeitweilige Notwendigkeit seines Herabstiegs in die Finsternis und deren Bedingungen erkennen – und alles, was damit verbunden ist – und diese gleichzeitig auflösen und lichthaft verwandeln in eine Erdmanifestation des befreiten und nicht mehr des verhüllten und verborgenen oder scheinbar entstellten Göttlichen.

      * * *

Teil I
Sri Aurobindo und die Mutter

      Sri Aurobindo und die Mutter

      Die Göttliche Wahrheit ist größer als irgendeine Religion oder ein Glaubensbekenntnis oder eine Schrift oder Idee oder Philosophie – du darfst dich an keines dieser Dinge binden. — Sri Aurobindo

      Wer aufrichtig der Wahrheit dienen will, wird die Wahrheit erkennen. — Die Mutter

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      Kapitel 1

      Was ist die Wahrheit?

      Worte der Mutter

      Es gibt nur eine Wahrheit, so wie nur ein einziges Göttliches gibt.

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      Worte der Mutter

      Die Wahrheit ist nicht linear, sondern global; sie ist nicht aufeinanderfolgend, sondern simultan. Darum kann sie nicht in Worte gefasst werden: sie muss gelebt werden.

      *

      Worte der Mutter

      Was ist die Wahrheit? Was meinst du, wenn du von „der Wahrheit“ sprichst?

      Du möchtest eine mentale Definition der Wahrheit. Die Wahrheit kann nicht in mentalen Begriffen ausgedrückt werden. Ja, so ist es. Und alle Fragen, die gestellt werden, sind mentale Fragen.

      Die Wahrheit kann nicht formuliert werden, sie kann nicht definiert werden – sie muss gelebt werden.

      Und derjenige, der ganz und gar der Wahrheit geweiht ist, der die Wahrheit leben will, der Wahrheit dienen will, wird in jedem Moment wissen, was zu tun ist: es wird eine Art Intuition oder Offenbarung sein (meistens ohne Worte, doch manchmal auch in Worte gefasst), die einen in jeder Minute wissen lässt, was die Wahrheit dieser Minute ist. Und das macht es so interessant. Du willst „die Wahrheit“ als etwas gut Definiertes, gut Klassifiziertes, gut Begründetes erkennen, und danach ruhst du dich aus: Es gibt keinen Grund mehr, weiter zu suchen! Du greifst sie auf und sagst: „Hier, dies ist die Wahrheit“, und dann wird sie festgelegt. So haben es alle Religionen getan. Sie haben ihre Wahrheit als Dogma festgeschrieben. Aber es ist nicht mehr die Wahrheit.

      Die Wahrheit ist etwas Lebendiges, das sich bewegt, sich ausdrückt in jeder Sekunde, und sie ist ein Weg, sich dem Höchsten zu nähern. Jeder hat seinen eigenen Weg, sich dem Höchsten zu nähern. Vielleicht gibt es einige, die sich ihm von allen Seiten zugleich nähern können, doch da sind jene, die sich durch Liebe nähern, jene, die sich durch Macht nähern, jene, die sich durch Bewusstsein nähern und diejenigen, die sich durch die Wahrheit nähern. Doch jeder dieser Aspekte ist so absolut, imperativ und undefinierbar wie der höchste Herr selbst. Der höchste Herr ist absolut, imperativ und undefinierbar, nicht greifbar in seinem Handeln, und seine Eigenschaften besitzen diese gleiche Qualität.

      Wenn man das einmal weiß, wird der, der sich in den Dienst einer dieser Aspekte stellt, wissen (es ist im Leben, in der Zeit, in der Bewegung der Zeit ausgedrückt), er wird in jedem Augenblick wissen, was Wahrheit ist, und wird in jeder Minute wissen, was Macht ist, und er wird in jeder Minute wissen, was Liebe ist. Und es ist eine vielfältige Macht, Liebe, Wahrheit, ein vielfältiges Bewusstsein, das sich auf unzählige Weise offenbart, so wie sich der Herr selbst auf unzählige Weise in der Schöpfung offenbart.

      *

      Worte der Mutter

      Intellektuell gesehen ist die Wahrheit der Punkt, in dem sich alle Gegensätze treffen und zusammenschließen, um eine Einheit zu bilden.

      Praktisch gesehen ist die Wahrheit die Hingabe des Ego, um die Geburt und Offenbarung des Göttlichen zu ermöglichen.

      Zweifel ist die beste Waffe, die das Ego benutzt, um sich vor der Auslöschung zu schützen.

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      Worte der Mutter

      Um die Wahrheit zu erkennen, solltest du ohne Vorlieben und Begehren sein, und strebst du nach der Wahrheit, muss dein Mental still sein.

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      Kapitel 2

      Die