Die (d.i. Mira Alfassa) Mutter

Yoga und die Zukunft der Menschheit


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      Kapitel 1

      Die Psychologie des Yoga

      Yoga ist keine moderne Erfindung des menschlichen Geistes, sondern unser urzeitlicher und prähistorischer Besitz. Der Veda ist unser ältestes erhalten gebliebenes menschliches Dokument, und der Veda ist von einem Gesichtspunkt aus gesehen eine großartige Zusammenstellung praktischer Hinweise über Yoga. Alle Religion ist eine Blume, deren Wurzel der Yoga ist; alle Philosophie, Poesie und die Werke des Genies benutzen ihn, bewusst oder unbewusst, als ein Instrument. Wir glauben, dass Gott die Welt durch Yoga erschaffen hat und durch Yoga wird Er sie wieder in sich hineinziehen. Yogah prabhavapyayau, Yoga ist die Geburt und das Vergehen von Dingen. Wenn Srikrishna Arjuna die Größe Seiner Schöpfung offenbart und die Art und Weise, wie Er sie aus Seinem Wesen heraus durch eine Versöhnung logischer Gegensätze aufgebaut hat, sagt Er: „Pasya me yogam aishwaram“, – „Sieh Meinen göttlichen Yoga.“ Wenn wir das Wort „Yoga“ verwenden oder es hören, denken wir an das System von Patanjali, an rhythmische Atmung, an spezielle Sitzweisen, an Konzentration, an die Trance des Adepten. Aber das sind nur Einzelheiten bestimmter Systeme. Die Systeme sind aber nicht die Sache selbst, genauso wenig wie das Wasser eines Bewässerungskanals der Ganges ist. Yoga kann ohne den geringsten Gedanken an die Atmung, in jeder oder keiner Haltung, ohne jegliches Beharren auf Konzentration, im vollen Wachzustand, beim Gehen, Arbeiten, Essen, Trinken, im Gespräch mit anderen, in jeder Beschäftigung, im Schlaf, im Traum, in Zuständen der Bewusstlosigkeit, des Halbbewusstseins, des Doppelbewusstseins getan werden. Es ist kein Patentrezept oder starres System oder festgelegte Praxis, sondern eine ewige Tatsache des Prozesses, die auf der Natur des Universums selbst beruht.

      Trotzdem kann der Begriff „Yoga“ in der Praxis auf besondere, klar umgrenzte Zwecke auf gewisse Anwendungen des allgemeinen Vorgangs eingeschränkt werden. Yoga fußt wesenhaft auf der Tatsache, dass wir in dieser Welt überall eins und doch getrennt sind; eins und doch getrennt in unserem Wesen, eins mit und doch getrennt von unseren Mitgeschöpfen aller Art, eins und doch getrennt von der unendlichen Existenz, die wir Gott, Natur oder Brahman nennen. Ganz allgemein ist Yoga das Vermögen, das der Seele in einem Körper zu eigen ist, um mit anderen Seelen in eine wirksame Beziehung zu treten, mit Teilen ihrer selbst hinter dem Wachbewusstsein, mit Naturkräften und Objekten in der Natur, mit der Höchsten Intelligenz, Macht und Glückseligkeit, die die Welt lenkt, entweder um dieser Vereinigung willen oder um unser manifestes Wesen, unser Wissen, unsere Fähigkeit, Kraft oder Freude zu mehren oder zu wandeln. Jedes System, das unser inneres Wesen und unser äußeres Gefüge für diese Ziele gestaltet, kann ein Yoga-System genannt werden.

      * * *

      Kapitel 2

      Das Ziel unseres Yoga

      Das Ziel unseres Yoga ist Selbst-Vollendung, nicht Selbst-Auslöschung.

      Zwei Pfade bieten sich den Schritten des Yogin, Rückzug aus dem Universum und Vollendung im Universum. Das erste Ziel wird durch Askese erreicht, das zweite durch Tapasya. Das erste nimmt uns auf, wenn wir Gott im Sein verlieren; das zweite wird erlangt, wenn wir unser Sein in Gott erfüllen. Lasst unseren Pfad den der Vollendung und nicht den der Preisgabe sein. Lasst den Sieg in der Schlacht und nicht die Flucht vor allen Konflikten unser Ziel sein.

      Buddha und Shankara nahmen an, die Welt sei von Grund auf falsch und elendig. Deshalb war für sie die Flucht aus der Welt die einzige Weisheit. Aber diese Welt ist Brahman, die Welt ist Gott, die Welt ist Satyam, die Welt ist Ananda. Falsch ist bloß die Fehldeutung der Welt durch unseren mentalen Egoismus; das einzige Elend ist unsere verkehrte Beziehung zu Gott in der Welt. Es gibt sonst nichts Falsches und nichts, dass Anlass gäbe zu klagen.

      Gott erschuf die Welt in Sich durch Maya; die ursprüngliche, vedische Bedeutung von Maya ist jedoch nicht Illusion, sondern Weisheit, Erkenntnis, Vermögen, weite Ausdehnung des Bewusstseins. Prajna prasrta purani. Eine Allmächtige Weisheit erschuf die Welt; sie ist nicht der organisierte Missgriff eines Unendlichen Träumers. Eine allwissende Macht manifestiert sie oder hält sie in Sich oder Ihrer eigenen Wonne verborgen; sie ist keine dem freien und absoluten Brahman durch Seine eigene Unwissenheit auferlegte Fessel.

      Wäre die Welt ein selbstauferlegter Alptraum Brahmans, so wäre es das natürliche und einzige Ziel unseres höchsten Strebens, daraus zu erwachen. Wäre das Leben in der Welt unwiderruflich mit Elend verbunden, dann wäre das einzige entdeckenswerte Geheimnis ein Mittel zur Flucht aus dieser Knechtschaft. Vollkommene Wahrheit im Weltdasein ist jedoch möglich, denn Gott sieht hier alle Dinge mit den Augen der Wahrheit. Vollendete Seligkeit in der Welt ist möglich, denn Gott freut sich aller Dinge im Bewusstsein unbeeinträchtigter Freiheit. Auch wir können uns dieser Wahrheit und Seligkeit erfreuen, die im Veda amrtam, Unsterblichkeit, genannt wird, wenn wir unser egoistisches Dasein abwerfen und aufgehen in vollkommener Einheit mit Seinem Wesen und somit einwilligen, die göttliche Wahrnehmung und die göttliche Freiheit zu empfangen.

      Die Welt ist eine Bewegung Gottes in Seinem eigenen Sein. Wir sind die Zentren und Knotenpunkte des göttlichen Bewusstseins, die den Ablauf Seiner Bewegung zusammenfassen und tragen. Die Welt ist Sein Spiel mit Seiner eigenen selbstbewussten Freude – das Spiel dessen, der allein ist, der unendlich ist, frei und vollkommen. Wir sind die Selbstvervielfältigungen dieser bewussten Freude, die ins Sein ausgesandt wurden, um Seine Spielgefährten zu sein. Die Welt ist eine Formel, ein Rhythmus, ein System von Symbolen, durch das Gott Sich selbst Seinem eigenen Bewusstsein gegenüber zum Ausdruck bringt. Sie hat kein materielles Dasein, sondern existiert nur in Seinem Bewusstsein und als Sein Selbstausdruck. Gleich Ihm sind wir in unserem inneren Wesen Das, was zum Ausdruck kommt; in unserem äußeren Wesen aber sind wir Glieder jener Formel, Noten aus jenem Rhythmus, Symbole jenes Systems. Lasst uns Gottes Bewegung weiterführen, Sein Spiel zu Ende spielen, Seine Formel ausarbeiten, Seine Harmonie ausführen, Ihn durch uns in Seinem System zum Ausdruck bringen. Dies ist unsere Freude und unsere Erfüllung. Zu diesem Zweck sind wir, die wir über das Universum hinausreichen und es transzendieren, in die kosmische Existenz eingetreten.

      Vollkommenheit gilt es zu erlangen, Harmonie zu verwirklichen. Unvollkommenheit, Begrenzung. Tod, Kummer, Unwissen, Materie sind nur die ersten Glieder der Formel – unverständlich bis wir die weiteren Glieder ausgearbeitet und die Formel neu interpretiert haben. Sie sind die anfänglichen Dissonanzen beim Stimmen der Instrumente. Aus Unvollkommenem müssen wir Vollendetes formen, aus Begrenzung die Unendlichkeit enthüllen, aus dem Tod heraus die Unsterblichkeit finden, aus Kummer die göttliche Seligkeit zurückgewinnen, aus Unwissen das göttliche Selbst-Wissen befreien, aus der Materie den Geist offenbaren. Dieses Ziel für uns und für die gesamte Menschheit zu erreichen ist das Anliegen unseres Yoga.

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      Kapitel 3

      Das evolutionäre Ziel im Yoga

      In der Katha Upanishad kommt einer dieser machtvollen und prägnanten Sätze vor, die auf kleinstem Wortraum eine Welt an Bedeutung enthalten und mit denen die Upanishaden so reich besät sind: Denn Yoga ist der Anfang und das Ende aller Dinge – yogah hi prabhavapayayau. In den Puranas wird die Bedeutung dieses Satzes unterstrichen und deutlicher herausgearbeitet: Durch Yoga schuf Gott die Welt, durch Yoga wird Er sie am Ende wieder in Sich zurücknehmen. Aber nicht nur die ursprüngliche Schöpfung und die endgültige Auflösung des Weltalls, sondern alle großen Veränderungen, alle Schöpfungen, Entfaltungen und Zerstörungen werden durch den zentralen Prozess des Yoga, tapasya, bewirkt. In dieser uralten Betrachtungsweise stellt sich Yoga dar als die effektive, vielleicht sogar als die essenzielle und eigentlich ausführende Bewegung der Natur in all ihren Prozessen. Falls dies für das allgemeine Wirken der Natur zutrifft, das heißt falls ein göttliches Wissen und ein göttlicher Wille in den Dingen dadurch zur wahren Ursache aller Kraft und Wirksamkeit wird, dass er zu Objekten in Beziehung tritt, sollte die gleiche Regel auch für das menschliche Handeln gelten. Sie sollte insbesondere für alle bewussten und willentlich angewandten Methoden jener psychologischen Disziplinen gelten, die wir Yoga-Systeme