eigenen Wunsch.«
»Trotzdem allerhand.« Stahnke drehte sich auf seinem Stuhl zum Fenster hin, wandte dem hektischen Getriebe der emsig arbeitenden Mordkommission den Rücken zu. »Stephanie Venemas heimlicher Lover ist also ein SEK-Rambo.«
»Ehemaliges Mitglied eines Sondereinsatzkommandos«, korrigierte Kramer milde. »Lennert Tongers, 25 Jahre. Stand zuletzt im Rang eines Kommissars. Hat die Hochschule für Verwaltung mit Auszeichnung absolviert. Ausgebildet in allen möglichen Kampftechniken und mit den verschiedensten Waffen. Alle Lehrgänge mit gut bis sehr gut bestanden. Der Junge hatte eine Karriere vor sich.«
»Und warum schmeißt er die weg?«, fragte Stahnke. »Doch nicht etwa, um so ein schmieriger Privatschnüffler zu werden wie dieser Mats Müller?«
»Wissen wir nicht«, antwortete Kramer, stoisch wie immer. »Da nichts gegen Tongers vorlag, bestand ja auch kein Grund, ihn nach seinem Ausscheiden unter Beobachtung zu halten. Es gibt schließlich die verschiedensten Motive, eine einmal gefällte berufliche Laufbahnentscheidung nach entsprechenden Erfahrungen zu verändern, auch nach Jahren noch. Die meisten dieser Motive sind ehrenhaft.«
»Das kann man wohl sagen«, stimmte Stahnke zu und grinste mehrdeutig. Aber natürlich glitt auch dieser Versuch der Selbstironie spurlos an Kramer ab.
Dass der hier stand und ihm, Stahnke, Untersuchungsergebnisse zur Bewertung vorlegte, zeugte wieder einmal von seiner maßlosen Loyalität. Schließlich war er es gewesen, der den sogenannten ersten Angriff bei der Untersuchung des Mordversuchs an Stephanie Venema koordiniert hatte. Er hatte – mit Manninga zusammen – die Mordkommission Modenschau personell zusammengestellt und ihre Leitung übertragen bekommen. Kommissarisch natürlich, denn Stahnkes Rückkehr stand ja kurz bevor. Trotzdem, über zwanzig Männer und Frauen, unterstützt von der Analysestelle Fahndung und der Kriminaltechnik, hatten unter seiner Führung ihre Arbeit aufgenommen. Kramer hätte sehr wohl darauf dringen können, auch nach Stahnkes Eintreffen mehr als nur die Rolle des Aktenführers für sich zu beanspruchen, schließlich konnte die nachträgliche Übergabe der Leitung an den Hauptkommissar durchaus zu Reibungsverlusten führen. Das aber hatte er nicht getan, hatte nicht einmal ein Wort darüber verloren.
Wie hätte er sich in einer vergleichbaren Situation verhalten? Stahnke war sich da gar nicht so sicher.
Er betrachtete das mitgelieferte Foto von Lennert Tongers, übermäßig kontrastreich, vom Faxvorgang leicht entstellt. Kein eckiger Testosteron-Kiefer, wie vermutet, stattdessen ein eher gemütlich wirkendes, ovales Gesicht mit ausgeprägter, leicht gebogener Nase und breitem, vollem Mund. Nur der rasierte Kahlschädel entsprach dem Klischee.
Was wollte ein Mädel aus gutem Hause wie diese Stephanie bloß mit solch einer Krawallglatze?
Mit einer durchtrainierten, sicherlich nicht dummen Krawallglatze. Hm, da gab es diverse mögliche Antworten. Stahnke zog die Frage zurück. Anders herum: Was wollte ein 25-jähriger ehemaliger SEK-Kommissar mit einer 17-jährigen Schülerin? Auch diese Frage führte nicht weiter, sie beantwortete sich von selbst, wenn man die Beziehung der beiden auf das rein Sexuelle reduzierte. Vielleicht war’s das ja auch, vielleicht erschöpfte sich das beiderseitige Interesse darin. Man musste …
Kramer Zeigefinger erschien wieder in Stahnkes Blickfeld. »Hier, schau mal. Noch ein interessantes Detail.«
Geburtsort hieß die Rubrik. Und der Eintrag lautete Langeoog.
12.
Stephanie warf ihren Koffer mit Schwung aufs Bett. Das Aufnahmeverfahren der Klinik hatte ihre Geduld bis an die äußerste Grenze strapaziert, und das wollte bei ihr etwas heißen. Was dachten sich diese Ärzte, die Psychologinnen und Diätberaterinnen nur dabei, sie zu behandeln, als sei sie krank? Wussten die denn allesamt nicht, wer sie war und dass man sie aus ganz anderen Gründen hergeschickt hatte?
Nun ja, möglicherweise wussten sie das wirklich nicht, sollten es auch nicht wissen. Trotzdem, die Art und Weise, wie man sie ausgefragt, gewogen und vermessen hatte, vor allem, wie die Resultate anschließend stirnrunzelnd kommentiert worden waren, setzte Stephanie doch mächtig zu. Fast könnte man glauben, ich wäre wirklich krank, dachte sie. Anorektisch. Magersüchtig. Was für ein Gedanke!
Der einzige Spiegel befand sich im Bad. Viel zu klein natürlich. Mit automatisierten Bewegungen streifte Stephanie ihre Kleidung ab, straffte ihren Körper, begann zu posieren, sich nach beiden Seiten zu drehen, ohne ihr Spiegelbild aus den Augen zu lassen. In manchen Augenblicken fand sie sich selbst durchaus vorzeigenswert. Meistens aber erkannte sie die Mängel, die Makel ihres Körpers klar und unbarmherzig. So wie jetzt. Schenkel und Hinterbacken schwabbelten immer noch, und an den Hüften ließen sich nach vorn kleine Röllchen formen. Daran musste sie unbedingt noch arbeiten.
Was hieß da schon Bodymass-Index 14,8! Lächerlich.
Der Gedanke lenkte sie einen Augenblick lang ab. Ihr Blick wurde unstet, löste sich kurz aus dem unbarmherzigen Zugriff des Spiegels. Aus den Augenwinkeln heraus sah sie plötzlich andere Dinge. Hervortretende Rippen unter- und oberhalb eines stark geschrumpften Busens, kugelige Schultergelenke, die dicker waren als die dazugehörigen Oberarme, schaufelartige Beckenknochen, eine knubbelige Ader, die das Dekolletee verunstaltete. Heißer Schreck durchzuckte sie. Was war denn das? Das war doch nicht sie.
Natürlich war sie das nicht. Ein erneuter kontrollierter Blick in den Spiegel stellte das klar. Diese Ärzte hatten sie dermaßen durcheinandergebracht, dass sie schon das zu sehen begann, was die ihr einzureden versuchten. Darauf wollten die doch nur hinaus. Das durfte nicht noch einmal passieren. Sie musste sich dagegen wappnen.
Stephanie ging zurück ins Zimmer. Ein weißes Nachthemd und ein ebenfalls weißer, flauschig-neuer Bademantel hingen einladend außen an den Schranktüren. Sie wollte schon danach greifen, fühlte sich dann aber doch noch nicht müde genug. Schläfrig schon gar nicht. Schließlich war Sommer, draußen war es noch hell, überall waren Leute, viele davon jung. Warum sollte sie hier in diesem kleinen Klinikzimmer versauern?
Sie erwog, ebenfalls noch auszugehen. Ein Spaziergang würde ihr guttun. Das viel zu reichhaltige Abendessen, das diese Diätassistentin ihr aufgenötigt hatte, lag ihr wie ein Stein im Magen. Diese Frau hatte ihr die Bissen buchstäblich einzeln in den Mund geguckt. Entwürdigend! Lediglich ein Stückchen Käse hatte Stephanie in ihrer Serviette verschwinden lassen können und ein wenig von der Butter gleichmäßig über den Teller verteilt. Ab morgen würde sie bei Tisch etwas findiger sein müssen.
Aus dem Bad piepste es gedämpft. Sie tappte zurück und fummelte das Handy aus ihrer Jeans. Eine SMS. Bestimmt von Lennert! Ihre Laune besserte sich schlagartig. Wenn die SMS wirklich von ihm kam, dann war die Entscheidung getroffen. Auf jeden Fall würde sie noch ausgehen. Mit ihm.
Schnell noch unter die Dusche. Vorher rasch frische Wäsche herauslegen. Nackt wie sie war, beugte sie sich über ihren Koffer, zog den Reißverschluss schwungvoll auf und klappte den Deckel zurück.
Dann erstarrte sie.
Der Koffer war voller silberner Päckchen. Dazwischen Streifen mit Tabletten, Pillen und Kapseln verschiedenster Art. Einige Medikamente in Originalverpackung. Und eine pralle weiße Plastikwurst. Rundherum waren zerknüllte Zeitungen gestopft.
Panisch warf sie den Kofferdeckel wieder zu. Oben drauf klebte der rote Gepäckschein. Nummer 06996 – verdammt, das war doch ihre Nummer! Wer hatte sich denn bloß an ihrem Koffer zu schaffen gemacht?
Noch einmal rannte sie ins Bad, schnappte sich die Jeans, zerrte den Tascheninhalt heraus. Da, ihr Gepäckscheinabschnitt. Nummer 06996, genau identisch. Also warum …
Dann schaute sie genauer hin. Da war auch noch Text auf dem Gepäckschein, der am Kofferdeckel klebte, klein gedruckt, und der stand auf dem Kopf.
Es dauerte noch eine Sekunde, bis sie drauf kam, dass sie den Koffer umdrehen musste.
Jetzt stand der Text richtig herum, und die Nummer lautete 96690.
Wem immer dieser Koffer gehören mochte – ihrer war das nicht.
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