Peter Gerdes

Sand und Asche


Скачать книгу

wenig an. »Keinerlei Konflikte, von denen ich wüsste«, sagte er. »Weder in ihrer Klasse noch in einem der vielen Kurse. Das trifft auf Mitschüler ebenso zu wie auf Lehrer.«

      »Wie können Sie das so genau wissen?«

      Venema hob kurz die Schultern: »Man informiert sich eben.«

      »Offenbar nicht nur beim Elternsprechtag.« Ein Schuss ins Blaue, dessen war sich Stahnke bewusst.

      »Ganz sicher nicht nur dort«, antwortete Venema nachdrücklich. »Stephanie ist meine einzige Tochter. Seit dem frühen Tod meiner Frau ist sie mein Ein und Alles. Ich kann es doch nicht riskieren …« Er brach ab und senkte erstmals seinen Blick.

      Treffer, dachte der Hauptkommissar.

      »Inwiefern Risiko?« Manninga nahm die Vorlage auf. »Gab es also doch einen Konflikt, eine Bedrohung Ihrer Tochter, von der Sie bisher noch nichts erzählt haben?«

      »Missverständnis.« Venema hob beide Handflächen. »Ich spreche von dem Risiko, nach meiner Frau auch noch meine Tochter zu verlieren. Das ist das Risiko, das ich meine, ganz allgemein gesprochen. Stephanie ist ein außergewöhnlich hübsches Mädchen, das sehe ich wohl nicht nur als Vater so …« Sein beifallheischendes Lächeln in die kleine Runde wirkte routiniert und schien bloßer Konvention zu entspringen. »… und sie wird eines Tages ziemlich wohlhabend sein. Was sage ich, reich wird sie sein, wenn ich nicht noch irgendeinen riesigen Fehler mache.« Wieder dieses Lächeln. Venema schien die Möglichkeit, jemals einen katastrophalen Fehler zu machen, für sich selbst völlig auszuschließen.

      »Ihre Stephanie ist sogar ein sehr schönes Mädchen«, bestätigte Stahnke. »Da muss sicher kein Vermögen in Aussicht stehen, um sie für Jungs interessant zu machen. Wie sieht es denn mit ehemaligen Verehrern aus, mit eifersüchtigen Abgeblitzten? Gibt es da vielleicht ein Hass-Potential?«

      Energisch schüttelte Venema den Kopf. »Bisher nur Sandkastengeschichten. Und Freundschaften natürlich. Reiterhof, Segelclub, Ruderverein. Wenn Sie wollen, lasse ich Ihnen eine Liste mit Stephanies Kontakten erstellen. Meiner Ansicht nach führt das aber zu nichts.«

      »Mit siebzehn noch so brav?« Das war wieder Manninga. »Ungewöhnlich, vor allem heutzutage. Meint sie denn, sie sei noch nicht so weit?«

      Diesmal umspielte ein verschmitztes Lächeln Venemas Lippen. »Hab ich sie auch gefragt. Sie meinte, es seien wohl eher die Jungs in ihrem Alter, die noch nicht so weit sind.«

      Die drei Männer lachten ein kollerndes Männerlachen. Schau an, dachte Stahnke, eine ehrliche Gefühlsäußerung. Und schon ist sie wieder vorbei.

      »Wer ist denn das, der diese Kontaktliste in Ihrem Auftrag erstellen könnte?«, fragte Stahnke, als das Lachen verklungen war.

      Venema fixierte ihn wieder scharf. »Meine Büroleiterin«, sagte er dann. Die Verzögerung war kaum messbar.

      »Gut«, sagte Manninga. »Diese Liste brauchen wir unbedingt. Irgendwo müssen wir ja anfangen. Auch wenn unser Täter nicht in diesem Kreis zu finden ist – letztlich führt ja doch eins zum anderen. So funktioniert Polizeiarbeit eben, nicht wahr, Stahnke?«

      Klingt nach Schlussansprache, dachte der Hauptkommissar. »Eine Chance haben wir natürlich noch, zu einem schnelleren Resultat zu kommen«, schnitt er Manninga das Wort ab. »Wenn man es denn eine Chance nennen will.«

      »Was für eine Chance?« Venema, dessen Rücken während des gesamten Gesprächs die Lehne seines Ledersessels nicht berührt hatte, straffte sich noch mehr.

      »Nun ja. Dass es der Täter noch einmal versucht, meine ich. Und dass wir ihn dabei überraschen und festnehmen können.«

      »Sind Sie wahnsinnig?« Venema schien aus seinem Sessel emporzuschnellen. »Was haben Sie vor? Wollen Sie meine Tochter als Köder missbrauchen? Menschenskind!«

      Diesmal hob Stahnke die flache Hand, um Venemas Eruption zu bremsen. »Davon kann überhaupt keine Rede sein«, sagte er. Dann lächelte er den Reeder schweigend an, um ihm die Gelegenheit zu geben, sich zu fangen. Das ging schnell.

      »Nicht wir sind es, die etwas vorhaben«, sagte er dann, »sondern der Täter. Davon können, ja müssen wir mit Sicherheit ausgehen. Sobald er erfährt, dass sein Anschlag erfolglos geblieben ist. Und das wird er, und zwar ganz einfach, wenn er morgen früh die Zeitung aufschlägt. Was genau er dann tun wird, wann er es tun wird, das wissen wir nicht. Alle Vorteile sind auf seiner Seite, während wir unsere Kräfte aufteilen müssen, weil wir zugleich schützen und ermitteln müssen. Und das wer weiß wie lange.«

      Er schwieg einen Moment, ließ seine Worte einsinken, bemerkte, dass Venema um eine Nuance erblasste. Dann öffnete er den Mund.

      Der Reeder aber kam ihm zuvor. »Das machen wir anders«, sagte er. »Ich werde meine Tochter in Sicherheit bringen. Soll die Öffentlichkeit ruhig glauben, dass sie tot ist. Eine Familie, die sich grämen könnte, haben wir ansonsten sowieso keine; Stephanie und ich haben nur einander.«

      »Sie wollen Sie für tot erklären lassen?«, fragte Manninga mit aufgerissenen Augen.

      »Ich möchte, dass Sie das machen«, sagte Venema fest. »Ich sorge für ein sicheres Versteck. Und ich weiß auch schon, wo. Sie kümmern sich darum, dass der Mörder gefasst wird.« Der Reeder nickte. Für ihn schienen die Segel gesetzt, die Befehle gegeben zu sein.

      Manninga schaute Stahnke fassungslos an.

      Der breitete die Arme aus. »Wenn Herr Venema das wünscht, dann belügen wir eben mal die Presse«, sagte er und schämte sich seiner Scheinheiligkeit nicht einmal.

      7.

      Lüppo Buss hielt sich im Hintergrund, als Doktor Fredermann am Rezeptionstisch der Klinik stand und leise auf eine Frau einredete, die dort Dienst tat und deren schneeweiße Kluft das Diensthemd des Inselpolizisten an Blendkraft noch um eine Nuance übertraf. Was der Arzt sagte, war von hier nicht zu verstehen, aber das machte nichts. Der Oberkommissar wusste auch so, worum es ging. Und um das Überbringen schlechter Nachrichten riss er sich nie.

      Der Eingangsbereich der Klinik Waterkant, mehr Saal als Foyer, war durch einen geschlängelten Weg mit Mosaikpflaster, ausgedehnte Blumenrabatten, zwei Paar gläserne Automatiktüren und großzügig bemessene Fußmattenflächen dazwischen vom Straßentrubel abgeschirmt. Alles hier drinnen schimmerte silbrig oder strahlte bunt, alles sah nicht nur neu aus, es roch auch neu. Und ein bisschen teuer. Dabei war dieser Laden, so hatte der Oberkommissar gehört, durchaus nicht nur betuchten Privatversicherten oder Selbstzahlern vorbehalten. Vielleicht lag es daran, dass entsprechende Überweisungen nicht von Krankenkassen, sondern von den zuständigen Rentenversicherungsträgern vorgenommen wurden. Erstaunlicherweise schien in deren Kassen doch noch Geld übrig zu sein.

      Unweit des halbrunden Rezeptionstresens saßen zwei junge Frauen vor einem deckenhohen Blumenfenster und unterhielten sich lebhaft. Erst jetzt bemerkte Lüppo Buss, dass eine von ihnen in einem Rollstuhl saß. Ihre Größe war schwer zu schätzen, aber sie schien mehr als mittelgroß zu sein. Sie trug einen überdimensionierten Sommerpullover mit breiten Querstreifen in Schwarz und Weiß, der ihre Schmächtigkeit nur annähernd kaschierte. Ihre Hände waren langfingerig und zart, mit auffällig dicken Adern auf den Handrücken. Halblange, dunkle Haare bauschten sich über ihren Schultern, ihre Wimpern waren lang und dunkel, ihr dreieckiges, fein geschnittenes Gesicht war blass. Sie trug eine Brille mit schmalem, eckigem Rahmen aus dunklem Metall. Lüppos Blick registrierte lange Beine in aschgrauen Hosen, schlanke Füße in schwarzen Sandalen, gepflegte Zehen, farblosen Lack.

      Jetzt schlug sie die Beine übereinander. Merkwürdig. Wenn sie gar nicht gelähmt war, weshalb saß sie dann im Rollstuhl?

      Die Frau kreuzte die Arme über ihrem Schoß und lächelte ihre Gesprächspartnerin an. Ihre Wangenknochen traten dabei stark hervor, und dünne Falten bildeten sich, die senkrecht hinab zu den Mundwinkeln führten. Es war, als trete ihr Totenschädel für einen Wimpernschlag aus ihrem blassen Gesicht hervor. Lüppo Buss erschrak und wandte seinen Blick ab.

      Fredermann redete immer noch leise auf die Diensthabende