Peter Gerdes

Sand und Asche


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Jetzt nickte sie und griff zum Telefon. Die Miene der Frau war angespannt, ihre Stirn in Falten gelegt. Das Wesentliche schien der Doc ihr schon erzählt zu haben. Lange würde es hoffentlich nicht mehr dauern.

      Der Blick des Inselpolizisten blieb an einem weiteren Rollstuhl hängen, der leer an der Rezeption stand. Ein ungewöhnlich breites Exemplar. Gab es Rollstühle für Paare? Und wenn ja, wie koordinierten die wohl die Fortbewegung?

      Ein lautes Geräusch hinter ihm ließ Lüppo Buss herumfahren. Etwas Großes, Massiges bewegte sich da auf ihn zu, auf den ersten Blick ein Bär, der schwerfällig herantapste und -schlurfte, laut schnaufend und seinen Körper mit beiden Vordertatzen an der Wand abstützend, um ihn mühsam halbwegs in der Senkrechten zu halten. Aber Bären trugen natürlich keine ausgeleierten Trainingsanzüge im verblichenen Ethno-Look, und Bärenhintertatzen sahen nicht aus wie Elefantenfüße und steckten auch nicht in Aldiletten, deren Riemen beinahe von quellenden Fettwülsten unter bleicher, haarloser Haut überwuchert wurden.

      Der Mann – natürlich war es ein Mann, kein Bär – lächelte Lüppo Buss entschuldigend zu, während er an ihm vorbeistampfte, mit den Armen rudernd, als gingen die wenigen Schritte ohne Wandstütze schon über seine Kräfte. Erschüttert stellte der Inselkommissar fest, dass dieser Koloss noch relativ jung war, trotz seines zerquälten Gesichtsausdrucks; Anfang oder Mitte dreißig vielleicht. Sein Gewicht mochte an die vier Zentner betragen, vielleicht auch mehr. Himmel, wie konnte man nur so fett werden?

      Immerhin war damit die Funktion des überbreiten Rollstuhls erklärt.

      Die Frau in Weiß mit dem rotbraunen Pferdeschwanz stand plötzlich vor Lüppo Buss. »Doktor Fredermann hat mich so weit informiert. Natürlich können Sie Angelas Zimmer sehen, auch ohne Durchsuchungsbeschluss. Die Klinikleitung ist einverstanden. Wir sind alle tief erschüttert.«

      »Danke«, sagte der Oberkommissar und streckte seine Hand aus. »Mein Name ist Lüppo Buss.«

      »Angenehm«, sagte die Frau. Sie mochte knapp über dreißig sein; ihre goldbraunen Augen waren wach und unbefangen auf ihr Gegenüber gerichtet. »Ich bin Sina Gersema.«

      Angela Adelmunds Zimmer lag an einem Korridor, der mehr an ein Hotel erinnerte als an eine Klinik. Auch hier lag dieser typische Geruch nach kürzlich verlegtem Teppichboden und frischer Farbe in der Luft, ein Geruch, der eine neue oder zumindest gerade erst generalüberholte Umgebung signalisierte. Allerdings war er durchmischt mit etwas schärfer Riechendem, das an etwas anderes erinnerte. Autowerkstatt, dachte Lüppo Buss. Gummi. Tatsächlich, die kleinen Rampen, mit denen alle Stufen und Treppchen überbrückt waren, hatten einen Belag aus schwarzem Gummi. Anscheinend waren Rollstuhlfahrer hier nichts Ungewöhnliches.

      Das Zimmer war recht geräumig, die Einrichtung im Schleiflack-Stil wirkte solide und ebenso praktisch wie schematisch. Eine schmale Glastür führte zu einem winzigen Balkon. Lüppo Buss spähte hinaus: Hochparterre. Also eher eine Terrasse.

      »Natürlich konnte Angela leicht dort hinaus«, sagte Sina Gersema scharf. Sie schien Lüppos Blick sofort bemerkt und gedeutet zu haben. »Aber ebenso gut konnte sie das Gebäude auch durch den Haupteingang verlassen. Schließlich sind wir hier keine geschlossene Psychiatrie, sondern eine Klinik für Essstörungen. Unsere Patienten sind hier, weil sie hier sein wollen.«

      »Aber sie müssen sich bestimmten Regeln unterwerfen, stimmt’s?«, konterte Fredermann. »Und die Einhaltung dieser Regeln wird überwacht. Wer dagegen verstößt, hat Ausgangssperre, soviel ich weiß. Oder arbeiten Sie hier etwa nicht mit Sanktionen?«

      Die junge Frau errötete leicht. Eine steile Falte erschien über ihrer Nasenwurzel. »In der Tat, es gibt Sanktionen«, bestätigte sie. »Obwohl längst nicht jeder hier von der Richtigkeit solcher Maßnahmen überzeugt ist. Und natürlich werden die Patienten überwacht, in mehr als einer Hinsicht. Das brauchen sie, sonst wären sie nicht hier. Aber das bedeutet nicht, dass irgendjemand mit Gewalt daran gehindert würde, mal an die frische Luft zu gehen.«

      Fredermann schnaubte geringschätzig. »Inkonsequenz hilft doch niemandem«, grummelte er. »Außerdem haben wir es hier nicht mit einer illegalen Spaziergängerin zu tun, sondern mit einer toten Patientin. Ihrer Patientin.«

      Lüppo Buss hielt sich aus dem Disput heraus. Solange die beiden nichts anfassten, sollten sie sich seinetwegen über den richtigen Umgang mit Essgestörten zoffen. Er schaute sich lieber um.

      Der Raum sah aus wie frisch verlassen, recht ordentlich, aber mit den üblichen kleinen Anzeichen, dass er bewohnt war: Zeitschriften, ein Buch neben dem Bett, ein leerer Teebecher auf dem Beistelltisch. Keine Wäsche auf dem Boden, und auch die Schuhe standen säuberlich beieinander neben dem Kleiderschrank. Angela Adelmund schien eine Ordentliche gewesen zu sein. Hätte sie ihr Zimmer verlassen, um es nie wieder zu betreten, wäre es gewiss picobello aufgeräumt gewesen.

      »Dieses Zimmer muss kriminaltechnisch untersucht werden«, sagte der Inselpolizist. »Ich werde es versiegeln, sobald die erste Inaugenscheinnahme beendet ist.«

      Fredermann schaute ihn konsterniert an; es schien eine Weile zu dauern, ehe er merkte, dass sich das Wortungetüm Inaugenscheinnahme auf das bezog, was sie hier gerade taten.

      Sina Gersema hingegen nickte sofort.

      Lüppo Buss zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Tasche und streifte sie über. Wo beginnen? Bei der Schreibtischschublade, entschied er. Der wahrscheinlichste Aufbewahrungsort für Schriftstücke. Vorsichtig zog er die Lade auf.

      Papiere, sorgfältig gestapelt. Obenauf lag ein gefalteter Zettel im DIN-A4-Format, liniert, offenbar aus einem Schreibblock gerissen. Etwas stand darauf, in großen Blockbuchstaben.

      Lüppo Buss zog den Zettel heraus und las laut vor: »WENN ICH TOT BIN«.

      Selbst Fredermann bekam runde Augen. »Doch ein Abschiedsbrief?«, fragte er. »Wie passt das denn …«

      Der Oberkommissar brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. Er faltete das Blatt auseinander. Der Text war kurz.

      »Wenn ich tot bin, will ich eingeäschert werden. Mein Körper soll brennen. Meine Asche soll am Osterhook verstreut werden, am Strand und in den Dünen. Alles, was ich besitze, soll mein Bruder bekommen.« Und eine kindlich wirkende Unterschrift. Angela Adelmund.

      »Kein Abschiedsbrief«, sagte Lüppo Buss, »sondern ein Testament.«

      »Und was für eins«, ergänzte Fredermann, der mitgelesen hatte.

      »Ach«, sagte Sina Gersema. »Sie hatte einen Bruder?«

      8.

      Sieht aus wie ein zertretener Schuhkarton, dachte Stephanie, als die Fähre einlief. Und glaubte sich mit einem Déja-vu-Erlebnis konfrontiert. Hatte sie das nicht schon einmal gesehen? Und gedacht?

      Natürlich, der Schulchor. Die Reise nach Langeoog, das Trainingslager, die Auswahl für die begehrte Reise in die USA. Damals hatte sie genau hier gestanden, am Kai in Bensersiel. Allerdings nicht alleine wie jetzt. Zu viert hatten sie über das in ihren Augen nicht eben stylische Gefährt gewitzelt.

      Stephanie fühlte sich zurückversetzt in eine Zeit, in der alles neu und spannend und aufregend gewesen war und das Leben ein einziger großer Spaß. Wie lange war das jetzt schon her, ein halbes Leben? Natürlich nicht. Keine zwei Jahre. Ein Zeitraum, in dem sich in ihrem Leben viel geändert hatte, sehr viel. Und in dem sie dieses Leben fast verloren hätte.

      Verstohlen schaute sie sich um. Der Kai war voller Menschen, und es kam ihr vor, als starrten alle nur sie an. Was natürlich Blödsinn war, denn alle starrten erwartungsvoll der Fähre entgegen, genau wie sie selber auch. Schließlich war Juli, also Urlaubszeit, es war Mittag und sonnig, wenn auch etwas kühl und windig, und die Touristen strömten nur so nach Langeoog und auf die anderen ostfriesischen Inseln. Nordrhein-Westfalen hatte schon seit einer Woche Ferien, in Niedersachsen war heute letzter Schultag gewesen. Hochsaison.

      Die Bugschrauben der Fähre wühlten beim Anlegemanöver schlammiges Hafenwasser auf. Noch so ein Anblick, an den sie sich gut erinnerte. Schließlich war sie in Ostfriesland aufgewachsen und hatte