Peter Gerdes

Solo für Sopran


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      Peter Gerdes

      Solo für Sopran

      Langeoogkrimi

      Zum Autor

      Peter Gerdes, geb. 1955, lebt in Leer (Ostfriesland). Studierte Germanistik und Anglistik, arbeitete als Journalist und Lehrer. Schreibt seit 1995 Krimis und betätigt sich als Herausgeber. Seit 1999 Leiter des Festivals »Ostfriesische Krimitage«. Die Krimis »Der Etappenmörder«, »Fürchte die Dunkelheit« und »Der siebte Schlüssel« wurden für den Literaturpreis »Das neue Buch« nominiert. Gerdes betreibt mit seiner Frau Heike das »Tatort Taraxacum« (Krimi-Buchhandlung, Veranstaltungen, Café und Weinstube) in Leer.

      Impressum

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      Alle Rechte vorbehalten

      1. Auflage 2020

      (Originalausgabe erschienen 2005 im Leda-Verlag)

      Herstellung: Mirjam Hecht

      Umschlaggestaltung: Katrin Lahmer

      unter Verwendung eines Fotos von: © Olaf Schlenger / stock.adobe.com

      ISBN 978-3-8392-6468-3

      1.

      Wuchtig rollte es heran, krachend schlug es zu, schleifend und saugend zog es sich zurück. Er schnappte nach Luft.

      Das stetig dröhnende Donnern der Brandung hatte seinen Kopf rhythmisch durchrauscht, seit er sich auf dieser Insel befand, Woge um Woge, Tag und Nacht. Was aber jetzt in seinem Kopf rauschte, war nicht die See, sondern der Schmerz, der ihn immer wieder aufs Neue ansprang und schüttelte und ihn zurück unter die Oberfläche zu drücken versuchte. Welle um Welle. Mühsam hielt er stand, während er so viel kühle Nordseeluft wie möglich durch seine rasselnden Bronchien presste. Die Schmerzen tosten, tauchten ihn aber nicht unter, spülten ihn nicht davon. Fürs Erste blieb er bei Bewusstsein.

      Vorsichtig stemmte er sich hoch, stolperte mit kurzen, schlurfenden Schritten über den festen Sand in Richtung Spülsaum, bückte sich, was das inwendige Rauschen gefährlich anschwellen ließ und einen heftigen Anfall von Übelkeit auslöste, und tauchte schließlich seine Hände in den prickelnden Schaum des nächsten Brandungswellenausläufers. Breite, dicke Hände mit kurzen, dicken Fingern. Sie zitterten. Das Blut, das an ihnen haftete, war bereits getrocknet, und er musste kräftig rubbeln, um die Krusten zu lösen.

      Auch seine Füße waren breit und dick, stellte er fest. Und sie waren nackt, wie auch seine Beine, die gänsehäutig und stachelhaarig aus kurzen, weiten Hosen ragten. Merkwürdig, dachte er, wieso habe ich nackte Beine? Er konnte sich überhaupt nicht erinnern, schwimmen gegangen zu sein.

      Dann fiel ihm auf, dass er sich an gar nichts erinnern konnte. An überhaupt nichts. Null.

      Im ersten Moment erheiterte ihn dieser Gedanke. Wie, an nichts erinnern! Das gab es vielleicht im Kino, vorzugsweise in Hollywoodschinken, wo sich hübsche junge Amnesierte in höchst fotogener Weise auf die Suche nach dem verschollenen Ich und seinem meist ebenso attraktiven Gegenstück vom anderen Geschlecht machten. Aber doch nicht … hier. Und doch vor allem nicht er.

      Nur: Wo war »hier«? Und wer er?

      Als er spürte, dass er mit diesen Fragen ins Dunkle stocherte wie mit einem Blindenstock, schwoll das Rauschen in seinem Kopf wieder zu einem Tosen an. Sitzend fand er sich wieder, auf dem Hosenboden im Sand, dessen Feuchtigkeit unangenehm kalt durch seine Badehose drang. Badehose? Nein, das waren Boxershorts, weite, blau-weiß gestreifte, vorne geknöpfte Boxershorts. Oben herum trug er nichts als ein Unterhemd, Feinripp weiß. Himmel, in welchem Aufzug lief er hier herum?

      Wer – er? Und wo?

      Moment mal, einen Moment mal. Beschwichtigend klappte er seine dicken Hände hoch und richtete die Handflächen nach vorne, als wollte er die unaufhörlich anrollende Brandung zum Innehalten auffordern. Vielleicht galt die Geste auch den Schmerzwellen in seinem Kopf – vergebens war sie in beiderlei Hinsicht. Immerhin aber half sie ihm, seine wild und schäumend flutenden Gedanken zu kanalisieren.

      Dies hier war eine Insel, so viel wusste er. Und dass er hier nicht lebte, sondern nur zu Gast war, wusste er auch. Zu Besuch war er hier. Aber bei wem?

      Wirklich zu Besuch? Aber warum war ihm dieser Ort dann so vertraut? Und wenn ihm diese Insel vertraut war, warum wusste er dann ihren Namen nicht?

      Er versuchte es anders herum. Sein eigener Name? Nichts, gar nichts. Sein Alter? Er schaute an sich herab, musterte seine kräftigen Gliedmaßen und seinen noch weit kräftigeren Bauch, erspähte ergraute Brusthaare im Ausschnitt seines Unterhemds, fuhr sich mit den Händen über den pochenden Schädel, ertastete eine recht weit entwickelte Stirnglatze, einen kurz gestutzten Haarkranz und eine kräftige, äußerst druckempfindliche Schwellung über dem linken Ohr. Der Jüngste war er nicht mehr, eindeutig. Irgendwas zwischen fünfzig und sechzig. Und angeschlagen, in des Wortes wörtlicher Bedeutung.

      Aber wo waren sie hin, diese fünfzig oder sechzig Jahre? In seinem Gedächtnis waren sie jedenfalls nicht.

      In seinem Gedächtnis waren ja nicht einmal die letzten fünf oder sechs Stunden. Alles wie ausgelöscht. Auf einen Schlag.

      Ein Schlag?

      Plötzlich bemerkte er, dass ihm kalt war. Saukalt sogar. Nicht nur seine Hände zitterten, nein, er bebte am ganzen Körper. So, als hätte er die ganze Nacht im Freien verbracht, nur mit Unterwäsche bekleidet.

      Welche Tageszeit war eigentlich gerade? Automatisch blickte er auf sein linkes Handgelenk: Keine Uhr, nichts, nur ein dicker Arm samt dazu passender Hand. Den Unterarm zierten ein paar rotblaue Flecken, die sich frisch anfühlten, sowie eine verwaschen aussehende Tätowierung, dunkelblau, irgendetwas Rundes, Ausgefranstes. Keine Idee, was das sein konnte, jedenfalls keine Uhr.

      Er blickte hoch, sah in einen blauen, fast wolkenlosen Himmel, ohne zu blinzeln, spürte einen Anflug von Wärme hinter dem rechten Ohr und auf dem rechten Schulterblatt. All das schien auf den frühen Morgen hinzudeuten. Warum? Er wusste es nicht.

      Was konnte geschehen sein? War er ein Frühaufsteher, ein Frühsportler, der sich beim Strandlauf übernommen und einen Blackout gehabt hatte? Nein, das passte nicht zu ihm, da war er sich sicher, wer immer er auch sein mochte. Außerdem trug er kein Sportzeug, sondern Unterwäsche. Und nirgendwo um ihn herum lagen andere Kleidungsstücke. Zum Glück war auch kein anderer Mensch in Sichtweite. Nichts als Meer, Strand und Dünen. Und das rote Dach eines eckigen weißen Turms, der die Dünen überragte.

      Moment,