Peter Gerdes

Solo für Sopran


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ist im Stress, da musst du dir nichts bei denken.« Stephanie war wie immer auf Versöhnung aus, das war so etwas wie Prinzip bei ihr, aber ihre Miene signalisierte deutlich, dass auch sie Theda für reichlich zickig hielt. »Sie will eben unbedingt mit nach Amiland.«

      »Ameland? Wieso will die denn auf noch ’ne Insel? Reicht ihr Langeoog etwa noch nicht?« Wiebke hatte ihr Pyjama-Oberteil bis über den Rippenbogen angehoben und war ganz mit der Inspektion ihres hageren Körpers beschäftigt.

      »Amerika meine ich natürlich. U-S-A! Die Reise mit dem JBG-Chor über Weihnachten nach Illinois und Oregon, auf Einladung der Nachkommen ausgewanderter Ostfriesen. Schon vergessen?«

      »Ach die!« Die Schlafanzugjacke fiel wieder herunter, und es überraschte, dass sie Wiebkes Rippen dabei nicht wie ein Xylophon zum Klingen brachte. »Die hab ich doch längst abgehakt. Da gibt’s überhaupt nur vierzig Plätze insgesamt, davon ganze fünfzehn für Sopran. Und wir sind über dreißig Sopranistinnen, wenn du alle mitrechnest, auch die Oberstufe. Wie sollen wir denn da eine Chance haben? So gut sind wir schließlich auch nicht.«

      »Theda scheint davon nicht so überzeugt zu sein«, wandte Stephanie ein. »Jedenfalls entwickelt die voll den Ehrgeiz. Letzten Sommer hatte sie doch zu rauchen angefangen, weißt du nicht mehr? Und kaum kam die Nachricht von der Amerika-Fahrt, schon war wieder Schluss damit, von heute auf morgen. Die will mit, das hat die sich echt in den Kopf gesetzt.«

      »Wenn das mal kein Hirngespinst ist!« Wiebkes grelle Stimme ging durch Mark und Bein. Inzwischen hatte sie ihre Aufmerksamkeit ihren mausbraunen, strähnigen Haaren zugewandt, raffte sie über dem Schädel zu einer Palme zusammen, um größer zu wirken. »Es gibt doch bestimmt mehr als fünfzehn Soprane in unserem Chor, die besser sind als sie. Das holt Theda in der kurzen Zeit niemals auf. Und erinnerst du dich, was sie sich vorgestern geleistet hat? Diesen fetten Patzer bei unserem Geburtstagsauftritt? Seitdem ist die Kleine bei Heiden doch sowieso unten durch.«

      »Aber bei diesem Auftritt waren wir doch alle nicht besonders«, beschwichtigte Stephanie. »Nicht nur Theda. War ja auch eine Schnapsidee vom Heiden, dem Pastor die Zusage zu geben, ohne richtige Probe vorher und alles! Ganz egal, wie bedeutend diese Tante ist, die da achtzig wurde.«

      »Bedeutend war«, schrillte Wiebke dazwischen. »Kurz nach unserem Auftritt ist sie gestorben. Heute früh beim Brötchenholen hab ich’s gehört. Ist das angesagte Gesprächsthema im Dorf.« Sie grinste breit: »Da siehst du mal, wie schlecht wir waren!«

      Theda platzte mitten in ihr Gelächter hinein, einen Handtuchturban auf dem Kopf und eine Dampfwolke im Schlepptau. Mit einem mürrischen Seitenblick verschwand sie in ihrem Schlafzimmer und warf die Tür hinter sich zu.

      »Hat die das schon wieder auf sich bezogen?« Stephanie sah besorgt aus. »Die ist aber auch empfindlich!«

      »Ist doch scheißegal«, sagte Wiebke und wandte sich dem frei gewordenen Badezimmer zu. Sabrina aber war schneller gewesen und schloss lachend hinter sich ab.

      »Blöde Gans«, maulte Wiebke. »Die hält sich auch wohl für was Besseres.«

      »Jedenfalls glaubt sie auch, dass sie mitfährt nach Amerika«, sagte Stephanie. »Dabei singt sie auch nicht besser als Theda. Oder als du und ich.«

      »Na ja, hör mal.« Wiebke setzte eine überlegene Miene auf. »Bei Sabrina liegen die Dinge doch ein bisschen anders. Wenn die mitfährt, dann hat das ja wohl nichts mit Singen zu tun.«

      »Womit denn dann?« Stephanies Augen rundeten sich.

      Wiebke schnaubte verächtlich: »Na womit wohl, du Baby.«

      4.

      Sie sitzen da wie zwei Schüler vor ihrem Lehrer, wenn es die Noten gibt, schoss es Lüppo Buss durch den Kopf. Ein ungehöriger Gedanke, gewiss, und er versuchte ihn auch gleich wieder aus seinem breiten, hochstirnigen Kopf zu verbannen. Das gehörte sich einfach nicht gegenüber trauernden Hinterbliebenen, so durfte man nicht denken. Aber was half’s, als Polizist war Lüppo Buss nun einmal darauf trainiert, Situationen möglichst schnell und treffend einzuschätzen. Und die Janssens saßen eben da wie erwartungsvolle Musterschüler, die sich nicht ganz sicher sind, ob es denn auch wirklich für eine Eins gelangt hat.

      »Störe ich?«, fragte der Inselpolizist leise und blieb abwartend unter der Tür stehen. Nicole und Ulfert Janssen schauten stumm zu ihm herüber, überließen Pastor Rickerts das Antworten, als sei der jetzt hier Hausherr und nicht sie beide. Den Pastor schien das nicht weiter zu verwundern, vermutlich war er es gewohnt, in Trauerangelegenheiten das Heft in die Hand zu nehmen. Genau genommen verhielt er sich damit ebenso wie ein leitender Ermittler der Kriminalpolizei an einem Tatort. Eigentlich waren sich die geistliche und die weltliche Ordnungsmacht doch ziemlich ähnlich, stellte der Kommissar fest.

      »Komm ruhig rein, Lüppo«, sagte Rickert Rickerts. »Wir sind auch bald durch mit allem. Nur noch ein paar Sachen klären fürs Abdanken, dann haben wir’s up Stee. Soll ja alles recht flott über die Bühne gehen.« Einladend zog er einen weiteren Stuhl heran: »Setz dich doch.«

      »Ich hatte noch gar nicht kondoliert«, sagte Lüppo Buss und durchquerte den weitläufigen Raum. »Hab’s gerade erst erfahren.« Er reichte erst Nicole, dann Ulfert die Hand: »Herzliches Beileid zum Verlust eurer Tante.« Dann verbesserte er sich: »Großtante, meine ich natürlich. Ich habe sie ja immer nur Tant’ Lüti genannt.«

      Nicole Janssens schmale, langknochige Hand fühlte sich kühl und trocken an, Ulferts fleischige dagegen heiß und feucht. Sie waren eben ziemlich verschieden, nicht nur äußerlich, er mit seinen kurzen, dunkelbraunen, krausen Haaren und sie mit ihren langen, glatten blonden. Der Tod der alten Dame schien sie unterschiedlich stark zu berühren. Aber Lütine war ja auch Ulferts Großtante gewesen, väterlicherseits. Verständlich, dass er einen mitgenommeneren Eindruck machte als Nicole.

      Lüppo Buss nahm den angebotenen Stuhl und setzte sich an die Schmalseite des gläsernen Esstischs. Durch die transparente Platte hindurch konnte er die Tischbeine sehen. Sie bestanden aus kunstvoll geschmiedetem Eisen, ebenso wie die Stühle, und standen auf glasierten Terrakottafliesen. Eine niedrigere Version des Glastischs stand, wie er von früheren Besuchen wusste, in der Fernsehecke zwischen drei über Eck platzierten Ledersofas. Kalte Pracht, dachte er und strich sich mit dem Zeigefinger die buschigen blonden Augenbrauen glatt. Passt überhaupt nicht in die Landschaft hier, Langeoog ist doch nicht Südfrankreich. Im Sommer mag’s ja noch angehen, aber im Winter, da fröstelt es einen doch zwischen Glas, Eisen, Leder, Stein und diesen geweißten, unangenehm rauen Wänden, denen man schon von weitem ansieht, dass sie nicht berührt werden sollen. Kalt und ungemütlich. Da helfen auch Fußbodenheizung und Thermopanefenster nichts.

      Früher hatte Tant’ Lüti selber dieses herrschaftliche Anwesen bewohnt, ganz allein, damals, als sie ihren Besitz noch persönlich verwaltet hatte. Ehe man ihr das Krankenzimmer direkt neben der guten Stube eingerichtet hatte. Da hatte es hier noch ganz anders ausgesehen, viel ostfriesischer, mit dunklem Holz, dicken Samtdecken und echten Kapitänsbildern an den Wänden, die sturmzerzauste Dreimaster zwischen schaumgekrönten Wogen und bedrohlich dunklen Wolken zeigten. Keineswegs ärmlich, alles andere als das, denn Lütine Janssens Besitz war ansehnlich, weiß Gott. Das wussten alle, auch wenn sie nicht mit ihrem Eigentum geprahlt hatte.

      Geerbt hatte sie, natürlich, denn so ohne weiteres war ja an derart viel Grund und Boden auf dieser Insel nicht heranzukommen. Aber sie hatte durch viel Arbeit und eine Menge Geschick mit ihrem Pfund gewuchert. Früh verwitwet und kinderlos, hatte sie all ihre Energie in die Geschäfte gesteckt. Aus Ferienhäuschen hatte sie Pensionen gemacht, aus Pensionen Hotels, aus Hotels Kurkliniken. Ihre Betriebe liefen ausgezeichnet, auch jetzt noch, da die kapitalistische Marktwirtschaft unverhüllter und brutaler regierte und die Leute ihre Euros fester als früher zusammenhielten. Tant’ Lüti hatte es eben verstanden, zur rechten Zeit Stammgäste an sich zu binden, deren Finanzlage krisenunabhängig war. Leute, die gerne etwas mehr ausgaben, solange es um das eigene Wohl ging. So war nicht nur ihr Vermögen, sondern auch ihr Einfluss stetig weiter gewachsen. Kaum ein Projekt, zu dem sie nicht vorher gehört, kaum eine Entscheidung, die gegen ihren Willen gefällt worden wäre. Tja, Lütine Janssen war jemand