Regine Kölpin

Otternbiss


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aber der Nachbarin versprochen, ihr beim Fensterputzen zu helfen. Sie konnte es nicht lassen, glaubte sich immer und überall kümmern zu müssen. Wer sie bat, ihm unter die Arme zu greifen, dem schlug sie nichts ab.

      Sie jobbte ein paar Stunden in der Woche im Buchladen von Carolinensiel. Sie liebte das tägliche Schmökern, das Abtauchen in fremde Welten, die sie von ihrer eigenen Realität entfernten. Lektüre, die sie später den Leuten guten Gewissens zum Kauf anbieten konnte. Wobei sie eher scheu war. Menschen anzusprechen, auf sie zuzugehen, war nicht ihre Stärke. Sie war auch nicht in der Lage, einem wirklich geregelten Alltag nachzugehen, füllten ihre Grübeleien doch einen beträchtlichen Teil ihres Lebens aus.

      Im letzten Jahr hatte sie beschlossen, den kleinen Fischerort zu verlassen, und eine längere Reise gebucht. Sie hatte eine größere Summe geerbt, weil ihr Vater, den sie gar nicht kannte, gestorben und sie Alleinerbin war. Sie solle verreisen, die Welt kennenlernen und darüber gesund werden, hatte Onkel Karl gesagt. Überall war Maria gewesen. In Habana, Zürich, Paris. Alle großen Städte dieser Welt hatte sie gesehen, um festzustellen, dass es besser war, sie blieb für den Rest ihres Lebens in Carolinensiel. Sie konnte nicht vor sich selbst davonlaufen. Die Vergangenheit wurde sie auch nicht los, wenn sie vor ihr floh. Verreisen war nur für die Menschen gut, die sich erholen wollten. Es taugte nichts für Leute, die schwer bepackt durch ihr Leben stolperten.

      Nur wenige wussten allerdings von ihrem Trauma, von dem Tag vor zehn Jahren, der ihr Dasein so drastisch verändert hatte, dass sie ihr Leben nicht so führen konnte, wie andere es taten. Daniel gehörte zu diesen wenigen.

      Die Schuld lastete schwer auf ihren Schultern. Sie hatte sich einen leicht gebeugten Gang angewöhnt. Maria war es wichtig, nicht aufzufallen, leise zu existieren. War sie schon zuvor ein eher stiller und zurückhaltender Mensch gewesen, so steigerte sie sich mittlerweile dermaßen in ihren Rückzug hinein, dass sie kaum engere Bekanntschaften oder Freunde an ihrer Seite duldete. Maria glaubte, dass alle Lebewesen, die zu dicht an sie herankamen, dazu verurteilt waren, Schlimmes zu erfahren­. Sie verstieg sich in schlechten Phasen so weit, sich selbst als Überbringerin des Bösen schlechthin zu sehen.

      Sie duldete nur wenige Menschen in ihrer unmittelbaren Umgebung. Daniel eben, ihren Sandkastenfreund. Und Onkel Karl, den Bruder ihrer Mutter. Da Onkel Karl alleinstehend war, hatte ihre Mutter ihm irgendwann angeboten, bei ihnen einzuziehen. So lebte er, seit sie denken konnte, bei ihnen und spielte seitdem eine wichtige Rolle in ihrem Leben. Einen Vater kannte Maria ohnehin nicht.

      Er war ein stiller Zeitgenosse, passte mit seiner Art zu Maria, weshalb sie sich in seiner Nähe auch unglaublich wohlfühlte. Weil ihre Mutter sich nur wenig um sie gekümmert hatte, war er es, der mit ihr zum Schwimmen gegangen war, war er es, der sie in jenem Sommer zum Anleger gebracht hatte. Und dort in Empfang genommen hatte, als sie zurückgekommen war. Schwer bepackt mit einer Schuld, die eine Fünfzehnjährige genauso wenig tragen konnte wie eine heute Fünfundzwanzigjährige.

      Ihr Onkel versuchte immer wieder, sie mit Gleichaltrigen bekannt zu machen, motivierte sie, dem Sportverein beizutreten. Doch ab dem Augenblick, in dem sich jemand mit ihr verabreden wollte, tauchte Maria nicht mehr auf. Sie hatte kein Interesse an einer Freundschaft, konnte die Nähe anderer Menschen nicht ertragen.

      Jede Nacht schreckte sie hoch. Träumte den immer gleichen Traum.

      Sie ist gefangen im Nebel, sucht Achim. Sie riecht seine Haut, spürt die kleine Hand in ihrer. Manchmal haucht er sie mit seinem Atem an, fragt, wo sie sei, warum sie nicht käme. Ihm sei so kalt. Maria kämpft sich zu ihm durch, kann aber immer nur sein blaues T-Shirt sehen. Es ist leer. Kein Achim steckt darin. Nur seine Stimme ist zu hören, bis auch sie sich weit entfernt.

      Wenn sie erwachte, war die Last oft so schwer, dass sie kaum aus dem Bett kam. Sie hatte Achim damals im Stich gelassen. Ihn allein in sein Verderben geschickt, wo er von einer Macht aufgefressen wurde, die sie nicht hatte beeinflussen können.

      Keiner hatte ihr dafür die Schuld gegeben. Alle hatten sie getröstet. Der Seenebel sei schon oft eine tödliche Gefahr gewesen. Er komme und verschlucke die Welt. So auch Achim. Er war nie wieder aufgetaucht, seine Leiche hatte man nie gefunden. Er war vom Meer und diesem grauenhaften Nebel einverleibt worden.

      Die Feuerwehr hatte die Suche nach einiger Zeit eingestellt, behauptet, Achim sei wahrscheinlich in Panik geraten, hatte die Orientierung verloren. Dabei sei er ins Meer hineingestolpert, in der Senke verschwunden und später mit der Ebbe in die Nordsee hinaus gespült worden.

      All das konnte Maria nie beruhigen, ihr nie die Last von der Seele nehmen, dass sie schuld war an seinem Verschwinden. Hätte sie ihn damals nicht laufen lassen, wäre ihm nichts passiert.

      Sie stolperte mit halb geschlossenen Augen in die Küche, stellte den Wasserkocher an, um sich einen Tee aufzubrühen. Die meisten ihrer Bekannten hatten mittlerweile diese neumodischen Kaffeevollautomaten und tranken mit Vorliebe Latte Macchiato oder Cappuccino. Sie selbst war noch immer ein eingefleischter Teetrinker, der an dem alten Zeremoniell festhielt, sich die Mühe machte, die richtige Zeit des Ziehens abzuwarten und beim Trinken kleine Tassen zu verwenden. Bei jedem Einschenken musste der obligatorische Kluntje knacken, sonst war es nicht gut. Dieses »gut« war unglaublich wichtig in Marias Dasein. Wenn nichts in Ordnung war, so sollte es doch wenigstens dieser winzige Bestandteil ihres Lebens sein.

      Egal, was noch kommen mochte, sie, Maria, war Teetrinkerin. Es war, als sei dieses Ritual so etwas wie ein Halt, der sie begleitete, der ihr vermittelte, alles sei so, wie es sein müsse.

      Während das Wasser kochte, schleppte sie sich zum Briefkasten und entnahm ihm die Tageszeitung.

      *

      Daniel stand am Fenster und wartete wie jeden Morgen darauf, dass Maria loszog. Gestern Abend hatte sie das Licht in ihrem Zimmer erst spät ausgemacht. Daniel wusste immer sehr genau, was sie tat. Er liebte es, sie beim Fensterputzen oder Rasenmähen zu beobachten, mochte ihren Gang, der so anrührend schleppend war. Ihre leicht gebeugten Schultern weckten in ihm den Beschützerinstinkt. Wie gern würde er seine Arme darum legen, sie auffangen und nach und nach aufrichten.

      Er sah, dass Maria die Tür öffnete und sich auf den Weg zum Bäcker machte. Drei Brötchen kaufte sie dort jeden Morgen. Ein »Weltmeister«, das sie jedoch erst am Mittag zu sich nahm, ein »Mohn«, dessen Hälften sie dick mit Erdbeermarmelade beschmierte und ein »Normales«. Das aß sie immer mit viel Remoulade und Käse.

      Daniel wusste alles über Maria. Wusste, dass sie darunter litt, ein paar Kilos zu viel auf die Waage zu bringen, wusste, dass sie es aber verabscheute, sich übermäßig zu bewegen. Hin und wieder hatte er versucht, sie zu überreden, ihn zum Joggen zu begleiten, aber das hatte Maria vehement abgelehnt. Sie hasste es zu schwitzen.

      Sie würde in circa fünf Minuten zurück sein, die Tageszeitung unter den Arm geklemmt, die Brötchentüte in der Hand, den Schlüssel bereits vorgestreckt in der anderen. Sie hatte es immer unglaublich eilig, rasch in ihrem Haus zu verschwinden. Dort war der einzige Ort, an dem sie sich sicher fühlte. Maria lebte wie eine Einsiedlerin mit ihrem verschrobenen Onkel.

      Daniel hätte so gern mehr Kontakt zu ihr, würde ihre Mauern gern Schicht für Schicht abtragen. Sie ließ ihn nicht.

      Also blieb ihm nur, sie weiter zu beobachten, alles in sich aufzusaugen, zu speichern. Bis sie ihn erhörte. Jedes Opfer würde er dafür bringen. Er brauchte Maria wie keinen Menschen auf der Welt. Sie war die Einzige, die ihn erretten konnte.

      *

      Rothko sah sich in seiner Dienstwohnung um. Die karge Einrichtung kam ihm eigentlich entgegen, wenngleich er das Sofa gern gegen ein anderes ausgetauscht hätte. Er ging in die Küchenecke, füllte etwas Kaffeepulver ein, er hatte die Nase von dem Pulvergesöff so was von voll. Er wollte einen zweiten Versuch mit der Maschine wagen. Er war eigentlich nicht pingelig, aber das Weiß des Kalkes war auch ihm aufgefallen.

      Der Kaffee hatte fast keinen Geruch, das Pulver wirkte blass. Angeekelt schubste er den ausgefahrenen Filter zurück und stellte die Taste an. Wider Erwarten konnte er den Geruch von Kaffee tatsächlich erahnen. Das Wasser rülpste sich durch die Maschine. Er nahm die Kanne und goss sich die fast schwarze Brühe ein. Schon der erste Schluck war