Regine Kölpin

Otternbiss


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zu können.

      Unten am Weg stand ein Pfahl mit einer Tafel darauf. Maria fühlte sich magisch angezogen. Und gehen hieß das Gedicht. Sie würde gehen. Sie würde sehen, atmen und am Ende hören, was das Leben ihr zu sagen hatte. Sie ging los, ihren neuen Weg entlang.

      *

      Daniel hatte Maria vorhin fortgehen sehen. Mit dem Trolley in der Hand. Er konnte das nicht zulassen. Sie war seine Braut, auch wenn sie das noch nicht wusste. Was hatte er nicht schon für sie getan. Und er wollte es noch weiter tun. Liebe kannte keine Grenzen. Ihm war klar, wohin sie unterwegs war und er würde ihr nach Wangerooge folgen. Nicht einen Schritt durfte sie ohne ihn machen. Er musste auf sie aufpassen. Das hatte er sein Leben lang so gehalten. Auch als die Sache mit dem Jungen damals passiert war, war er da gewesen.

      Sie hatten sich zusammen für die Betreuung der Kinder angemeldet. Das heißt, sie hatte sich angemeldet und er hatte es ihr gleichgetan. Nur in ihrer Nähe wollte er sein. Es war für ihn so wichtig wie essen und trinken. Auch wenn sie seine Sehnsucht nicht erwiderte, nicht begriff, welche Anziehungskraft sie auf ihn hatte. Er liebte ihren warmen Blick, der in den letzten Jahren von so unglaublicher Traurigkeit geprägt war. Er liebte ihren recht kräftigen Po, der für ihn nicht dick, sondern einfach wahnsinnig weiblich war. Er liebte den vollen Mund, der sich viel zu selten zu einem Lachen verzog, obwohl Marias Schönheit erst durch ein Lächeln richtig zur Geltung kam. Er liebte sogar ihre kleine Speckfalte oberhalb des Hosenbundes, die sich auch mit geschickter Kleidung nur schwer verbergen ließ. Sie gehörte zu Maria, genau wie ihre Wortkargheit, die sie nur durchbrach, wenn sie wirklich etwas zu sagen hatte. Maria war keine Frau, die wahllos drauflosplapperte. Sie redete nur, wenn sie es für unabdingbar hielt.

      Daniel kniff die Augen zu. Warum nur wollte sie nun nach Wangerooge? Er selbst segelte ab und zu rüber, versuchte aber, die Kindermassen nicht zu beachten, die das ganze Jahr über aus den Schullandheimen über die Insel schwärmten.

      Er dachte an den liebevollen Blick, mit dem Maria dieses hässliche sommersprossige Kind damals immer angesehen hatte. Das, was aussah wie einer der Simp­sons. Oder wie ein aus dem Nest gefallener Vogel. Er fand keinen passenden Vergleich, weil es für diese Ausgeburt an Hässlichkeit keinen gab. Er war schlaksig und eigenwillig gewesen. In Daniels Augen auch viel zu besitzergreifend. Wenn er nur an dieses blöde Lied dachte, das der Kleine ständig beim Anziehen gesungen hatte: »Erst die Schuhe, dann die Jacke, dann die Mütze, dann der Schal.«

      Dabei hatte er gekichert. Weil Sommer war und er weder Mütze noch Schal brauchte. Wenn er die Handschuhe dazu kreierte, hatte er sich schließlich vor Lachen auf dem Fußboden gekugelt.

      Dass der Seenebel Achim mitgenommen hatte, war für Daniel eine gute Fügung des Schicksals gewesen. Verschluckt und weg. Das durfte er natürlich nur denken, solche Gedanken sprach man nicht aus.

      Maria hatte sich danach Hilfe suchend an ihn geklammert. Sie war so froh gewesen, dass er da war. Daniel, ihr bester Freund. Er, der ihr sacht über das halblange Haar gestrichen hatte. Eine Strähne nach der anderen war ihm durch die Finger geglitten. Maria hatte unvergleichlich weiches Haar. Sie hasste es, weil sie es nicht richtig frisieren konnte. Nicht eine Spange hielt darin. Daniel aber liebte es. Diese Gar-nichts-Farbe, die Marias Onkel liebevoll als straßenköterblond bezeichnete.

      Er sah es noch sacht im Wind fliegen, als sie gerade mit ihrem Trolley um die Ecke gebogen war. Er würde ihr folgen. Wie er es immer in seinem Leben getan hatte. Und wie immer würde sie es hinnehmen, es nicht wirklich bemerken.

      *

      Angelika Mans hatte rotgeweinte Augen. Ihre Gesichtszüge waren erstarrt, wirkten maskenhaft. Rothko war klar, dass er vorsichtig vorgehen musste. Diese Frau war in ihren Grundfesten erschüttert worden. Sie schwebte ohne Halt durchs Leben, wusste noch nicht, wie sie sich ohne ihr Kind neu platzieren sollte, ja wie sie überhaupt ohne Lukas weiterleben konnte. Wobei er aus Erfahrung wusste, dass das Ausmaß des Schmerzes, die ganze Intensität, noch gar nicht bei ihr angekommen war.

      Rothko hatte Tee gekocht, aber der war ihm nicht so recht gelungen. Er hatte eine uringelbe Färbung und erinnerte nur mit großer Fantasie an das, was man echten Ostfriesentee nannte. Angelika Mans schien es egal zu sein. Sie hatte wahrlich andere Sorgen, als sich um schwachen oder starken Tee zu kümmern. Wahrscheinlich schmeckte sie den Unterschied nicht einmal.

      »Wissen Sie, wo der Kleine an diesem Morgen hinwollte?« Rothko bemühte sich um einen sensiblen Tonfall. Am liebsten würde er schweigen, gar nichts sagen, aber das war in diesem Fall völlig unmöglich. Er musste den Menschen finden, der dieser Frau und ihrem Kind das angetan hatte.

      Angelika schüttelte den Kopf. Nein, sie wisse nicht, wo er hinwollte. Normalerweise schlafe ein Kind um diese Zeit und treibe sich nicht draußen herum.

      Ganz langsam bewegte sie dabei ihren Kopf hin und her, wurde mit ihrer Bewegung aber immer schneller. Am Ende schleuderten die aschblonden Haare um ihr Gesicht, bis sie abrupt innehielt. Gleichzeitig mit diesem Stopp sank ihr Kopf auf die Tischplatte. Die Frau war einfach erledigt. Viel mehr als gestern würde nicht aus ihr herauszukriegen sein. Der Schmerz hatte ihre Sinne betäubt, duldete keine nähere Erinnerung an das, was so wehtat, dass es nicht auszuhalten war.

      Rothko, der keine Kinder hatte, bekam eine vage Ahnung davon, dass man ein Stück von sich selbst verlor, wenn ein Kind plötzlich nicht mehr da war. Angelika Mans kam ihm wie abgeschnitten vor. Nicht so, als fehle ihr mindestens ein Körperteil, sie wirkte eher wie seelenamputiert.

      Ihre Stimme klang dumpf, als sie wie zur Bestätigung sagte: »Es ist, als habe man ein Stück vom Herzen entfernt. Mein Zentrum fehlt, Herr Kommissar. Alles verliert seinen Sinn. Ohne ihn.« Sie hob kurz den Blick. »Ohne Ehepartner kann man leben. Das habe ich begriffen, als er mich wegen einer anderen verlassen hat.« Sie warf mit einer energischen Handbewegung die Haare über die Schultern. »Das war nichts gegen das, was jetzt in mir vorgeht.« Ihr Kopf sank zurück auf die Tischplatte.

      Es hatte etwas von »Vorhang zu«, dachte Rothko.

      »Nichts«, wiederholte sie.

      Der Kommissar räusperte sich. So kam er nicht weiter. Aber er hatte absolut keine Lust, sich einen Seelenklempner dazuzuholen, der ihm auch noch ins Handwerk pfuschte. Irgendwie musste er selbst an die Frau herankommen.

      »Wo ist Ihr Mann denn jetzt?«, fragte er.

      Angelikas Schultern zuckten fast unmerklich. »Ex-Mann«, korrigierte sie. »Keine Ahnung. Er tourt durch die Welt. Mit seiner Neuen.«

      »Es ist aber ausgeschlossen, dass er sich auf Wangerooge befindet?«

      Angelika erhob ihren Kopf. Sie zupfte ein Papiertaschentuch aus der Tasche. Rothko erwarte, dass sie sich nun kräftig schnäuzte. Ihre Stimme klang von dem vielen Weinen ganz näselnd. Als sie mit den Fingern über die Nasenspitze wischte, zog sich glasiger Schleim über ihr Handgelenk.

      Angelika tupfte sich mit dem Taschentuch zunächst vorsichtig über die Augen, tastete sich hinunter zum Nasenflügel, den sie beim Abwischen hin und her bewegte. Danach war ihre Haltung merklich aufgerichteter und die Stimme fester. »Mein Ex-Mann hasst die Insel. Zumindest hat er das während unserer Ehe getan.« Sie schaute Rothko fest an. »Ich glaube, ehrlich gesagt, nicht, dass er hier ist oder war.«

      »Weiß er denn Bescheid?« Rothko nahm einen Schluck von dem blassen Tee und verzog angewidert das Gesicht. Der Kaffee oben war schon eine Katastrophe, aber dieses Gebräu grenzte an Folter. Zum Teufel, warum hatte sein Inselkollege nicht einmal hier eine Kaffeemaschine? Er schien eingefleischter Teetrinker zu sein. Rothko hatte nichts gegen Sitten und Gebräuche, aber man musste schließlich nicht dogmatisch an allem festhalten, wenn es bessere Alternativen gab.

      »Nein, Herr Kommissar. Er hat sein Handy ausgeschaltet. Ich habe am Tag vor Lukas’ Verschwinden mit ihm gesprochen.« Sie hielt inne, sprach dann sehr überlegt weiter, als müsse sie die Tragweite eines jeden Wortes genau abwägen. »Gestritten haben wir. Über nichts, wie immer. Lukas hat das völlig verstört.« Sie schluckte. »Auch wie immer. Aber ich kann Ihnen nicht sagen, wo er sich gerade aufhält.« Sie tupfte ihre Augen trocken. »Darüber haben wir nicht geredet. So war das dauernd.« Angelika Mans sah ihn von unten