Hermann Moser

Benoni


Скачать книгу

kann man wohl sagen. Die DNA hat tatsächlich ein Ergebnis geliefert.“

      Paul schaltete den großen Bildschirm ein und zeigte ein Foto. Nyoko ging zum Monitor. „Das ist doch Garri Kasparow? Was hat die Schachlegende mit Friedrich zu tun?“

      „Alle schauen immer nur auf die großen Meister, wobei ich das zumindest bei dir verstehen kann. In diesem Fall solltest du die Aufmerksamkeit auf den blassen Herrn neben dem Weltmeister richten. Der hatte an diesem Tag seine große Stunde und den damals beinahe Unbesiegbaren geschlagen.“

      Nyoko betrachtete das Bild. „Diese Augen! Genau wie bei Friedrich. Willst du sagen, dass …“

      „Genau! Darf ich vorstellen? Frank Pottersfeld, der Großvater deines Enkels.“

      „Jetzt muss ich mich setzen.“ Sie setzte die Ankündigung um und schüttelte den Kopf. „Und ich wollte Christian den Unsinn mit der DNA-Probe für einen 28 Jahre alten Fall ausreden.“ Der Ehemann grinste breiter als seine Frau am Vortag bei der Siegerehrung. Sie schloss die Augen. „Erzählt mir von ihm.“

      Paul zeigte die Wikipedia-Seite zu Frank Pottersfeld auf dem Bildschirm. „1964. Geboren in Leipzig. Bibliotheksfacharbeiter. Schachspieler. Beste Weltranglistenposition 67. 1989 Kasparow-Sieg. Lebensgefährtin Irene Kupfer. Schwanger. Turnier in Wien. Tot.“ Paul war im vergangenen Jahr in den Kopf geschossen worden und die Ärzte hatten bei der Notoperation auch noch einen Tumor entdeckt. Seither war er wegen spastischer Lähmungen an den Rollstuhl gefesselt und das Sprachzentrum ließ nur noch Satzfragmente heraus. Sein Talent auf dem Computer blieb aber unbeeinträchtigt und er konnte mit einem Sonderstatus als im Dienst verletzter Polizist weiter bei den Keystone Cops arbeiten.

      Johann stellte sich zu den Ordnern. „Frank Pottersfeld hat im November 1989 ein Turnier in Wien gespielt und war auffallend nervös. Dann haben sich Krankheitssymptome eingestellt und er ist während einer Partie kollabiert. Aus dem Koma ist er nicht mehr erwacht und ein paar Tage danach im AKH gestorben. Es hat keinen endgültigen Befund gegeben, der Arzt im Krankenhaus hat den Verdacht auf ein unbekanntes Gift angegeben. Der Pathologe hat auch nichts gefunden. Pottersfelds Lebensgefährtin Irene Kupfer, offensichtlich Friedrichs Mutter, war auch in Wien und ist nach dem Kollaps von Pottersfeld spurlos verschwunden. Sie war damals im neunten Monat.“

      Nyoko streckte den Daumen nach oben. „Männer! Souverän gelöst! Wir kennen Friedrichs Eltern. Schon haben wir einen neuen Fall. Ich will Pottersfelds Mörder fassen! Zu Kupfer stelle ich folgende These auf: Das Paar wird bedroht. Er wird vergiftet und sie taucht unter. Sie bringt das Kind zur Welt und gibt es weg, weil sie Angst vor dem Mörder hat und Friedrich schützen will. Was ist danach passiert? Entweder ist sie gefunden und auch ermordet worden, oder sie lebt irgendwo mit einer neuen Identität und traut sich noch immer nicht aus der Deckung. Was für furchterregende Feinde müssen das heute noch sein? Noch eins: Ernst hat es geahnt, als Christian Schach erwähnt hat. Der Kerl hat nichts gesagt. Ich muss meinen Vorgesetzten besser erziehen.“

      Nicht ahnend, dass Nyoko gerade plante, ihm die Leviten zu lesen, betrat Ernst Stockhammer den Raum. Der Oberst war sichtlich verärgert. „Nyoko! Wir haben ein Problem. Seit ich dich zu meiner Stellvertreterin ernannt habe, obwohl du die jüngste und rangniedrigste meiner Abteilungsleiter bist, wird permanent intrigiert. Neid, Eifersucht und Unverständnis über mein Konzept, euch Narrenfreiheit zu geben, treiben immer neue Blüten. Sie beschweren sich sogar, dass du deinen Mann immer so verliebt anschaust. Die DNA-Analyse für eine private Ermittlung hat sich herumgesprochen. Jetzt wird scharf geschossen. Am liebsten würde ich alle zu einem Karate-Training mit dir verdonnern. Ich brauche dringend etwas, um die DNA zu rechtfertigen, bitte gebt mir irgendetwas.“ Er blickte um sich. „Wie sieht es denn hier aus? Ihr ermittelt den zweiten Arbeitstag eine uralte Kindesweglegung und schon ist euer Büro voll mit Akten und Beweismitteln. Findet ihr wieder einmal Zusammenhänge, die sonst keiner sieht?“

      Erst jetzt sah er das Bild auf dem großen Bildschirm und starrte es mit offenem Mund an. „Also doch. Pottersfeld. Ist er der Vater?“

      Der Oberst setzte sich auf die Besprechungscouch. „Nyoko, schau mich nicht so streng an. Der Gedanke an Pottersfeld ist mir schon am Freitag gekommen. Ich wollte aber sichergehen und euch nicht umsonst Flausen mit der alten Geschichte in den Kopf setzen. Ihr gebt dann ja keine Ruhe, bis ihr es gelöst habt, egal was sonst noch ansteht. Mit der DNA sollte sich das klären. Ich muss wohl nicht nachdenken, ob ich euch den Auftrag für die Wiederaufnahme des Falles gebe. Das sind noch mehr Akten, als ich erwartet hätte.“

      „Wir haben nicht nur Pottersfeld ausfindig gemacht. Die Krankenschwester, die Friedrich gefunden hat, war wahrscheinlich nicht nur Finderin, sondern an der Kindesweglegung beteiligt. Sie ist ein paar Wochen später ermordet worden. Dieser Fall ist auch ungeklärt.“

      „Denkt ihr, dass das alles zusammenhängt? Ihr beginnt bei einer Geburt und findet zwei Morde.“

      Nun mischte sich auch Christian ein. „Ernst, im Leben hängt alles irgendwie zusammen, zum Beispiel dein blaues Auge letzte Woche mit dem Sieg eines DDR-Schachspielers gegen Kasparow vor 28 Jahren. Uns würde brennend interessieren, welche Fäden dich sonst noch mit diesem Fall verbinden.“

      „Das war damals eine riesige Sonderkommission, da das Opfer ein internationaler Prominenter war. Die Ermittlungen sind sehr schleppend geführt worden. Die Welt war im Umbruch, das Herkunftsland des Opfers konnte nicht einmal mehr von einer Mauer zusammengehalten werden. Der Tote war zuletzt auch durch Regimekritik aufgefallen. Mein Eindruck war, dass man in der kritischen Situation seines Heimatlandes nicht in die Weltgeschichte eingreifen wollte. Es gab nur drei Querulanten: Euren ehemaligen Chef, mich und Wolfgang Jacobs, der damals noch Assistent am Institut für Pathologie war. Rufen wir die beiden dazu.“

      Harald Ritter wurde immer noch von allen „der Chef“ genannt, selbst von Menschen, deren Vorgesetzter er nie war. Der Mann, der die Idee hatte, Leute mit außergewöhnlichen kreativen Talenten abseits des Berufes in eine Gruppe zu spannen und so den etwas chaotischen, aber sehr erfolgreichen Haufen der Keystone Cops geschaffen hatte, arbeitete jetzt in einer Stabstelle und beriet die höchsten Führungsebenen.

      Ritter kam gleichzeitig mit Professor Wolfgang Jacobs, dem Institutsvorstand für Gerichtsmedizin und Schwiegervater von Klaus. Nach der Begrüßung kam Nyoko wie üblich schnell zur Sache. „Es schaut so aus, als ob ihr einiges zu berichten hättet. Eines frage ich mich schon den ganzen Tag: Pottersfeld wurde 1989 ermordet. Warum ist die DNA in der Datenbank?“

      Ernst lächelte zufrieden. „Du bemerkst aber auch alles. Damals war der Chef der Jungstar in der Wiener Kriminalpolizei und noch nicht lange Gruppenleiter. Er ist wegen seiner kritischen Fragen in der Soko schnell kaltgestellt worden. Ich war noch der Anfänger für die Kopierdienste. Dabei habe ich immer mitgelesen und Harald mit Informationen versorgt. Schließlich sind wir beide aus der Sonderkommission geflogen. Harald hat mich später in seiner Gruppe aufgenommen.“

      Der Chef zog an seiner kalten Pfeife. „1996 haben wir beschlossen, den Fall wiederaufzunehmen. Es gab jetzt die DNA-Analyse und Datenbanken. Außerdem war Österreich der EU beigetreten und Deutschland wiedervereinigt. Wir haben auf die internationale Zusammenarbeit gehofft. Doch dann ist Ernsts Frau ermordet worden …“

      Nyoko sprang auf. „Oh mein Gott! Das war damals? Vielleicht wollte man euch vom Pottersfeld-Fall ablenken.“

      Ernst verschränkte die Arme und zog die Schultern hoch, als ob ihm plötzlich kalt wäre. „Sicher nicht. Wir haben den Mörder geschnappt. Es war ein Krimineller, der uns schon öfter beschäftigt hatte. Er war 20 Jahre alt, beim Pottersfeld-Mord also gerade mal 14. Er ist allerdings wegen eines Formfehlers aus der Untersuchungshaft entlassen worden. Einen Tag später hat man ihn selbst ermordet.“

      Nyoko betrachtete die Aktenberge. „So sicher wäre ich mir da nicht. Er könnte ein Auftragsmörder gewesen sein und als er gefasst worden ist, haben die Männer im Hintergrund den Versager exekutiert. Ich will die Akten sehen!“

      Christian stöhnte. „Ich wollte eine Geburt ermitteln und jetzt stehen wir vor vier Morden.“

      Auch Ernst war verzweifelt. „Nyoko, bist du dir sicher, dass du dich nicht verrennst?