Verlages in Tel Aviv erzählte ihm, dass längst alle Exemplare eingestampft worden waren. Der Autor war vor einigen Jahren bei einem Unfall gestorben. Es gab aber auch eine deutsche Übersetzung. Christian versuchte mehrmals, den Verlag in Hamburg zu erreichen, allerdings ohne Erfolg. Er rätselte, ob das Personal des Buchhauses womöglich nur aus einem Anrufbeantworter bestand. Seine Ungeduld wurde von Benjamin abgelenkt, der gegen das Telefon um Aufmerksamkeit kämpfte. Nach den Verlagen rief Christian Freunde an. Er hoffte, dass irgendwo in der Diaspora ein Exemplar des hebräischen Buches aufzufinden war. Benjamin verfolgte den Klang von Christians linguistischem Talent und lachte bei jeder neuen Sprache. Melodisches Französisch, temperamentvolles Italienisch, brummendes Russisch. Der Bub bemerkte nicht, dass Christian arbeitete. Der Keystone Cop glitt tatsächlich manchmal ins Privatvergnügen ab. Ein Anruf in Namibia war wohl keine fokussierte Strategie für die Suche nach einem hebräischen Schachbuch. Aber Benjamin hatte großen Spaß mit den Versuchen, die Klick-Laute des Khoekhoegowab zu imitieren. Christian wollte gerade von seiner Aufgabe noch weiter abschweifen und einen Inuit anrufen, um Benjamin die eskimoaleutische Sprache näherzubringen, als sein Telefon läutete und eine Nummer aus Hamburg anzeigte. Es meldete sich eine Mitarbeiterin des Verlages, in dem die deutsche Übersetzung erschienen war. Christian stellte sich vor. Die Frau lachte etwas verwundert. „Ein Anruf der österreichischen Kriminalpolizei ist bei uns etwas sehr Exotisches. Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Ich bin auf der Suche nach dem Schachbuch ‚Benoni – Schlachten auf dem Damenflügel‘, das in den Achtzigerjahren in Ihrem Verlag erschien. Besitzen Sie eventuell noch ein Exemplar, das Sie mir schicken könnten?“
Sie lachte. „Das haben wir schon vor langer Zeit makuliert. Es war einer der größten Flops unseres Hauses.“
„Das ist schade. Sie scheinen sich sehr lebhaft daran zu erinnern. War es so ein spektakulärer Ladenhüter?“
„Nein, das Bemerkenswerteste an diesem Buch waren die Diskussionen mit den ostdeutschen Behörden.“
Christian fühlte sich wie nach der Infusion von drei Tassen Mokka. „Sie mussten sich mit der DDR plagen? Was war das Problem?“
„Sie haben uns keine Einfuhrgenehmigung erteilt.“
„Das Buch war in der DDR verboten?“
„Nicht direkt verboten, aber auch nicht erlaubt. Sie haben unseren Antrag ewig liegen gelassen. Als wir nachfragten, mussten wir ein neues Formular ausfüllen. Das kam zurück mit einer langen Liste von Ergänzungsforderungen. Als wir die beisammenhatten, wurden wir an ein anderes Amt verwiesen. Das war aber auch nicht zuständig und wir landeten wieder beim Ersten, das wieder monatelang nicht reagierte. In der Zwischenzeit haben wir festgestellt, dass sich sowieso niemand für das Buch interessierte und die Bemühungen aufgegeben. Man kann Bürokratie sehr effizient einsetzen, um etwas zu verhindern. Aber können Sie mir sagen, was in diesem Buch damals die Behörden der DDR störte und jetzt jene aus Österreich interessiert?“
„Ich verspreche Ihnen, mich zu melden, wenn ich es weiß. Könnten Sie bitte noch einmal nachschauen, ob nicht doch ein Exemplar in Ihrem Keller verstaubt?“
Während sich Christian verabschiedete, kam Nyoko aus dem Krankenhaus Rudolfstiftung zurück und nahm Christian den Buben ab. „Hallo! Das muss ein interessantes Telefonat gewesen sein. Du siehst aus wie eine Eule, die zum ersten Mal ein Flugzeug sieht.“
„Und das ist gleich ein Jumbojet. Eine Verlagsmitarbeiterin aus Hamburg erzählte mir eben, dass die DDR-Behörden dem Benoni-Buch die Einfuhr verweigerten. Warum verbietet ein Staat ein Schachbuch?“
„Du wirst mit deiner hartnäckigen Vorliebe für Skurriles doch nicht schon wieder die richtige Nase bewiesen haben?“
Nyoko wurde von Christians Telefon unterbrochen. Er wechselte ein paar Sätze mit dem Anrufer und schrieb sich eine Adresse auf. „Ich komme sofort. Bis gleich!“
Christian holte seine Waffe aus dem Schrank und hängte sich das Schulterholster um. Während er sein Leinensakko anzog, berichtete er Nyoko. „August Unterberger vom LKA hat mich angerufen und um Assistenz gebeten.“
„Worum geht es? Kinder oder Exoten?“
„Beides. Ein afrikanisches Ehepaar wurde in der Herbeckstraße ermordet. Das vierjährige Kind klammert sich jetzt an seine tote Mutter und lässt sich nicht von ihr trennen. Wahrscheinlich musste der Junge den Mord an seinen Eltern mitansehen.“
„Du liebe Güte! Der Multilinguist und Spezialist für Kinderbefragungen in Personalunion. Man könnte fast glauben, der Mörder will unbedingt dich als Ermittler.“
„Na klar! Die Stasi fand heraus, dass ich das Schachbuch suche, und lockt mich zu einem afrikanischen Tatort. Wenn jetzt auch noch ein J’arrive-Transparent auf dem Haus hängt, schalte ich die Staatspolizei ein.“
Während Christian in den 19. Bezirk fuhr, herrschte in der Lustoase ungewöhnlicher Hochbetrieb für diese Tageszeit. Auf dem Boden lagen viele Kabel und einige Kameras waren aufgestellt. Scheinwerfer sorgten für grelle Beleuchtung. Komparsinnen bemühten sich, nuttig auszusehen. Ein bekannter TV-Schauspieler stritt mit dem Regisseur. Der Chef des Etablissements, trotz seiner Größe von 162 Zentimetern als „Der große Karl“ bekannt, sah einen unerwarteten Besucher kommen. „Johann Sturmaier! Das ist eine nette Abwechslung zu dem Trubel hier.“
„Servus Karl! Hast du dein Lokal wieder einmal für einen Filmdreh vermietet?“
„Die machen einen Fernsehkrimi. Es geht um einen Polizisten, der Unterweltkontakte in einem Puff pflegt, und jetzt kommst du. Stell dir vor, die haben mir gesagt, dass meine Einrichtung nicht authentisch wirkt. So ein Fernsehküken, dessen Mutter schon bei mir gearbeitet haben könnte, will mir erklären, wie ein Bordell auszusehen hat. Ich stelle ihn dir vor. Er meint sicher, dass du nicht wie ein echter Polizist ausschaust.“
„Dafür fehlt mir die Zeit“, murrte Johann. „Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen.“
„Ich habe dir doch schon oft gesagt, dass ich nicht schuld bin, wenn meine Gäste außerhalb meiner Räume etwas anstellen. Das ist ein Ort der Liebe.“
„Warum drehen sie dann hier immer nur Krimis und keine Romantik-Schmonzetten? Inzwischen wird jeder zweite heimische Fernsehkrimi bei dir gedreht. Heute suche ich bei dir ausnahmsweise keine Täter, sondern Opfer. Mir ist aufgefallen, dass bei deinen Gästen die Anzahl der Finger leicht unter dem Durchschnitt liegt. Wie kommt es dazu?“
Karl versuchte, eine Weinflasche zu öffnen. Er rutschte mit dem Korkenzieher ab und schlug sich eine Wunde in den linken Handrücken.
„Autsch! Verdammt! Was gehen mich die Verletzungen meiner Kunden an? Du solltest … lass es lieber.“
„Warum bist du so nervös? Das schaut ja schlimm aus. Brauchst du ein Pflaster?“
„Nein, danke. Das geht schon.“
„Also? Was ist nun mit den Fingern? Sind das Betriebsunfälle aufgrund der gefährlichen Berufe deiner Gäste? Gibst du Invaliden Rabatt? Warum?“
Karl blickte nervös um sich und sprach leise weiter. „Glaube mir, es hat keinen Sinn sich darüber Gedanken zu machen. Lass es einfach gut sein.“
„Hast du eigentlich den Kerl gekannt, der vor zwanzig Jahren die Frau von Ernst Stockhammer ermordet hat? Er ist ein paar Tage später selbst umgebracht worden. Man hat ihm drei Finger abgeschnitten.“
„Was willst du mit den alten Geschichten? Damals haben viele gedacht, dass das ein Polizist getan hat.“
„Du erinnerst dich also an ihn. Waren es dieselben Leute, die auch heute noch deine Gäste verunstalten? Du solltest mir helfen, die auszuschalten.“
„Nein, vergiss es! Da ist sicher kein Zusammenhang. Ich habe jetzt keine Zeit, die Filmleute brauchen mich.“
Vor dem Haus in der Herbeckstraße versuchte August Unterberger erfolglos, sein Hemd rundherum in die Hose zu stecken. Als er Christian sah, ging er ihm entgegen.
„Servus Christian! Danke, dass