Horst Lichter

Keine Zeit für Arschlöcher!


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mich kaum, zu Mutter rüberzuschauen. Kurze Pause, der Arzt sah auf ein großes Foto und kristallklar stand die nächste Hiobsbotschaft im Raum: »Gestreut in der Lunge. Tut mir leid. Das sieht wirklich nicht gut aus.« Mutter zeigte keine Regung, ich versuchte ebenfalls, gelassen zu bleiben. Dabei fühlte ich mich, als ob mich jemand stundenlang durchgeprügelt hätte.

      Wir fuhren schweigend in unsere Lethargie versunken nach Hause, während mein Kopf dröhnte wie ein Braunkohlebagger. Bei Mutter angekommen, haben wir die nächsten Termine beim Onkologen in unsere Kalender eingetragen. Dann wollte sie alleine sein.

      Die nächsten Tage waren grau und schwer wie Blei. Wir sprachen zwar über den Befund, aber seltsam abstrakt. Ohne irgendwelche Konsequenzen zu benennen. Die schwiegen wir tot.

      Natürlich verbreiten sich schlechte Nachrichten in der Nachbarschaft auf sehr mysteriöse Weise, weil man sich nicht im Entferntesten daran erinnern kann, irgendjemandem überhaupt etwas erzählt zu haben. Die ersten Freundinnen von Mutter und Nachbarinnen klingelten an. Zu meinem großen Erstaunen reagierte Mutter sehr krass: Diejenigen, die an der Tür weinten, schickte sie rigoros weg. Egal ob gute Freundin oder nicht. Sie wurde richtig fuchtig: »Jetzt pass mal auf, nicht ihr seid krank, ich bin krank! Ihr müsst nicht weinen. Wenn ich schon nicht weine, dann müsst ihr erst recht nicht weinen. Wenn ihr hier hinkommt, dann haben wir entweder Spaß und reden anständig, aber ich will hier kein Geheule. Sonst bleibt da, wo ihr seid!« Das haben diese Menschen auch nicht richtig verstanden, glaube ich. Für die meisten war das wohl einfach sehr, sehr hart.

      Hart für uns waren die nächsten Gespräche beim Onkologen. Auf meinen Wunsch hin wurde noch mal alles untersucht. Auch dieses Ergebnis war schrecklich. Gott sei Dank sprach der Professor wenigstens Klartext, zumindest habe ich das so empfunden: »Frau Lichter, wir würden von einer Operation absehen. Dieser Krebs ist nicht heilbar. Wir können operieren, ja – ob das aber dramatisch lebensverlängernd ist, kann ich Ihnen nicht versprechen. Vielleicht, aber eher nicht.« Klar, keiner der Ärzte konnte uns ernsthaft etwas versprechen, was Mutters Lebenserwartung betraf. Die haben immer gesagt: »Das kann ein halbes Jahr, das können aber auch fünf Jahre sein. Frau Lichter, wir sind nicht der liebe Gott und wir wollen auch nicht Gott spielen. Wir können nur von Erfahrungswerten reden, aber auch die werden immer mal widerlegt. Fahren Sie nach Haus und überlegen Sie ganz in Ruhe, was Sie machen möchten.«

      Und dann habe ich mit Mutter tage- und nächtelang überlegt, ob eine Operation Sinn macht oder nicht. Ich versuchte mit Engelszungen, Mutter von meinem Standpunkt zu überzeugen: »Mutter, du wolltest doch immer mit einem Kreuzfahrtschiff nach Venedig. Verdammt noch mal, ich habe jetzt zwei ganze Monate frei, lass uns das machen! Deine Träume leben, Spaß haben, was erleben. Pack die Koffer und los geht’s. Du kannst dich doch dann immer noch operieren lassen, wenn du unbedingt willst. Aber lass uns bitte fahren. Lass uns nach Venedig fahren, lass uns auf so ein Kreuzfahrtschiff gehen, lass uns den schönsten Urlaub deines Lebens machen!«

      Ich habe geredet und geredet. Mit Milch und Honig auf der Zunge. Aber Mutter saß nur vor mir, hat zugehört und mich mit verzweifeltem Blick angesehen. Nie geweint, nie geflucht, sich nie beschwert. Bis sie ihre Entscheidung traf: »Jung’, ich könnte niemals in den Urlaub fahren und wissen, der Tod wächst in mir. Das da muss raus. Wenn ich in Venedig den Gondeln zugucke, wie soll ich mich darüber freuen, wenn ich weiß, dass mein Körper voller Krebs ist und ich sterben muss?« Ich war wie vor den Kopf gestoßen, deprimiert und auch ratlos. Ich versuchte sie weiter zu begeistern und ihre Lebenslust neu anzufeuern: »Mutter, versuch doch den Moment zu genießen. Lass uns die Reise machen und danach kommst du zu uns ins Haus. Nada hat gesagt, sie kann dich pflegen, versorgen und mit den Ärzten alles regeln. Egal was da noch kommt, wir sind für dich da. Aber lass uns, solange es geht, noch gemeinsam Spaß haben.« Ich hab immer gesagt: »Egal wie du dich auch entscheidest, wir unterstützen dich.« Aber sie ließ sich nicht erweichen, nicht beirren, nicht umstimmen. Ihre Entscheidung war einsam unumstößlich. Mutter wollte die OP, um jeden Preis.

      3. Klartext

       im

       Krankenhaus

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      Auf unserer Suche nach einem guten Krankenhaus waren wir in Mönchengladbach fündig geworden. Professoren, Ärzte, Pflegepersonal und Einrichtung – alles stimmte. Die Menschen dort waren aufmerksam, höflich und Mutter fühlte sich gut aufgehoben. Unser Hotel war in Neuss und somit ganz in der Nähe. Auch der Rest der Familie und ihre Freunde aus Rommerskirchen mussten keine Weltreise unternehmen, um Mutter zu besuchen. Sie war nicht erpicht auf jeden Besuch, sondern sagte klar, wen sie sehen wollte und wen nicht. Natürlich durften wir nur die Leute über ihren Aufenthaltsort informieren, die Mutter abgesegnet hatte. Da war sie wirklich eisenhart. »Mit der will ich jetzt nicht mehr reden. Die braucht hier nicht herzukommen, die hat nur geheult bei mir – das kann ich nicht ertragen. Die kann sich wieder melden, wenn ich gesund bin, vorher will ich die nicht mehr sehen.«

      Sie hat dann auch ihrer guten Nachbarin, deren Mann der beste Freund meines verstorbenen Vaters gewesen war, verboten, ins Krankenhaus zu kommen. Unfassbar. Die waren ja nicht nur Nachbarn, sondern richtige gute Freunde, die über Jahrzehnte ganz eng mit meinen Eltern Tür an Tür gelebt hatten. Da ist sie an dem Tag, wo ich sie ins Krankenhaus gefahren habe, hingegangen und hat gesagt: »So, ich möchte mich verabschieden. Ich möchte nicht, dass ihr mich im Krankenhaus besuchen kommt. Ich will nicht, dass ihr mich seht, wie ich da sterbenskrank liege. Behaltet mich so in Erinnerung, wie ich mich heute von euch verabschiedet habe, denn ich glaube nicht, dass ich wieder nach Hause komme.« Wenn ich darüber nachdenke, dann werde ich verrückt.

      Ich werde nie verstehen, warum sie diese Operation wollte. Wenn sie es doch so geahnt hat, dass sie nicht wiederkommt – warum hat sie sich dann diese vermaledeite Operation angetan? Warum hat sie nicht mit uns so lange auf den Tischen getanzt, wie es ihr möglich gewesen wäre? In Venedig oder weiß der Kuckuck wo. Wahrscheinlich war es ihr einfach nicht gegeben. Sie war nicht der Typ dafür. Meine Mutter war eine sehr eigenwillige Frau mit ganz klaren Vorstellungen. Auch was ihr Erscheinungsbild betraf. Einmal in der Woche ging sie zum Friseur, das hat sie durchgezogen, bis es ihr im Krankenhaus nicht mehr möglich war. Die wäre niemals ohne gemachte Haare rausgegangen, aber hallo! Die war immer picobello, wie aus dem Ei gepellt. Und Gejammer hat sie gehasst: »Jung’, man jammert nicht. Schon gar nicht vor fremden Leuten. Man jammert überhaupt nie. Beiß die Zähne zusammen und sei tapfer! Und pünktlich.« Manchmal hatte ich den Eindruck, dass Mutter sich, wie viele andere ihrer Generation, das Leben ein bisschen zu schwer machte – mit diesen Tugenden aus dem Krieg und der Nachkriegszeit. Da fehlte ihr oft die Gelassenheit, die Leichtigkeit. Ihr ganzes Leben war geprägt von »Das macht man nicht«, »Was sollen bloß die Leute denken« und »Wie es in mir aussieht, das geht keinen was an«.

      In der Nacht vor der OP saß ich verzweifelt an Mutters Krankenhausbett. Und da passierte etwas sehr Seltenes und Schönes. Ich merkte – nein, ich konnte es richtig fühlen –, sie wollte unbedingt mit mir reden. Es lag ihr etwas auf der Seele. Und dann habe ich sie ganz vorsichtig gefragt, was ich unbedingt noch alles von ihr wissen wollte. Ich glaube, es war ihr mehr als nur recht. Die Geschichte, die uns wohl beide an diesem Abend am meisten bewegt hat, drehte sich um ihren lieben Mann. Meinen geliebten Papa.

      Mutter erzählte, wie sie meinen Vater damals in der »Gaststätte Winkler« in Rommerskirchen kennengelernt hatte. Eigentlich war die Kneipe für ein junges Mädchen wie sie natürlich tabu, aber ihr älterer Bruder wohnte mit seiner Frau im selben Ort und so traf sich die Familie an Silvester zum Feiern in der Gaststätte. An der Theke hat sie ihren Toni dann das erste Mal gesehen und ganz keck gefragt: »Wer ist das denn? Der gefällt mir aber.« Dann ist sie mir nichts, dir nichts zum Toni marschiert und die beiden haben sich angeregt unterhalten. Das blieb seinem Vater, also meinem späteren Großvater, nicht verborgen. Ein strenger Blick, ein zweiter – und dann gab es eine Ansage: »Komm, lass das junge Mädchen in Ruhe. Die ist zu jung für dich.« In der Tat war meine Mutter zehn Jahre jünger als Papa, aber hinter dieser Deutlichkeit steckte noch etwas anderes. Mein Großvater wollte einfach nicht, dass sich sein Sohn mit Frauen beschäftigte. Der sollte schuften und sonst nix.

      Mein Vater Toni war zu Hause