Horst Lichter

Keine Zeit für Arschlöcher!


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weg. Ich lief verzweifelt weiter zum Schuster, fragte alle, die dort waren, ob jemand eine Geldbörse gefunden und abgegeben hätte. Aber es hatte keiner was gefunden. Dann lief ich raus und suchte überall wie bekloppt. Das Portemonnaie war weg! Ich traute mich kaum nach Hause, hysterisch vor Angst. Lief dann noch mal zurück ins Dorf, um alles noch mal abzusuchen. Zwecklos. Über die sieben Mark und 40 Pfennig wird sich wohl jemand sehr gefreut haben. Wie schon gesagt, das war eine Menge Geld damals.

      Als ich zitternd nach Hause kam, ging es gleich zur Sache. Mutter machte kurzen Prozess und ließ ihrer Wut freien Lauf. Sie zerrte mich in die kleine Wäschekammer und verhaute mir den Hintern, bis mir Hören und Sehen verging. Völlig enthemmt. Sie schrie rum und das bisschen, was ich in dem Inferno verstanden habe, war, dass diese sieben Mark 40 wohl das letzte Geld für den Rest des Monats, ungefähr zehn Tage, waren.

      Als mein Vater mich dann aus der Kammer geholt hat, damit ich noch etwas essen konnte, schmiss Mutter mir das Brot auf den Teller und sagte voller Wut: »So, wenn du schon das ganze Geld wegwirfst, dann iss jetzt auch noch den Rest, den wir haben.« Und das war schlimmer als die harten Schläge vorher in der Kammer. Bis mein Vater endlich einschritt: »Lass den Jungen jetzt endlich in Ruhe. Herrgott nochmal, Margret.« Er hasste diese Erziehungsmaßnahmen. Er hatte auch dauernd Krach mit Mutter darüber. Der war immer lieb. Der war einfach zu lieb. Und ist leider auch zu früh gestorben.

      Natürlich habe ich immer viel Blödsinn gemacht. Vielleicht, weil ein hartes Kinderleben einfach erträglicher wird, wenn man es sich lustig macht. Dass diese ganzen Streiche und Klassenclownaktionen meiner Mutter zusätzlich das Leben erschweren könnten, hatte ich als Kind natürlich nicht bedacht. Für Mutter war ich immer ein Problemkind, das nur Flausen im Kopf hatte und von einem Schlamassel in den nächsten schlitterte. Sei es aus Blödsinn, aus Naivität oder Unvorsichtigkeit.

      Vielleicht hat sie mich ja doch wahnsinnig geliebt, sich aber einfach zu viel Sorgen um mich gemacht. Manchmal war das auch sicherlich berechtigt, denn ich habe vieles losgetreten, ohne die Konsequenzen dabei zu bedenken.

      Wie zum Beispiel damals beim Hausbau mit meiner ersten Frau. Wir hatten festgestellt, dass uns 50 000 Mark fehlten. Da bin ich natürlich zu meinen Eltern gegangen und wollte, dass sie für mich bürgen. Das hat Mutter jedoch rigoros abgeschmettert: »Nein, du hast das Grundstück geerbt, Junge. Wir bürgen nicht für dich. Ansonsten musst du halt jetzt schon alles verkaufen. Da musst du selber mit klarkommen.« Feierabend, damit war die Diskussion beendet. Ich war Mutter nicht verlässlich genug, zu sprunghaft. Sie hatte eine bestimmte Vorstellung davon, wie ich mein Leben gestalten sollte – und der habe ich eben permanent nicht entsprochen. Sie wollte auch nicht, dass ich von der Schule ging, um Koch zu werden. Selbst als ich schon Koch war, sollte ich lieber wieder zur Schule gehen. Der schwierige Hausbau, der Laden, die Scheidung – das war in ihren Augen alles meine Schuld, weil ich ja unbelehrbar war. Unbelehrbar, genau das war ihr Wort.

      Als ich nach ihrem Tod die Wohnung aufräumte, fiel mir ihr Tagebuch aus einer der Kisten entgegen. Natürlich setzte ich mich hin und fing an zu lesen und nach ein paar Einträgen stieß ich auf diesen:

      »Horst hat uns heute seine nächste Frau vorgestellt. Nada, eine Kroatin. Sehr sympathische, nette junge Frau. Ich hoffe, dass es die letzte für ihn ist. Noch mal habe ich nicht die Kraft, mich für eine neue Frau zu öffnen. Der Unbelehrbare!«

      Was ich auch machte, es war in ihren Augen falsch: zu früh geheiratet, das Theater mit meinem ersten Hausbau, die Anfänge der »Oldiethek«, dieses rudimentär zusammengehauene Konzept – das war alles eine Katastrophe für meine Mutter. Vielleicht hat sie sich nicht für mich geschämt, aber maßlos aufgeregt hat sie sich natürlich. Aus heutiger Sicht kann ich das zwar nachvollziehen, aber die Jugend hat ein Anrecht auf eigene Erfahrungen und Fehler.

      Ich war 28 und mein Leben war alles andere als normal verlaufen: Ich war zweimal dem Tod von der Schippe gesprungen, hatte ein Kind verloren, mit Müh und Not ein Haus gebaut und eine junge Familie zu ernähren … das einzig Sichere war meine Arbeitsstelle als Malocher bei der Braunkohlefabrik. Oder anders gesagt: Eigentlich konnte ich bis zur Rente gucken. Selbst wenn Mutter sich etwas anderes gewünscht hatte, so saß ich doch immerhin, nach Anlaufschwierigkeiten, einigermaßen fest im Sattel. Und dann kam ich an und erzählte meiner Mutter und meiner Frau, dass ich eine alte Scheune gemietet hätte, um daraus ein Restaurant zu machen. Ohne einen Pfennig Geld in der Tasche, aber mit ordentlich Schulden am Arsch. Das war für Mutter ein Schlag ins Gesicht und der letzte ihr noch fehlende Beweis: Ab jetzt war ich der Unbelehrbare.

      Bis ich richtig erfolgreich wurde, haben sich alle Verwandten für mich eigentlich nur geschämt. Mutters Schwester half zwar bei der Eröffnung mit, aber am nächsten Tag gab sie ihr noch mal so richtig einen mit: »Mein Gott, der Jung’ mit diesem Laden, das ist ja grausam! Mitten im Müll versucht der da Pfannkuchen zu verkaufen. Was machst du nur mit deinem Horsti?«

      Als das Restaurant dann lief und meine Nase immer öfter im Fernsehen und in der Zeitung zu sehen war, da hat sich die ganze Mischpoke natürlich schnell beruhigt. Da war ich plötzlich zum Angeben eine solide Bank. Auch Mutter entspannte sich merklich und unser Verhältnis wurde besser.

      Am besten gefiel sie mir, wenn sie über ihren Schatten sprang und sich einfach gehen ließ. Wenn sie endlich mal vergaß, was die Leute denken könnten und ob sich das jetzt schickt oder nicht. Dann konnte Mutter herrlich albern sein und jeden Blödsinn mitmachen. Wenn ich nach Hause kam und wieder ein verrücktes Motorrad gekauft hatte, hat sie sich hinten draufgesetzt. Dann sind wir im Dorf die Straße rauf und runter gefahren und sie hat gejuchzt wie ein fröhlicher Teenager. Das habe ich geliebt, da war ich richtig glücklich.

      Mit steigendem Einkommen habe ich auch oft versucht, ihr schöne Dinge zu ermöglichen. Ich wusste ja, dass Mutter mit dem Geld immer scharf rechnen musste. Sie bekam ihre Rente, aber mit ihr konnte sie keine großen Sprünge machen. Also hat sie nebenbei gearbeitet und sich was dazuverdient. Schön im gesetzlichen Rahmen. Das kleine Häuschen in Ordnung gehalten und oben die Wohnung vermietet, damit sie nicht verkaufen musste. Natürlich hatte sie dennoch nie genug Geld, um sich ein neues Auto zusammenzusparen. Sie fuhr den alten Ford Fiesta auf, den Papa schon gebraucht gekauft hatte. Also bekam sie von mir ein neues Auto, da war Mutter sehr glücklich. Da hat sie geweint vor Freude und ist stolz wie Oskar damit überall hingefahren. Hat überall angerufen und verkündet: »Mein Junge hat mir ein neues Auto geschenkt.« Sie war überglücklich und ich war überglücklich, weil sie sich so freute. Aber Mutter wäre nicht Mutter, wenn sie sich nicht über eine Sache noch viel mehr gefreut hätte. Und dabei ging es natürlich wieder um mich.

      Als ich ihr mal beiläufig erzählte, dass ich alle meine Schulden getilgt hatte, also das erste Mal in meinem erwachsenen Leben wirklich schuldenfrei war, da war sie noch glücklicher. Dass ihr unbelehrbarer Junge keine Schulden mehr hatte, war ihr mehr wert als das eigene Glück. Sie gehörte zu der Sorte Mensch, für die ein anständiges, schuldenfreies Leben mit gesichertem Arbeitsplatz gleichbedeutend war mit Glück. Glück war so was wie eine Konstante: Wer einmal geheiratet hatte, blieb auch verheiratet. Egal ob die Liebe irgendwann verloren ging. Das Leben ist schließlich kein Wunschkonzert. Diese Einstellung war ja in der Generation der Kriegskinder weit verbreitet.

      Ich war dagegen seit meinem 14. Lebensjahr bereit, für meine eigene Definition von Glück was zu riskieren. Es zu suchen. Ich wusste immer, dass ich es zu Hause nicht finden würde und dass meine Mutter mir bei der Suche nicht behilflich sein würde. Ich würde gerne sagen, dass meine Kindheit eine glückliche war. Aber die Erinnerungen daran habe ich wohl verdrängt, das ist mir in den vielen Stunden an Mutters Krankenbett klar geworden. Meinen lieben, friedfertigen und ruhigen Vater habe ich schwer idealisiert, auch wenn mir bewusst ist, dass ich nur wenig Zeit mit ihm verbracht habe. Ob er auch von mir so heroisiert worden wäre, wenn er wie Mutter alles mit mir hätte regeln müssen … wer weiß?

      Das ändert aber nichts an der Tatsache, dass Mutter und ich ein sehr schwieriges Verhältnis zueinander hatten. Wir waren wohl nicht fähig, unsere Liebe von den ganzen charakterlichen Unterschiedlichkeiten zu trennen und mehr zu pflegen. Wir haben von unserer eigenen Standpunktinsel aus auf den anderen gesehen. Wir wollten, dass der andere seine Insel aufgibt, rüberkommt und sagt: »Stimmt, bei dir ist alles besser und richtig.« Aber