Daniela Dröscher

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Geist von ’68 und dem Gemeinsinn, mit dem sie selbst aufgewachsen war – nicht autoritär, aber sehr wohl mit klaren Regeln.

      Das pädagogische Manifest meiner Mutter (to be continued):

      1 Prahl nicht mit deinen Sachen.

      2 Beurteile Menschen und Dinge nicht nach ihrem Aussehen;54 schon gar nicht nach ihrem sozialen Status.

      3 Kümmere dich nicht darum, WAS DIE LEUTE SAGEN, vertrete deine eigene Meinung.

      4 Wenn du jemandem kritisieren möchtest, sag es ihr oder ihm direkt, und rede NICHT HINTENRUM: Lerne, »Rückgrat zu zeigen«.

      5 Alle spielen mit allen, niemand wird ausgeschlossen.

      Vor allem Punkt fünf war schwierig zu realisieren, denn Kooperationsspiele, bei denen miteinander gespielt wurde statt gegeneinander, gab es kaum. Bei den anderen Spielen (bis auf Puppen) musste jemand gewinnen: BIS EINER HEULT.

      Das Volk der Gahuku-Gama aus Neuguinea ritualisierte das aus Europa importierte Fußballspielen dahingehend, dass so viele Partien gespielt werden, bis Gleichstand entsteht. Einen Sieger wie im klassischen Fußballspiel gibt es nicht. (Lévi-Strauss)

      Wenn ich allein war, lag ich oft auf dem schmalen rubinroten Perserteppich in unserem Wohnzimmer, flocht weiße dünne Fransen zu kleinen Zöpfen und hörte Märchen – die Urform der Schilderung des Auszugs aus dem Gewohnten.55

      Verwirrend: Wenn es »nicht wichtig« war, wie jemand aussah, warum wurde dann in den Märchen stets die Schönheit der Prinzessinnen und Königssöhne besungen?

      Das unheimlichste Märchen: Schneewittchen: »Spieglein, Spieglein, an der Wand.« Die Geschichte einer hässlichen Königin, die ihre Konkurrentin in einem gläsernen Sarg enden lässt.

      Kaum etwas macht mich mutloser als die Konkurrenz von Frau zu Frau: »Die Frauen, wie alle in Knechtschaft lebenden Klassen, hassen sich untereinander.« (Charles Fourier)

      Meine mütterliche Ethik und der Geist des Protestantismus

      Kurz vor der Grundschule betrat ich ein neues Habitat: Betty und ich gingen nun in den evangelischen Kindergottesdienst.56 Die Dorfkirche: eierschalenfarben außen, innen schlicht weiß, taubenblaue Bänke mit rosa Kassettierung.

      Meine Eltern waren nicht gläubig, aber der Kirchgang gehörte fest zum Alltag im Dorf. Ich hatte früh eine Faszination für diese fremde, strenge, herbe, alte Sprache. Stunden verbrachte ich in Gottesdiensten und atmete die schwebende Aufmerksamkeit, in die einen diese Struktur versetzt: Gebete, Bekenntnisse, Psalme, Liedtexte.

      Das kindliche Opium wirkte. Schon bald war Jesus mein Held. My first love. Ich verinnerlichte die protestantische Mitleidsethik, das Ideal der freiwilligen Armut – Jeder ist ein Bettler (Luther). Die Scham nach unten bekam damit einen ersten Überbau.

      Die Pfarrersfamilie in unserem Dorf war wenige Jahre vor meiner Geburt hergezogen, Musik und Hochkultur im Gepäck. Sie waren das intellektuelle und ästhetische Herz des Dorfes. Ihr Fokus lag auf der Kinder- und Jugendarbeit. Das passte zur Mentalität der Dorfbevölkerung. Auf die Liebe zu Kindern konnten sich alle einigen. Sie war der imaginäre Marktplatz, der alle versammelte.

      Die Goldmanns lebten in einer riesigen alten, mit grün gestrichenem Holz vertäfelten Villa, auf ihrer Wiese hinter dem Haus graste ein Esel. Das große Haus war voller Instrumente, Noten, Bücher und Kinder, fünf eigene und ein Pflegekind. Frau Goldmann war meine Klavierlehrerin und eine beeindruckende Person: breitschultrig, dichter Pagenschnitt – eine Pietistentochter aus dem Schwäbischen; ihr Mann war ein schlaksiger, sanftmütiger Missionarssohn, in Südafrika aufgewachsen,57 und sprühte nur vor humanistischem Geist.

      Frau Goldmann trug bunte, wehende Kleider, Herr Goldmann hatte keine Scheu, aus dem Stegreif im Dorfladen ein Gedicht zu deklamieren. Dieser Freigeist und die Expressivität faszinierten mich.58 Die beiden gewannen viele Herzen nicht zuletzt dadurch, dass sie den Menschen auf Augenhöhe begegneten, ohne dabei aber die eigene Bildung zu verleugnen. Sie waren eben nicht blind für ihre höhere gesellschaftliche Position, sie wussten genau, dass sie aufgrund ihrer Bildung als ETWAS BESSERES galten, doch sie selbst waren weder ignorant noch arrogant, sondern betrachteten ihre Bildung als etwas, das dem Wohle aller zugutekommen konnte.

      Die anfängliche Skepsis und den leisen Spott der Dorfbevölkerung ertrugen sie stoisch, unbeirrt. Für mich waren sie eine Art Musical- oder Märchenfiguren. Ich wäre am liebsten selbst in ihre »Villa Kunterbunt« – so hieß das Haus im Dorf – eingezogen. Betty ging es ähnlich. Alles an den Goldmanns zog sie in den Bann, wenn auch mit einem Unterschied. Sie musste diese Faszination leugnen. Sie repräsentierten eine Weltläufigkeit, von der sie sich angezogen fühlte, die allerdings so weit entfernt von ihren eigenen Möglichkeiten schien, dass sie dieses Vorbild fast ablehnen musste, damit es ihr keinen Schmerz zufügte.59

      Mit den Goldmanns und dem Kinderchor, in dem ich sang, entstand mein Urbild von einem Glück des Miteinander (Peggy Mädler). Die zahlreichen Chöre, die es im Dorf gab – Zwergenchor, Kinderchor, Brückenchor, Seniorenchor, Kirchenchor, Frauenchor –, füllten ein Vakuum, das die im Aussterben begriffene bäuerliche Welt hinterlassen hatte. All jene feierlich begleiteten Prozesse, die den Rhythmus der bäuerlichen Jahresuhr markiert hatten (Maifest, Erntedank, Kirchweihe etc.), existierten in ihrer ursprünglichen Form schon lange nicht mehr. Anfang der 80er-Jahre war der Strukturwandel bereits allgegenwärtig. Ich konnte als Kind dem Verschwinden eines ganzen Berufsstandes zusehen.60 Die Zunft der Bauern hatte ihre ganz eigenen Bildungsinhalte gehabt – Tiere, Wetter, Erde, Ernte, Saat – sowie die sprichwörtliche Bauernschläue. Niemand hatte intellektuell sein müssen, denn man hatte in einem größeren kosmischen Zusammenhang gestanden – dem der Natur. Aus dem einstig stolzen Bauernstand wurden in meiner Kindheit sukzessive Arbeiter, die nichts Vergleichbares hatten.61

      Es musste erst ein von mir verehrter amerikanischer Intellektueller (Richard Sennett) Hymnen auf das öffentliche Leben der Marktplätze des 18. Jahrhunderts singen, bis ich den Gedanken zulassen konnte, dass traditionelle Rituale und Rollen auch positive Seiten haben können – in Städten wirkten sie der Anonymität entgegen und ermöglichten klassenübergreifende Kommunikation.

      Auch in den Strukturen der Goldmanns traten soziale Unterschiede in den Hintergrund, gerade weil jeder seine feste Rolle haben – und dann aber auch abstreifen konnte. Im gemischten Kirchenchor sang der Arzt neben dem Bauern, neben dem Arbeitslosen, neben dem rumänischen Vorarbeiter, neben der Sozialarbeiterin. In temporären Gemeinschaften wie diesen lockert sich das Korsett des Ökonomischen. Sie wecken die Sehnsucht nach communio, die ein jeder in sich hat – ein kommunistisches Begehren (Bini Adamczak). Daran glaube ich, die ehemalige Protestantin.

      Amen.

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