Daniela Dröscher

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Hühnerstall; heute – überdachter Freisitz

      das Backhaus; heute – Abstellraum

      der Schweinestall; heute – Werkstatt

      der Kuhstall; heute – Abstellraum

      die Scheune – verbotenes Terrain, voll mit alten Möbeln, das Dach hatte Löcher

      Das also war mein Ort, das Gehäuse meines Küchenfensters. Das Wohnzimmer prägte ein unaufgeregter, bilderloser Minimalismus: Perserteppiche, Parkettböden, Ledermöbel, Setzkästen, Zimmerpflanzen, 70er-Jahre-Tapeten.

      Mindestens so entscheidend für ein Kleinkind wie das, was sich vor dem Fenster zuträgt, ist natürlich das familiäre Kammerspiel selbst.

Foto Mutter Augen: groß, grün Haar: hellbraun, lockig Gesicht: rund, hohe Wangenknochen Besonderheiten: »übergewichtig« Typ: Schauspielerin Marianne Sägebrecht Foto Vater Augen: schwarz Haar: blond, glatt, Seitenscheitel Gesicht: feminin Besonderheiten: Brille Typ/Familienähnlichkeit: Schauspieler Helmut Fischer/Monaco Franze

      Meine Mutter liebte:

      blauen Lidschatten, die Sonne, Einkaufen, Kochen, Rote Bete, Lederhandtaschen, das Spiel, bei dem wir im Bett lagen und uns gegenseitig unsichtbare Buchstaben auf den Rücken schrieben, bunte Röcke mit kleinem Blumenmuster, frisches Brot, Cher, Liv Taylor, Muhammad Ali, ihren orangefarbenen VW-Käfer, hochhackige Schuhe, unsere Katze, ihre Schreibmaschine, Kleider mit Animal Print, Tom & Jerry, die Golden Girls

      Meine Mutter liebte nicht:

      Erbsen pulen, Lavendelduft, Auto waschen, Landfrauenvereine, die Lindenstraße, Dorftratsch, wenn man mit Essen »spielte«, altes Bratfett, McDonald’s, Schiffsfahrten, Zigaretten, Alkohol, zu starken Wind, Gartenarbeit, die Struwwelliese, den Zappelphilipp, Muttertag, das Wort FREMDENZIMMER24

      Mein Vater liebte:

      seine rote Vespa,Waldspaziergänge, REVAL-Zigaretten25, seine Stereoanlage, Dialekte nachmachen, Langlauf, Mozart, seine Arbeit, Schreinern, die Größe unserer Hände vergleichen, Monaco Franze, im Chor singen, Schottland, seine Werkstatt, die Beach Boys, Weihachten, auf hohe Berge wandern und die Aussicht vom Gipfel, seine Mundharmonika, bei Regen geschützt im Haus sein, Rehe, Wilhelm Busch, seine Wasserwaage, Glockengeläut

      Mein Vater liebte nicht:

      körperliche Arbeit bei heißem Wetter, unglaubwürdig konstruierte Kriminalfilme, Pauschalurlaube, Plastikspielzeug, Dreck im Haus, Kanzler Kohl, Weihnachtsmärkte, Werbung, wenn zu oft gebadet wurde (Wasserverschwendung), Kurzstreckenflüge (Umweltverschmutzung), dass Bäcker nicht mehr selbst Brot backen wollten, die Bundeswehr

      Es gab zwei Konflikte, die zu Hause dauerhaft schwelten: das Übergewicht meiner Mutter und der Zwist zwischen den Großelternparteien. Ich habe als Kind viel Zeit mit meinen Großeltern verbracht; als ich zwei Jahre alt wurde, ging meine Mutter wieder den halben Tag zur Arbeit, und so haben mich alle vier miterzogen.

Steckbrief Klara & Alois Biela hohe Wangenknochen untersetzt und rundlich Pelzmäntel Parfum Hochdeutsch »schläs’scher« Zungenschlag Steckbrief Berta & Willy Dröscher Schirmkappe & Pfeife sehr groß und schmal (Opa) klein und zierlich (Oma) hüftlanges schwarzes Haar, zu einem Dutt aufgesteckt breiter pfälzischer Dialekt

      Während die Großeltern väterlicherseits bei ihren Vornamen genannt wurden – »Berta Oma« und »Willy Opa« – hießen die mütterlicherseits nach ihrem Nachnamen: »Biela Oma« und »Biela Opa«.26 Mit »Biela Oma« ging ich Pilze sammeln und puzzelte viele Nachmittage lang, mit »Berta Oma« bepflanzte und bewässerte ich den Gemüsegarten, der in einer Reihe mit anderen Kleingärten lag, erntete Beeren, Kartoffeln und Bohnen und pulte dann später, im Hof sitzend, säckeweise Erbsen. Mit »Willy Opa« ging ich spazieren, er sang »Dschingderassa bumm«, las Geschichten vor und brachte mir die Namen aller Bäume und Wiesenblumen bei. Mit der spiegelblanken Glatze meines »Biela Opas« ist das Wort »unter Tage« verknüpft. Er hat sein halbes Leben im Erdinneren, ohne Tageslicht, verbracht.27

      Der unausgesprochene Konflikt zwischen den beiden Parteien war natürlich der Krieg. Mein Opa Alois war in russischer Gefangenschaft gewesen und zeit seines Lebens ein erklärter Gegner Hitlers, mein Opa Willy war als unüberzeugtes, aber passives Parteimitglied und Versorger von der deutschen Armee nicht eingezogen worden. Der eine hatte gehungert und gelitten im Namen des Deutschen Volkes, das ihn nun aber im Alltag nicht als Deutschen anerkannte. Der andere hatte zu essen gehabt sowie dazu noch einen französischen Kriegsgefangenen: »Paul aus Paris«.

      Für meine deutsche Oma Berta waren die Eltern meiner Mutter VON DRÜBEN. Sie warf sie in einen Topf mit den Vertriebenen aus den ehemaligen deutschen Ostgebieten – Schlesien, Vorpommern, Ostpreußen –, denen die Einheimischen im Dorf nach dem Krieg buchstäblich im eigenen Haus hatten Platz machen müssen. Alois und Berta aber waren erst 1958 nach Deutschland gekommen, als Aussiedler, nicht als Vertriebene.28 Mein Großvater legte viel Wert darauf, dass dieses »A« sogar in seinem deutschen Pass vermerkt war. Er hatte sich die Ausreise teuer erkauft, indem er über Jahre hinweg geduldig korrupte polnische Beamten bestochen hatte.29

      Zum anderen war das, was zwischen ihnen stand, schlicht Neid. Meine Großeltern mütterlicherseits wohnten in einem neugebauten Haus mit einem Rosengarten, etwa 15 km von unserem Heimatdorf entfernt. Meine deutsche Großmutter neidete denen VON DRÜBEN diesen aus ihrer Sicht unverdienten Wohlstand. Mein Großvater Alois war schließlich »nur« Bergmann und konnte in ihren Augen sein Geld unmöglich durch EHRLICHE ARBEIT verdient haben. Ich vermute, dass es diese Rhetorik war, die später in meiner kindlichen Wahrnehmung den Sozialneid überlagerte.

      Es wäre leicht, mit dem Finger auf meine deutsche Oma zu zeigen, sie als Quell aller späteren Schuld und Scham auszumachen. Ausgerechnet meine Mutter verteidigte die Frau, die sie und ihre Eltern gegängelt hatte, und begründete dies damit, dass eine Frau wie »Berta« nie eine Chance auf Bildung und Weltoffenheit gehabt hatte: Wir kommen in eine Welt, in der die Urteile längst gesprochen sind. (Eribon)

      Ich glaube, dass beide Großeltern-Parteien unbewusst den Stachel eines Klassenkampfs in die Ehe meiner Eltern mit einbrachten. Beide vertraten die Ansicht, ihr Kind »unter ihrem Stand« verheiratet zu haben. Sowohl der Bauer als auch der Bergmann entstammen dem Zunftwesen. Es waren einst stolze Berufe, die auf eine lange Tradition zurückblickten. Für diese Gemeinsamkeit aber gab es kein Bewusstsein, und so verfeindeten sich die Deklassierten in meiner Familie untereinander.30

      Die deutsche Bäuerin konkurrierte mit dem schlesiendeutschen Bergmann, von dessen Wohlstand sie sich erniedrigt fühlte. Alois und Klara wiederum verschreckte der kaum verhohlene Neid meiner Großmutter, den sie als unverständlich und kränkend empfanden, und so hielten sie ihrerseits Distanz.

      Mein Opa Alois war ein schweigsamer Mensch. Er hatte viel erlebt und überlebt: Als Vollwaise war er bei seiner strengen alkoholkranken Stiefschwester aufgewachsen, er war in russischer Gefangenschaft gewesen und mit einem Wasserkopf von dort zurückgekehrt.31 Nach Kriegsende hatte er im kommunistischen Polen 16 Jahre lang die Diskriminierungen als Schlesiendeutscher ertragen. Er war mit nichts in der Hand nach Kirn gekommen, die Starthilfe im Lager Friedland betrug 200 DM. Keine zehn Jahre später baute er bereits an seinem Eigenheim. Jeden Montagmorgen fuhr er auf seiner NSU-Quickly, einem kleinen Moped, zur Grube in das 90 km entfernte Neunkirchen; und schlief die Woche über in einem Männerheim.32 Vor diesem Hintergrund empfand Alois seinen Wohlstand als alles andere als unverdient, und er verstand nicht, warum hier so auf ihn herabgeschaut wurde. Eine Zeit lang weigerte er sich, auch nur das Haus der Schwiegereltern zu betreten, was zu solch absurden Situationen führte, dass er mein Geburtstagsgeschenk vor dem gusseisernen schwarzen Tor ablegte, statt es mir zu überreichen.33