aber mitunter auch Unsicherheit. Die Tasche so zu tragen – war das jetzt NORMAL, oder sah es affektiert aus?
Ich sage wie selbstverständlich »Bauernkind«. Für mich selbst aber hatte ich lange Zeit keinen Namen, dabei ist es ganz einfach. Ich bin ein »Aufsteigerkind«. Seltsam. Ich mag das Wort nicht. Der »Aufschneider« klingt darin mit.
Vier Generationen braucht es, bis ein Milieuwechsel vollzogen ist, also Wohlstand oder Bildung selbstverständlich geworden sind. Wie nicht wenige meines Alters und meines Herkunftsmilieus habe ich mit dieser Linearität gebrochen. Mein Milieuwechsel war progressiv, was Bildung, und regressiv, was materielle Sicherheit angeht.
Verwirrend: Wie konnte ich diesen im Grunde so offensichtlichen Bruch nur so lange von mir abspalten?13 Und wie hatte die Scham in mir nur so mächtig werden können?
Verdacht: Ich bin mit einem Paradox groß geworden. Als Kind und Jugendliche habe ich einer privilegierten Minderheit angehört und die Scham nach unten gelernt. Mit dem Eintritt in die Universität, den Ort meiner sozialen Geburt (Bourdieu), verlor ich dem Gefühl nach diesen privilegierten Status und lernte Stück für Stück die gegenläufige Scham nach oben. Anders gesagt habe ich der nach oben empfundenen Scham erlaubt, meine Privilegien zu überdecken – mit dem Effekt, dass ich mich wie ein eingeklemmtes Sandwichkind fühlte, das an der Relationalität verzweifelt.
Dialektik der SCHAM
Wenn ich mich »nach oben« schäme, also mich mit den Augen derjenigen sehe, die ihre Privilegien als selbstverständlich betrachten, gewähre ich diesen die Macht darüber, meinen gesellschaftlichen Wert zu bestimmen. Diese Scham sucht die Unsichtbarkeit. Das Versteck. Sie lähmt und erzeugt Stillstand.
Wenn ich mich »nach unten« schäme, also mich in denjenigen spiegele, die deutlich weniger Privilegien besitzen, kann ich mir meiner blinden Flecke und ungenutzten Handlungsmöglichkeiten bewusst werden.
Die Scham ist schon eine Revolution – ich musste erst vierzig Jahre alt werden, um zu verstehen, dass Marx damit die Scham der Mächtigen meint, nicht die der Ohnmächtigen. Die Scham derjenigen, die hinreichend privilegiert sind wie ich selbst, aber zu oft in der Position der SCHWEIGENDEN MEHRHEIT verbleiben.
Mein Herz war früh links und ist es geblieben, aber das Grundgefühl ist: Die Gesellschaft ist weit weg. Ich bin niemand, der aktiv an ihr teilhat. Ich stehe am Rand und – beobachte. Wie ein Kind, das sich nicht traut, mitzuspielen bei denen, die das Spiel bestimmen, weil sie vermeintlich geschickter, geübter oder mutiger darin sind, oder weil ich das so empfinde. Ich habe mir diese Scheu vor dem Politischen wahlweise als individuellen Makel oder aber als Symptom meiner Generation angelastet. Ich glaube, dass auch mein soziales Herkunftsmilieu der Grund für diese Scheu war – so wie meine Eltern aufgrund ihrer Herkunft von 1968 nur bedingt politisiert worden sind.14 Nie wären sie auf die Idee gekommen, sich etwa gewerkschaftlich zu engagieren. Ihr soziales Wirken – denn ja, beide sind soziale und politisch interessierte Menschen – blieb auf die private Sphäre beschränkt.
In meiner Familie hat es nie Mächtige gegeben. Niemand hatte je teil an der politischen oder kulturellen Öffentlichkeit. Bei den Toten meiner Familie handelt es sich um kleine Tote (Pierre Michon), Vergessene der Archive, der großen Geschichte.
Für einige der älteren Generation aber beschwört mein Familienname ein bekanntes Gesicht der deutschen Arbeiterpartei herauf. Wilhelm Dröscher, den Schatzmeister – eine Art Finanzverwalter – an der Seite Willy Brandts. Er trug den Beinamen »der gute Mensch von Kirn«15 und stand für soziale Gerechtigkeit, Dialog und Bürgernähe.
Es gibt zwischen unseren beiden Familien eine Verwandtschaft, doch nur eine entfernte, trotz der räumlichen Nähe (mein Heimatdorf liegt nur fünf Kilometer von Kirn entfernt). Den »guten Menschen« kannte ich nur aus Erzählungen meines Vaters, in meinen Kinderohren klang ein »Schatzmeister« jedoch verheißungsvoll.
Der Schatz, den ich für mich zu bergen versuche, ist eine Klarheit über diese verwirrende, paradoxe Scham, die mir den Blick auf meine Privilegien vernebelt hat.
Das Schweigen über die durch die Milieuwechsel verursachten Brüche lag wie ein ungelöstes Rätsel, wie ein Stein auf meiner Kindheit. Es gab keine Sprache, keinen Diskurs, der mir oder meinen Eltern geholfen hätte, diesen Stein von unseren Schultern zu rollen: dis-cursus = Bewegung, Hin-und-her-Laufen.16
Die Spuren dessen, was man in der Kindheit gewesen ist, wie man sozialisiert wurde, wirken im Erwachsenenalter fort, selbst wenn die Lebensumstände nun ganz andere sind und man glaubt, mit der Vergangenheit abgeschlossen zu haben. (…) Das Unbehagen, zwei verschiedenen Welten anzugehören, die schier unvereinbar weit auseinanderliegen, und doch in allem, was ist, koexistieren. (Eribon)
Ich habe von meiner Kindheit und Jugend bisher allenfalls DURCH DIE BLUME erzählt. Poetisch, verschlüsselt, im Spiegel des Fremden, nie direkt. Auch das zeugt von einem Habitus. Die historischen Stoffe und entlegenen Schauplätze meiner Texte sind kein Zufall: Ein falscher Japaner aus dem 18. Jahrhundert, eine vergessene polnische Hollywood-Diva der 1920er-Jahre sowie diverse hochstapelnde tagträumende Sonderlinge. Erst jetzt kann ich über meine Herkunft schreiben – auch weil nun die Zeit meiner Kindheit selbst eine historische und damit fremde geworden ist. Ich entkomme mir also in meinen poetischen Vorlieben nicht.
Kaum etwas ist so langweilig wie die westdeutsche Mittelklassen-Realität der 1980er- und 90er-Jahre, dachte ich anfänglich. Irrtum. Teilweise mutet sie fast exotisch an, denn es ist zum einen eine analoge und zum anderen eine aus heutiger Sicht bizarr weiße und heterosexuelle Welt.
Anders als Eribon bin ich keine Soziologin. Alles, was ich habe, ist meine Subjektivität. Ich bin nicht nur als »Aufsteigerkind« sozialisiert, sondern auch als Frau sowie als Tochter meiner »fremden« Mutter. Ich kann deshalb nicht umhin, diesen Herrschaftsknoten (Frigga Haug) von Klasse, Kultur und Geschlecht in seinen Überlagerungen zu betrachten, so eng und nahtlos vernäht erscheinen mir die Stränge.
Wie jede Selbsterzählung ist auch diese eine erdichtete.17 Das Erinnern ist eine schweißtreibende Angelegenheit, von den unwillentlichen Bildern, die von selbst an die Oberfläche drängen, einmal abgesehen. Doch war meine Herkunft zu verleugnen viel anstrengender, als meine Herkunft zu erzählen und meine Wunde zu zeigen (frei nach Beuys). Verleugnung kostet ungemein viel Kraft und ist dazu meist vergeblich – sehr häufig landet man damit sowieso nur auf der Couch.18 Mindestens so sehr wie ich selbst aber gehört die Mittelklasse auf die Couch – wo die meisten, die ihr angehören, ohnehin schon liegen.
Ich hebe Bild um Bild aus meiner Erinnerung von frühester Kindheit an und folge dem Weg durch die Institutionen bis zur Universität, angefangen von der Ehe meiner Eltern – der frühesten Schule. Das Kammerspiel, in dem ein Kind aufwächst.
Die Geschichte meiner Herkunft ist exakt so besonders, wie jeder Mensch und jede Herkunft besonders sind. Ich versuche, sie möglichst sachlich nachzuzeichnen. Nicht zu beschönigen, nicht zu dramatisieren, nicht abzuwerten und mich nicht kleiner oder größer zu machen.
Die Art und Weise, wie man sich sein Leben erzählt – tragisch, komisch, tragikomisch –, ist eine Entscheidung. Eine politische Entscheidung.
Eine wichtige Gefährtin meines Erzählens ist die Liste. Sie kann zwischen Ordnung und Unordnung vermitteln und zeigt die Unendlichkeit und Erweiterbarkeit meiner subjektiven Sicht durch den Lesenden. Eine weitere Gefährtin ist die Fußnote: In ihr versammle ich »anökonomische« weiterführende Gedanken, die im Haupttext keinen Platz finden.
Ein Stolperstein meines Erzählens ist die Sprache. Hochdeutsch ist für mich immer ein Stück weit eine Fremdsprache geblieben. Ich spüre selbst, wie ich im Schreiben stottere und strauchle und immer haarscharf an einer leicht windschiefen Grammatik vorbeistakse – so windschief wie die Wände meines Elternhauses. Aber vielleicht tut es der deutschen Sprache gut, ab und an ein wenig windschief zu sein.
Vieles wird im Lesen fast zwangsläufig den Abgleich mit dem Eigenen und damit Widerspruch und Einspruch herausfordern. Das soll und muss so sein. Ich kann mich selbst nicht vollständig sehen. Im Aufspüren meiner blinden Flecken werde ich andere blinde Flecke