und ich hatten das berühmte ALLES. Vom Klavierunterricht bis zur Markenkleidung, den Sprachferien, Ski-Urlauben, dem eigenen Auto, einem vollfinanzierten Studium und so fort.
Oft aber beschlich mich als Kind ein Befremden, wenn ich am Klavier saß. Es gab in meiner Familie kein dynastisch vererbtes kulturelles Kapital, dafür aber namenlose feine Unterschiede (Bourdieu) zwischen meinen Eltern und uns Kindern.
Ich wuchs in einem äußerst beredt schweigenden Elternhaus auf, durch dessen teils verschämten Umgang mit den errungenen Privilegien die Welt des Bäuerlichen ebenso hervorlugte wie die des Bergbaus und das kommunistische Polen. So verschieden meine Eltern sind, so sehr teilten sie das Gefühl, nicht wirklich dazuzugehören. Sie, diese normalen, deutschen weißen Mittelklasse-Menschen, fremdelten in vielerlei Hinsicht mit ihrer Position in der kapitalistischen Konsumgesellschaft.4 Im Grunde lebten sie eine Normalität ohne Original.5 Wie die meisten Aufsteiger dieser Generation entstammten sie einer Welt der Bergmänner und Bauern, in der gemeinsames und einander stützendes Handeln das Überleben gesichert hatte. Das eigene Ich wichtiger zu nehmen als die Gemeinschaft und auch den modernen Materialismus, haben meine Eltern erst mangels Alternativen erlernt.
Meinem Vater gelang es, sich einigermaßen in das System und seine Hierarchien zu integrieren, meine Mutter entschied, es konsequent zu ignorieren. Sie würdigte den Kapitalismus gewissermaßen keines Blickes und blieb der sozial denkende, empfindende und handelnde Mensch, zu dem sie erzogen worden war. Sie versuchte, auch mich in diesem Geiste zu erziehen und einen Schutzschild um mein Herz zu schmieden, mit dem Ergebnis, dass ich zwar durchaus einen freiheitsliebenden Widerstandsgeist entwickelt habe, darin aber unorganisiert geblieben bin.
Was mich als Kind vor allem anderen verwirrte, waren die widersprüchlichen Haltungen meiner Eltern untereinander. Mein Vater orientierte sich an der Mitte und tendenziell nach oben, sein Vektor war die Sicherheit. Meiner Mutter ist jeder Aufstiegswille verdächtig. Ihr Blick blieb stoisch nach unten gerichtet. Als Kind schlesischer Aussiedler identifizierte sie sich nicht mit dem Leistungsethos der deutschen Mehrheitsgesellschaft, sondern mit AUSSENSEITERN wie sie selbst. Ihr eigenes Ethos des Teilens ist grenzenlos. Sie teilt sogar dann noch, wenn sie selbst nichts mehr hat.
MUTTER: Geld ist nicht wichtig.
VATER: Geld ist Sicherheit.
MUTTER: Geld ist nicht wichtig.
VATER: Geld ist Sicherheit.
Für mich ergab sich aus diesem Widerstreit als Kind ein verwirrendes Durcheinander von Blickrichtungen, wie bei einem Flug in einem schlingernden Kettenkarussell.
Ich war nicht die Einzige, die derart verwirrt über der Realität schwebte. In der Zeit etwa zwischen 1981 und 2000 gab es in Deutschland im offiziellen Diskurs kaum Klassenunterschiede. Aus der Klasse sollte die Schicht geworden sein. Die KAROTTE VOR DER NASE war das Versprechen vom Aufstieg durch Bildung und der Wohlstand für alle. Man schwelgte in staatlich beförderten Träumen von Autos und Eigenheimen, im langen Echo der von Adenauer ausgerufenen Parole Wer ein Haus baut, macht keine Revolution.
Eine Schicht, sagt man, kennt anders als eine Klasse kein »Wir«-Gefühl.6 Das »Wir« stand lange unter Verdacht. Auch deshalb hat das rechte Denken es kapern können. Und ja, das WIR ist kompliziert. Furchtbar kompliziert. Wer könnte je ein ›wir‹ sagen, ohne zu erzittern? (Derrida)
Der Begriff »Klasse« mag auf den ersten Blick starr und altmodisch erscheinen, doch macht er deutlich, dass die Grenzen zwischen Oben, Mitte und Unten viel weniger durchlässig sind, als die Begriffe »Schicht« oder »Milieu« suggerieren.
Die heutige Mittelklasse bildet einen buntscheckigen Haufen (Marx)7, sowohl was Besitz, Kapital, Einkommen als auch was Bildung betrifft. Die Mitte vereint den verarmten Adel ebenso wie das ambitionierte Kleinbürgertum, bankrotte Unternehmensvorstände sowie Kunstschaffende wie ich, die versuchen, nicht ständig pleite zu sein. Das einzige verbindende Kriterium ist die Lohnabhängigkeit.8
Damals wie heute diente die Großkategorie »Mittelschicht« vor allem dem Zweck der Abgrenzung. Während die Mitte nach unten den Abstand wahrt und »mitzuhalten« versucht, entwickelt sich die Elite durch den Vorsprung in Hinblick auf Kapital und Bildung kontinuierlich weiter. Wie in der Geschichte von Hase und Igel.9
Der französische Soziologe Didier Eribon hat hierzulande eine Tür aufgemacht. Man redet wieder über soziale Unterschiede. In dem autobiographischen Text Rückkehr nach Reims zeichnet er das ideologische Vakuum nach, das die linken Parteien im Arbeitermilieu hinterließen und so den Aufschwung rechten Denkens beförderten. Eine zentrale Kategorie des Buches ist die Scham über die schmerzende Lücke zwischen dem ehemals linken Herkunftsmilieu und der eigenen Linksintellektualität.
Ich las das Buch atemlos, mit heißen Ohren, und entdeckte darin im Nachhall eine Hintertür für mich. Obgleich ich mit liebevollen, wohlhabenden, gebildeten Eltern aufgewachsen bin, habe auch ich gelernt, mich für meine Eltern zu schämen. Die Scham gehörte lange Zeit sogar so untrennbar zu mir wie das Atemholen.
Menschen, die mich nicht näher kennen, sind regelmäßig erstaunt darüber, dass dies so ist. Dem äußeren Anschein und den Fakten nach bin ich eine everywoman. Weiß, gebildet, normalgewichtig.
STECKBRIEF ICH
Geboren: 1977
In: München
Wohnort: Berlin
Ausbildung: Doktor phil.
Beruf: Autorin
Äußerlich auffallend bin nicht ich, auffallend ist der Mensch, dessen Mitte ich entstamme, meine Mutter, vielmehr ihr prächtiger voluminöser Körper. Wenn meine Mutter irgendwo zur Tür hereinkommt, zieht sie sofort sämtliche Blicke auf sich. Als Kind war meine Mutter für mich die schönste Frau der Welt. Erst mit der Pubertät verstand ich, dass sie anders war als andere Mütter.
Zweifel: Gehört das wirklich hierher? Mein Feminismus sagt: »Ja. Es gehört hierher.« Der Körper ist nicht einfach ein Körper, der mir gehört, er ist der Ort, an dem sich die Machtverhältnisse einer Gesellschaft artikulieren.
Zusätzlich zur Körperscham über meine Mutter prägte sich zu Beginn der Pubertät eine zweite Scham aus, die Scham über den Ort, an dem ich lebte. Unser kleines rheinland-pfälzisches Dorf, am Rand der Welt gelegen, schien mir mit einem Mal bevölkert von provinziellen Menschen, die in einem provinziellen Dialekt redeten. Emma Bovary, c’était moi! Ich träumte von der Stadt, und es brauchte viele Bücher und noch mehr jugendliche Liebhaber, um mich aus dieser Welt hinfort zu träumen.
Einmal kam »der schöne Pedro«10 mich überraschend zu Hause besuchen, ich war vielleicht 14. Wir lebten damals noch im »alten Haus«, einem ehemaligen Bauernhof mit einer Scheune und diversen Nebengelassen. Dort, wo früher der Misthaufen gewesen war, hing meine Kinderschaukel vor einem alten Mauerwerk, von dem die beige Farbe blätterte. Beim Besuch des schönen Pedro starrte mir diese einstige Mist-Ecke entgegen wie ein Schandfleck.
Zum dritten Pfeiler meiner Scham wurde der Dialekt der ländlichen Nahe-Region. Mein Vater sprach ihn so wie alle im Dorf. Ein breiter Dialekt voller Ä-, Iiiiiih- und Sch-Laute. In meinen Ohren klang es, als versuche jemand beim Reden rohes Fleisch mit den bloßen Zähnen zu zerlegen. »Ich weiß es nicht« klingt in etwa so: »Isch wääähs es net.« Vertraut ist einer breiteren Öffentlichkeit der Dialekt, oder eine Variante davon, aus Kohls Amtszeit. Manche kennen ihn auch aus Edgar Reitz’ Serie Heimat.11
Ich lebte lange in der gefühlten Gefangenschaft dieser drei Ds – dicke Mutter, Dorf, Dialekt. Ich war blind für die Gemachtheit meiner Scham. Einzig die Scham über meine Mutter habe ich früh entlarvt. Ich verstand: Nicht ich schämte mich für sie, sondern mein Vater glaubte, sich für sie schämen zu müssen.
Erst aber als ich Eribon las, verstand ich, dass ich auch in Hinblick auf mein Herkunftsmilieu eine Scham zweiter Ordnung gelebt hatte. Sie stammte nicht ursächlich aus mir, sie war mir von meinem Vater, dem emporgekommenen Bauernkind, und seiner Mutter, meiner Großmutter, vererbt worden.12
Ich sehe meinen Vater vor