Michael Ibrahim

Bruder Brahim II


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und werdet die Heimat fürs Erste nicht wieder sehen. Steigt auf die LKWs dort hinten! Sie nehmen euch mit und werden euch in Arbeitskommandos einteilen!“

      Die gefangenen Soldaten wurden abgeführt und auf den LKW verladen. Dieser fuhr uns zu einem großen und mit Stacheldraht eingezäunten Feld, einem Lager für Kriegsgefangene. Schon wieder saßen sie da, im Schlamm, und vor lauter Hunger griffen sie durch den Zaun, rissen Gras aus und kauten auf den Grashalmen herum, bis ein Tag später endlich ein Truck mit Essen heranrollte. Es gab nur eine dünne Suppe, aber kein Geschirr. Franz fand eine rostige Dose zwischen ein paar Steinen, in die er sich die Suppe gießen ließ. Doch als er austrinken wollte, riss ihm ein anderer die Dose vom Mund…

      Ich schreckte zusammen und sprang auf: „So ein Drecksack! Ich werde ihn umhauen!“ Doch dann merkte ich, dass dies wieder einer meiner lebhaften Träume war, denn mein Opa Franz war schon vor Jahren verstorben. „Hey, aber an all diese Geschichten erinnere ich mich noch ganz genau! Er hat mir sie oft erzählt. Immer wenn ich als Jugendlicher bei Oma und Opa war, saß Franz in seinem großen Ledersessel und erzählte mir Kriegserlebnisse. So waren sie bis heute präsent in mir.

      Ich tat mich schwer, wieder ins Bett zu gehen, um zu schlafen. Ich suchte stattdessen nach den Tagebüchern und alten Feldpostbriefen, die ich vor Kurzem in Opas Haus gefunden hatte, als wir die Möbel ausräumten und es renovierten. Es war so seltsam für mich, dieses Haus auszuräumen, denn damit ging die Ara meiner Kindheit zu Ende - alle Erinnerungen an das letzte Jahrhundert wurden mit dem Abhängen der Bilder und dem Abziehen der alten Tapeten entfernt. Zurück blieben nur ein paar Fotoalben und zwei Tagebücher, die auf vergilbtem Papier mit der Hand verfasst waren, Gott sei Dank nicht in Sütterlin, sondern bereits in neuerer Schreibschrift.

      Endlich fand ich sie in einem Regal in meinem Büro, mitten in einem Bücherstapel über Weltreligionen. Ich setzte mich ins Wohnzimmer und begann zu lesen, während es draußen gerade dämmerte. Die Katze, die ich durch meinen nächtlichen Schrei aufgeschreckt hatte, kam durch die Tür hineingeschlichen, legte sich auf meinen Schoß und schlief dort ein. Ich beruhigte mich und erinnerte mich an eine Situation, als Opa schon Wochen vor seiner Gefangennahme geflohen war. Nach ein paar Minuten Herumblättern fand ich sie. Er schreibt, wie er am 8. März 1945 von seiner Einheit desertierte, weil ihm alles sinnlos vorkam und er die Familie und seine Angebetete vermisste:

      Ich desertierte kriegsmüde von meiner Einheit und schlug mich durch den Hunsrück bis nach Hause durch, voller Sehnsucht die Familie und meine geliebte Gretel wiederzusehen. Auf dem Weg durch die Wälder träumte ich davon, dass ich wie im Gleichnis des verlorenen Sohnes heimkehren und mein Vater mich nach all den Entbehrungen des Krieges freudig und erleichtert empfangen würde. Aber es kam ganz anders. Mein Vater war geschockt, dass ich desertiert war, denn er wusste, dass man dafür an die Wand gestellt und erschossen werden würde. Sofort als ich ihn grüßte, wies er mich zurecht und versteckte mich in der Scheune, denn überall wimmelte es von Spitzeln. Anstatt mit der Familie meine Rückkehr zu feiern, verbrachte ich also die Nacht bibbernd in der Scheune bei den Tieren. Am nächsten Morgen konnte ich meine Schwester und meine geliebte Gretel für ein paar kurze Momente sehen. Danach erhielt ich unser altes Fahrrad und musste versprechen, sofort wieder zu meiner Einheit zurückzukehren. Ich fand sie nicht mehr, denn die Soldaten waren schon weiter gezogen. Als ich mit dem Fahrrad so durch die Wälder fuhr, schmiedete ich den Plan, bis tief in den Hunsrück vorzudringen und mich bei der nächstbesten Einheit als ‚versprengt“ zu melden. Dann konnte ich nur noch hoffen, dass mein Plan nicht aufflog.

      Nach einigen barschen Worten und der Androhung, dass ich auch nach einigen Tagen noch jederzeit eine Kugel in den Kopf bekäme, wenn ich noch einmal versuchen würde abzuhauen, schickte mich mein neuer Vorgesetzter in den Funkerwagen, wo ich auch zuvor gedient hatte. Ich hatte das Glück, dass ich während des ganzen Krieges keinen einzigen scharfen Schuss abfeuern musste. Ein paar Wochen hatte ich nun wieder Ruhe, doch dann wurde der Funkverkehr eines Tages plötzlich hektisch. Per verschlüsseltem Morsecode übermittelte man mir:

       „Feindliche Truppen rücken in deutsches Gebiet ein! Der Rhein wurde bei Arnheim von alliierten Panzern überquert!“ 1

      Diese Einträge kamen mir heute alle so unvorstellbar vor. In seinem Büchlein lag ein Zeitungsartikel mit der Überschrift „50-Jahre Kriegsende“. Jetzt nachdem wir seit mehr als einem halben Jahrhundert Frieden in Europa haben, kann ich mir kaum vorstellen, dass man erschossen wird, nur weil man erkannt hat, wie sinnlos es ist, sich gegenseitig niederzumetzeln.

      Ich sollte jeden Tag eine Gedenkminute und einen Moment der Stille einlegen und dafür dankbar sein, dass ich alles das nur aus Träumen, Erzählungen und ein paar Bundeswehrmanövern2 kenne. Und wir, die wir uns erinnern, sollten diese schmerzhaften Erfahrungen unseren Kindern und Kindeskindern weitergeben, was ich mit der Zusammenfassung der Erlebnisse meines Opas Franz hier nun getan habe. Aber der Wahnsinn des Krieges ging und geht auch heute noch weiter. Obwohl ich mich als Jugendlicher nie für Geschichte interessiert habe, bin ich in meiner Tätigkeit als Physiklehrer immer wieder auf die dunklen Seite der Menschheit in der Nachkriegsgeschichte gestoßen, an die ich in diesem Kapitel vor allem die Jugendlichen unter meinen Lesern erinnern möchte.

      1.2 Feuerbälle über Japan

      Vor einigen Jahren hatte ich die Gelegenheit, zehn Schülerinnen und Schüler, die sich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt hatten, beim Japanaustausch zu begleiten, wo sie sich mit den Japanern austauschen sollten. Ziel war die Stadt Hiroshima, wo wir privat Unterkommen würden. Schon oft hatte ich im Physikunterricht in den zehnten Klassen ausführlich den Abwurf der Atombomben, am 6. August 1945 auf Hiroshima und drei Tage später auf Nakasaki, thematisiert. Außer Fragen zur Funktionsweise einer solch mächtigen Bombe stellten die Schüler sehr viele geschichtliche und ethische Fragen:

      „Wieso hat Japan nicht aufgegeben, dann wäre doch der Krieg vorbei gewesen? War es wirklich notwendig, diese Bomben zu werfen? Wieso gerade auf diese beiden Städte? Haben sich die Amerikaner danach zu ihrer Schuld bekannt und wurden sie bestraft? Sind die Japaner heute noch sauer auf die Amerikaner? Wie sieht Hiroshima heute aus? Kann man da jetzt rumlaufen, wo da doch alles verstrahlt ist?“

      Ich versuchte einige der Fragen ad hoc zu beantworten:

      „Also Leute! Nachdem Deutschland am 8. Mai 1945 kapituliert hatte, ging der Krieg für das verbündete Japan noch weiter. Die USA, mit denen Japan seit dem Angriff auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 im Krieg lag, forderten zusammen mit Großbritannien die bedingungslose Kapitulation. Dies war jedoch für das japanische Volk undenkbar, da dann sein Gottkaiser, der Tenno, womöglich in Kriegsgefangenschaft gegangen und entehrt worden wäre. Also erduldeten es weiterhin die Angriffe der Alliierten, die ihm mit Vernichtung drohten, sollten sie nicht kapitulieren. Die Atombombe war im sogenannten Manhattan Projekt an einem geheimen Ort namens Los Alamos, in der Wüste von Nevada, auf Befehl des Präsidenten Roosevelt unter großen Anstrengungen von amerikanischen Wissenschaftlern und Ingenieuren entwickelt worden und sollte ursprünglich gegen das Hitler-Regime eingesetzt werden. Wir können also in gewisser Weise Gott dankbar sein, dass sie nicht über Berlin, Hamburg, München oder Frankfurt gezündet wurde. Präsident Truman, der bis zum Amtsantritt nichts von dieser streng geheimen Waffe wusste, befahl am 25. Juli General Spaatz den Einsatz der Spezialwaffe, wobei er einen Angriff nach dem 3. August anordnete. Die Amerikaner hatten schon ca. 70.000 Soldaten im Pazifik-Krieg verloren und Truman befürchtete eine weitere Eskalation des Krieges, sollten sie auf weiteren Inseln landen müssen. Die amerikanischen Soldaten hatten selbst größten Respekt vor dieser Waffe, die zuvor nur genau einmal, nämlich beim Trinity-Test in Nevada, gezündet worden war. Ein christlicher Geistlicher sprach deshalb folgendes Gebet für die Besatzung des Bombers3:

       Allmächtiger Vater, der Du die Gebete jener erhörst, die Dich lieben, wir bitten Dich, denen beizustehen, die sich in die Höhen Deines Himmels wagen und den Kampf bis zu unseren Feinden vortragen. […] Wir bitten Dich, daß das Ende dieses Krieges nun bald kommt und daß wir wieder einmal Frieden auf Erden haben. Mögen die Männer, die in dieser Nacht den Flug unternehmen, sicher in Deiner Hut sein, und mögen sie unversehrt zu uns zurückkehren. Wir werden im Vertrauen auf Dich weiter unseren Weg gehen; denn wir wissen, daß wir jetzt und für alle Ewigkeit unter