Penner war betrunken.
Vielleicht lag es daran. Vielleicht aber auch daran, dass sich der Obdachlose eines Lebenswillens bediente, den er selbst nicht aufzubringen vermochte.
Endlich hörte der Penner auf zu atmen.
Stille.
Jenke ließ von ihm ab, richtete sich auf, schaute sich um. Niemand weit und breit. Nur die Dunkelheit.
Er betrachtete seine Hände.
Und den Toten.
Es vibrierte. In der Ferne leises Schrillen. Es kam näher, wurde lauter, er wollte es abschütteln, aber es ließ sich nicht verscheuchen. Er fiel, schreckte hoch. Das Telefon klingelte unablässig, er tastete danach, benetzte seine Lippen, räusperte sich.
»Ja?«, hauchte er in den Lautsprecher.
Es knackte. Jemand legte auf.
Er schaute auf die Uhr. Früher Abend, er musste dringend los. Auf allen vieren kroch er ins Bad, zog sich am Waschbecken hoch. Er sah müde aus. Vielleicht, weil er im Traum einen Penner erwürgt hatte.
Plötzlich tat ihm der Penner leid.
Er zog sich an, schnürte seine schweren Boots. Es hatte geschneit. Schnee machte die Menschen großzügig. Er würde heute viele Spenden sammeln. Es würde das letzte Mal sein.
Auf dem kleinen Adventsmarkt besorgte er sich Eierpunsch und beobachtete still die Flammen, die neben der aufgestellten Krippe in einer Feuerschale züngelten. Sie bildeten zuweilen groteske Fratzen, die ihm hämisch vorführen wollten, dass er die Fähigkeit zur Veränderung seiner eigenen Lebenssituation längst verloren hatte.
Jenke schloss die Augen, lauschte den Geräuschen und Stimmen um ihn herum. Sollten die Flammen doch alles verschlingen. Sollten sie doch glauben, was sie wollten. Jenke würde es ihnen schon zeigen.
Er schlenderte über den Markt. Heiße Maronen und Anisbonbons, fettige Pommes, Würstchen und Waffeln schmiegten sich um seine Nase. Jenke lief über Holzraspel, vorbei an einem Stand mit handbemalten Schüsseln und Strohkörben. Menschengruppen drängelten zur Krippe, ein Pärchen küsste sich, eine Mutter schimpfte ihr Kind, weil Ketchup von seinem Brötchen auf die Jacke getropft war.
Er kaufte sich einen weiteren Eierpunsch, trank gierig, ließ sich durch die Menge schieben. Seine Hand hatte er in die Tasche gesteckt, nervös befühlte er das Messer und strich mit dem Daumen die glatte Oberfläche entlang.
»Geht es Ihnen gut?« Eine Frau mit Mütze sah ihn besorgt an. »Sie weinen ja«, stellte sie fest.
Er wischte die Tränen weg, schleppte sich zur Kirche, das kalte Bauwerk empfing ihn dunkel und herrisch. Er zog sich um, nahm die Spendendose aus dem Korb. Stahlblech mit lackiertem Außenmantel, verschlossen mit einer Plombe. Er taumelte los, stolperte die breiten Treppenstufen hinunter auf den kleinen Marktplatz. Er trank den Punsch in großen Schlucken. »Eine Spende bitte«, lallte er.
Nach zwei Stunden lehnte er sich müde und benommen an das Kassenhäuschen des Kinderkarussells und wartete. Ich muss zu Henri, dachte er wie ein Mantra in die Kälte hinein. Er schleppte sich vorwärts, hatte Schwierigkeiten, niemanden anzurempeln. Der Kircheneingang schwankte. Jenkes Gedanken wirbelten umher wie betrunkene Geister. Er schüttelte sie ab, drängelte sich durch den überfüllten Weihnachtsmarkt, die Dose schleppte er mit. Er konnte sie heute nicht mehr zurückgeben.
Jemand rempelte ihn an. »Scheiße.« Ein Mann hob abwehrend seine Hände. »Scheiße, was hast du denn da?«
Jenke schaute an sich herunter. Das Messer hielt er fest umklammert. Er entschuldigte sich und steckte es zurück in seine Tasche.
Er dachte angestrengt nach. Seine Gedanken kamen träge, mussten sich durch heillos viele Gänge schleppen, gerieten durcheinander.
Nur der gesellschaftliche Status eines erwachsenen Mannes, dachte er gekränkt. Über die vielen Jahre. Eine Nuance, die seinen Vater wie einen Phönix aus der Asche getragen hatte, während er darin erstickt war.
Er ließ sich aus der Menge schieben, schaffte es vom Weihnachtsmarkt auf die schmale Hauptstraße. Er trottete in den nahegelegenen Wald, am Trafohäuschen vorbei und von dort den steilen Pfad hinauf. Er rutschte aus, fiel. Seine Wange drückte sich in den Schnee. Er sah den Penner. Der Alte stand im Licht und weinte.
Er würde sein Versprechen halten. Der Glaube daran trieb ihn weiter durch die Kälte.
Zu Henri.
Zur Höhle.
Er würde nie mehr zurückkehren.
3
Schnee. Überall lag Schnee. Massen von Schnee, festgefahren und gefroren. Eisiger Wind fegte über den weißen Boden.
Inna parkte ihren Wagen, eilte zum Fabrikgebäude. Ein Backsteinbau mit schmalen grünen Sprossenfenstern. Erbaut 1880, umzingelt von dunklen Gestalten, die sich aus dem Wald zu ihr herüberschoben. Alte Bekannte.
Sie schaltete die Alarmanlage aus, das Licht ein. Niemand hier. Seit gestern waren alle im Urlaub, trafen Vorkehrungen für Weihnachten. Wenige Tage noch, dann würden Geschenke unter dem Weihnachtsbaum liegen, dann würden die Familien am Tisch sitzen und gestopfte Gänse essen.
Inna nicht.
Sie wartete geduldig auf ihren Kaffee. Während der Automat die Bohnen mahlte, ließ sie ihren Blick durch Grunewalds große Halle schweifen. Die unverputzten Backsteinmauern wirkten stumpf und kalt. Im Herbst glänzte das Hirnholzparkett honigfarben, sobald kräftiges Sonnenlicht durch die Sprossenfenster fiel. Im Winter nicht. Im Winter war alles trist. Nicht einmal die überdimensional großen Glühbirnen an den eingehängten Laufkatzen konnten heute etwas ausrichten.
Sie setzte sich an ihren Schreibtisch, rieb ihre Hände aneinander. Die alte Fabrikhalle war nicht leicht zu beheizen. Langsam laufende Ventilatoren drückten die aufsteigende Warmluft herunter. Immerhin.
Sie erschrak, als das Telefon schrillte. Es war nicht einmal 7 Uhr. Sie legte vorsichtig ihre Hand auf den Hörer, hob ab, lauschte.
»Ich bin’s.« Grunewald räusperte sich unbehaglich. »Ich habe etwas vergessen, etwas wirklich Wichtiges.«
»Ja«, nickte Inna erleichtert.
»Ein Freund von mir besitzt eine alte Halle. Er möchte sie umbauen lassen. Ich hätte gestern vorbeischauen und sie mir ansehen sollen.«
»Ja.«
»Ja? Heißt das, du fährst vorbei?«
»Nein.«
»Nein?« Grunewald stöhnte ungeduldig. »Du musst. Es ist wichtig. Ich habe es ihm versprochen. Fahr hin, wirf einen kurzen Blick drauf.«
Inna schwieg.
»Inna, ich muss meinem Freund …«
»Ich fahre vorbei.«
Grunewald seufzte erleichtert. »Und rufst mich anschließend an.«
»Nein.«
»Nein?«
»Es braucht keinen weiteren Anruf.«
»Also wirst du nicht vorbeifahren?«
»Die Adresse per E-Mail.«
»Ich habe nur die Koordinaten.«
»Dann eben die.«
Vielleicht würde Inna doch vorbeifahren, aus Neugier, auch wenn es fast kein Bauwerk in der Umgebung gab, das sie nicht schon kannte.
Sie öffnete Grunewalds E-Mail und übertrug die Koordinaten.
Grunewald räusperte sich ungeduldig. »Es ist dringend. Heute noch. Du musst heute noch hinfahren. Jetzt. Für den späten Nachmittag ist ein Schneesturm angekündigt, besser, du machst dich sofort …«
Inna legte auf.
Sie fröstelte.
Ihre