Nienke Jos

Die Angst der Schweigenden


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wenn sie die dunklen Flure entlanggeschlichen war, hatte sie sich wie ein Kleidungsstück über ihre Haut gelegt. Allein in dieser riesigen Burg mit schweren Vorhängen und schwarzen Ecken. Allein mit den übergroßen Skulpturen, die nachts zum Leben erwachten, hervorgekrochen kamen und bedrohlich wisperten. Gierige Schatten, die nach ihr langten, sich geisterhaft durch die Gemäuer bewegten.

      Inna schloss ihre Augen.

      Geisterhaft.

      Sie arbeitete bis zum späten Nachmittag, war so vertieft, dass sie den Wetterumschwung erst bemerkte, als sie die schwere Tür öffnete. Ihr schlug eine gewaltige Bö entgegen, warf Schnee vor ihre Füße. Inna hüpfte hinaus. Ihr Auto war eingeschneit, es hatte Unmengen Neuschnee gegeben. Sie zog ihren Kopf ein, schwere Schneeflocken wurden aus grauen Wolken geschüttelt. Inna hielt schützend die Hand vor ihre Augen, die Tannen verneigten sich tief in alle Richtungen. Sie kämpfte sich über den Parkplatz zu ihrem Auto, befreite das Schloss, weil die Funkfernbedienung nicht funktionierte, riss die Wagentür auf und quetschte sich umständlich auf ihren Sitz. Schnee fiel in ihren Schoß. Es war dunkel und still im Auto. Sie schaltete das Licht ein, sah ihre Atemluft in Intervallen weiß und hektisch herausströmen.

      Inna startete den Motor, die Scheibenwischer gaben nur ein hilfloses Summen von sich. Mit klammen Fingern holte sie ihr Telefon hervor. Kein Empfang, nicht einmal ein einziger Balken zeichnete sich ab.

      Sie ließ den Motor laufen, stapfte zur Fabrikhalle zurück, zwängte sich durch die schwere Tür. Ihre Füße waren nass und kalt, ihre Finger steif und ungelenk.

      Etwas ließ sie stutzen.

      Sie war denselben Weg hin- und wieder zurückgelaufen. Sie war sich sogar sicher, dass sie in dieselben Fußspuren getreten war. In ihre eigenen, in welche sonst, es hatte keine anderen gegeben.

      Oder doch?

      Inna trat hinaus, blinzelte ratlos, schaute sich um. Es dämmerte bereits. Niemand war zu sehen.

      Aber da waren Fußspuren.

      Fußspuren eben.

      Von einem Spaziergänger. Jemandem, der Schutz gesucht, Licht gesehen hatte.

      Was war schon dabei?

      Inna schluckte nervös. Das ungute Gefühl von heute Morgen kroch in ihr hoch.

      Sie hastete zu ihrem Wagen, kletterte auf den Sitz. Sie suchte hektisch nach dem Schalter für die Zentralverriegelung. Ihre steifen Finger wollten nicht gehorchen, sie drückte zweimal, ehe sie das vertraute Geräusch der sich schließenden Anlage hörte.

      Sie berührte behutsam das Gaspedal.

      Nichts.

      Inna spürte es. Jemand war hier, ganz in ihrer Nähe.

      Sie trat erneut auf das Gaspedal, getrieben, energisch, mit weniger Vorsicht. Das Heck des Autos rutschte und rutschte nach rechts und nach links, aber keinen Zentimeter vorwärts.

      Sie stieg aus.

      Und dann sah sie ihn.

      Er stand da und starrte sie an. Mit weit aufgerissenen Augen.

      Jenke hatte ihn geschickt.

      So musste es sein, entschied Inna.

      4

      Es war dunkel, still, kalt um ihn herum. Das Einzige, was Jenke wirklich wahrnahm, waren seine Kopfschmerzen. Unaufhörlich pulsierte ein pochender Schmerz von seinem Hinterkopf bis zu den Schläfen.

      Er versuchte, darüber nachzudenken, wer er war, wo er sich befand. Nasse Kälte kroch in seine Knochen.

      Er entschied, sich nicht zu bewegen.

      Schritte.

      Ob er in seinem eigenen Urin lag?

      5

      Was auch immer es war, Marga hatte es heute Morgen zum ersten Mal entdeckt. Ganz hinten lag es auf dem eingeschneiten See und wirbelte ihr vertrautes Bild vom winterlichen Hof durcheinander.

      Ein Stein.

      Ein besonderer Stein.

      Ein leuchtend roter Stein, der zuvor aufgestanden war und sich wenige Meter weiter zu den verschneiten Fichten bewegt hatte, ganz so, als wollte er dort Schutz suchen.

      Marga stand regungslos vor dem Küchenfenster und blickte hinaus: Einen solchen Stein hatte sie noch nie zuvor gesehen.

      Sie kaute langsamer, als könnte sie damit hinauszögern, was ihr bevorstand. Keine Ausrede, auch wenn es ihr Bauchschmerzen bereitete, da konnte nicht einmal ein Honigbrötchen helfen.

      Vielleicht Gisela? Hatte sie sich über das Eis gewagt und war dort eingeschlafen?

      Marga verwarf den Gedanken.

      Ein Dachs oder ein Fuchs?

      Ein Wildschwein. Vielleicht. Vielleicht auch nicht, denn eigentlich kam ihr der rote Stein sehr groß vor.

      So groß wie ein Mensch.

      Marga holte ihren Wintermantel, Schneeboots, Mütze. Sie vergewisserte sich, dass der Stein noch an seinem Platz lag. Ihre Augen tränten, so sehr strengte sie sich an, in der Ferne etwas zu erkennen.

      Und ihre Eltern?

      Schliefen.

      Was sollte Marga auch sagen?

      »Sehr weit draußen auf dem See liegt ein Stein.«

      »Ist gut, Marga, und jetzt geh wieder schlafen«, würde Mama gähnen.

      »Der Stein hat sich bewegt. Er ist rot.«

      »Es hat diese Nacht unaufhörlich geschneit. Da ist nichts, Marga, bestimmt nicht.«

      Sie könnte die Polizei rufen.

      Marga schüttelte den Kopf. Herausfinden, was da draußen lag, musste sie schon selbst.

      Sie beeilte sich, die Haustür zu öffnen. Beißende Kälte verschlug ihr den Atem. Gestern war sie noch die Stufen hinunter und über gefrorenes Gras gelaufen. Die Halme hatten knirschend nachgegeben. Wie dünne Glasstäbchen, die unter ihren Tritten zerbrachen. Sie war über tiefe Traktorspuren gehüpft, in denen das Wasser zu Eis gefroren war. Erdklumpen hatten sich daruntergemischt, hässlich und dreckig. Gräser hatten schlaff und träge über die Oberfläche gehangen, abgebrochene Zweige, die zur Hälfte herausragten, gefrorene Blätter unter der Eisdecke.

      Heute nicht.

      Heute gab es überall nur Neuschnee. Weiß, weiß, weiß. Alles war weiß.

      Sie verengte ihre Augen, schützte sie vor der scharfen Kälte, hörte eine Krähe, erst laut, dann immer leiser. Der schwarze Vogel verschwand im Fichtenwald. Marga fröstelte. Dicht und müde lauerten die schweren Äste, beugten sich wie trauernde Halbtote unter der schweren Last des Schnees.

      Sie hörte Gisela. Mit den kurzen Beinchen kam sie aus ihrer Hütte gelaufen.

      »Du kannst nicht mit«, bedauerte Marga. Das Bentheimer Landschwein musste warten. Warten, bis sie wieder zurück war.

      Sie stapfte los.

      Die Schneedecke hatte alles unter sich begraben, auch den See, der unterirdisch schlummerte, lautlos schlief, wie alle anderen.

      Wie alle anderen.

      Alle.

      Nur Marga nicht. Marga war unterwegs auf einer Mission mit ungewissem Ausgang und lief an gepuderten Spinnweben vorbei.

      Sie musste verrückt sein.

      Plötzlich bewegte sich der Stein wieder. Sie blieb stehen, horchte. Ein ungewöhnlich idyllischer Moment, wären da nicht der graue Himmel und die beißende Kälte.

      Wäre da nicht ihr Unbehagen.

      Sie lief weiter, und je näher sie ihrem Ziel kam, desto sicherer war sie. Der Stein war kein Stein und auch kein Dachs. Der