Thomas Williams

Christmas Bloody Christmas 2


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jeder jeden, aber die Verkäufer im Einkaufszentrum waren vollkommen Fremde.

      In der wartenden Menge stehend, ging meine Mutter vor mir in die Hocke, um noch einmal meine Schutzkleidung zu kontrollieren. Ich trug Knie- und Ellenbogenschützer, einen Helm und eine schusssichere Weste, obwohl Pistolen und andere Waffen beim Brawl verboten waren. Aber es gab eben immer jemanden, der die paar wenigen Regeln brach. Ich war vermutlich der Einzige mit solchen Vorkehrungen und wurde von dem einen oder anderen belächelt, weil sie mir ansahen, dass es mein erster Brawl war.

      Als mich jemand im Vorbeigehen als »Jungfrau« bezeichnete, schlug mein Vater ihn sofort zu Boden und riss meine Mutter von mir weg.

      »Hör auf, ihn zu bemuttern! Das ist jetzt vorbei. Er ist ein Kerl. Ein Mann. Wenn er da rauskommt, wird Blut an seinen Händen kleben und dann kannst du dich auch nicht vor ihn knien und ihm die Nase putzen. Sei froh, dass ich diesen blödsinnigen Helm und so dulde.«

      Mama sah aus, als wollte sie protestieren, aber dann nickte sie nur und sagte:

      »Du hast ja recht.«

      Ich sah die Angst in ihren Augen und warf Monika einen prüfenden Blick zu. Aber die schaute nur auf ihr Handy und nuschelte:

      »Ich treffe Sabrina und Jaqueline im Café.«

      »Ich treffe Sabrina und Jaqueline im Café«, äffte mein Vater sie nach, »scheiße, wen interessiert das denn? Nimm dir ein Beispiel an deinem Bruder, der wenigstens da reingeht, um ein Geschenk für seine Freundin zu besorgen und nicht, um einen Kakao oder so zu trinken. Das ist der Christmas Brawl und kein Kaffeekränzchen. Wehe, du kommst ohne ein blaues Auge nach Hause!«

      »Mann, krieg dich ein! Wir gehen danach Geschenke besorgen«, maulte meine Schwester. Etwas, was ich mich nie getraut hätte, aber sie brauchte sich keine Sorgen zu machen, dass unser Vater sie schlug. Er hatte kein Problem damit, jemanden zu Brei zu prügeln, wenn er nur schief angesehen wurde. Aber er schlug niemals eine Frau. Und er brachte mir bei, es ebenfalls nicht zu tun.

      Bevor er meiner Schwester einen Vortrag über Respekt halten konnte, entdeckte er seine Jungs, wie er sie nannte. Es handelte sich um Männer aus der Fabrik, Saufkumpanen oder Leute, mit denen er sich beim Brawl angefreundet hatte.

      »Hey, ihr Ficker! Ich dachte schon, ihr zieht den Schwanz ein«, rief er und drängelte sich zu der Gruppe durch, die ihn grölend in Empfang nahm. Sie alle trugen trotz der Kälte keine Oberteile, dafür aber rote Zipfelmützen, Quarzhandschuhe und schweres Schuhwerk. Die Narben an ihren Körpern waren so etwas wie Trophäen, Andenken an die vergangenen Weihnachten.

      Als mein Vater auf mich zeigte, wurde mir endgültig schlecht.

      »Das ist mein Sohn und er erlebt heute seinen ersten Brawl. Ich bin gerade so stolz, Jungs. Wünscht ihm Glück!«

      Die Männer nickten mir anerkennend zu, hoben den Daumen und klopften meinem Vater auf die Schulter.

      »Hast einen ordentlichen Kerl aus ihm gemacht«, brummte einer von ihnen.

      »Wenn er nach dir kommt, stell ich mich ihm besser nicht in den Weg. Und das, obwohl er zwei Köpfe kleiner ist als ich«, kommentierte ein anderer.

      Lachend gab mein Vater dem Mann einen freundschaftlichen Schlag gegen die Brust.

      »Klar kommt er nach mir, du Wichser. Und er reißt dir mit den Zähnen die Kehle raus, wenn du nicht aufpasst. So wie ich damals mit dem Kerl, der mir bei meinem zweiten Brawl die Nudelmaschine vor der Nase wegschnappen wollte. Das war ein Geschenk für meine Mutter, verfickt und zugenäht!«

      Bevor er noch mehr erzählen konnte, hörten wir eine weibliche Stimme. Über den Innenhof verteilt standen hohe Masten mit Lautsprechern, aus denen wir willkommen geheißen wurden.

      »Heute ist es wieder so weit, es ist Christmas Brawl!«

      Mein Vater und seine Jungs jubelten, gaben sich High Fives, verstummten aber erst wieder, als ich schon einen Teil der Ansage überhört hatte.

      »… immer alles, was das Herz begehrt. Keine Wünsche bleiben offen. Wer schon mal hier war, kennt die Regeln, hört aber bitte dennoch aufmerksam zu. Wer zum ersten Mal dabei ist, spitzt jetzt gefälligst die Ohren. Es gibt keine Verwarnungen. Ein Verstoß gegen die Regeln wird sofort bestraft.«

      Was jetzt kam, konnte ich praktisch mitsprechen, so oft hatte mein Vater mir davon erzählt.

      »Die erste Regel des Brawls lautet, dass keine Waffen mitzubringen sind. Jedoch darf alles, was Sie während des Brawls finden, als solche verwendet werden. Die zweite Regel des Brawls lautet, dass Sie alles tun werden, um Ihre Liebsten glücklich zu machen. Wie Sie wissen, finden Sie bei uns alles, was Sie dafür brauchen. Ganz egal, was es ist. Und Sie finden es nur hier. Also tun Sie, was nötig ist!«

      Es folgte eine kurze Pause, wie um die Worte wirken zu lassen. Dann kam die letzte und für meinen Vater wichtigste Regel:

      »Haben Sie viel Spaß bei Ihrem Einkaufserlebnis!«

      Die Menge begann, unruhig zu werden. Jeder wusste, was gleich kam. Wenn die Tore sich öffneten, würden wir nach vorn stürmen – komme was wolle. Bereits dabei wurden Menschen zu Boden gerissen und totgetrampelt. Ich wollte weder sterben noch Claudia oder meinen Vater enttäuschen. Der warf mir einen Blick zu, zwinkerte mit einem Auge, um mir Mut zu machen. Ich war nahe dran, mich zu übergeben.

      Wie in Zeitlupe schwang das Tor auf und wir konnten das kunterbunte Innenleben des von außen verspiegeltem Einkaufszentrum sehen.

      Mariah Careys All I want for Christmas is you erklang und wurde immer lauter. Dennoch konnte ich die Schreie aus den ersten Reihen hören. Der Brawl begann.

      Wir wurden weitergeschoben, gegen andere Körper gequetscht und regelrecht von der voranstürmenden Menschenmasse mitgerissen. Ich musste aufpassen, nicht hinzufallen, denn das wäre mein Ende gewesen. Meine Familie hatte ich schon nach ein paar Sekunden aus den Augen verloren, ich glaubte, meine Mutter nach mir rufen zu hören, aber wegen des anschwellenden Lärms konnte ich mir da nicht sicher sein. Etwa in der Mitte des Hofs sah ich die ersten Leichen unter meinen Füßen. Frauen und Männer, die mich aus blutbeschmierten Gesichtern anstarrten und denen keiner mehr helfen konnte. Jemand packte mein Bein, dass ich fast gestürzt wäre. Wahrscheinlich bat mich die Person, ihr zu helfen, ich konnte nichts sehen, wurde weiter nach vorn gedrückt und der Griff löste sich.

      Die Stimme von Mariah Carey war inzwischen schrecklich laut. Jemand schlug mir ins Gesicht, dann wurde ich kräftig zur Seite gestoßen und auch dort wieder geschlagen. Nichts, worauf mich mein Dad und seine Jungs vorbereitet hätten. Also schlug ich blind zurück, und obwohl nicht klar war, ob ich den Richtigen erwischte, verschaffte mir der Schmerzensschrei eine gewisse Befriedigung.

      Wir übertraten die Schwelle des Einkaufzentrums. Hier verteilte sich die Menge aus Männern, Frauen und Jugendlichen. Erst mit sechzehn durfte man am Brawl teilnehmen und ich wusste, dass ein paar meiner Freunde heute hier sein würden. Genauso wie die Möglichkeit, dass ich sie vielleicht nie wiedersehen würde.

      »Steh da nicht so rum, Junge. Leg los!«, hörte ich plötzlich eine vertraute Stimme neben mir sagen und blieb in einem roten Viereck stehen. Eine Safe-Zone, in der nicht gekämpft werden durfte. Zum Glück, denn sonst hätte mir mein Vater eine gescheuert, dass ich es noch an Weihnachten in vier Jahren gespürt hätte. Er trat auf mich zu und knurrte:

      »Lass mich vor meinen Jungs nicht blöd dastehen, ja? Hol dir diese Halskette!«

      Er wusste, was ich Claudia schenken wollte. Schließlich war es seine Idee gewesen.

      »Ich … ich überlege nur, wo der Schmuckladen ist«, log ich.

      »Der ist jedes Mal woanders. Alles wechselt jährlich seinen Platz. Das habe ich dir schon tausend Mal gesagt. Jetzt such ihn oder ich werde dir zu Hause so den Arsch versohlen, dass du …«

      Er hasste es, wenn ich ihn nicht ausreden ließ, aber ich stürzte mich wieder in die Menge. Sofort versuchte eine Frau, mich zu Boden zu werfen. Warum auch immer, denn ich war ihr nicht mal im Weg gewesen, aber von meinem Vater wusste ich, dass nicht