er einen Blick auf die Namen der Verfasser geworfen hatte. Schubladendenker mit schematisierten Ansichten, vielen Dank auch. Schnell war er auf diese Weise wieder beim Lokalen angelangt.
Der Aufmacher der Seite drei schien eine bunte Geschichte zu sein: »Rentnergang auf Krawall gebürstet« – keine besonders kuschelige Überschrift, fand Stahnke. Es ging um eine Gruppe von vier älteren Männern, die sich jeden Nachmittag am Langeooger Bahnhof einfanden, nicht nur, um dort auf den Bänken zu hocken und von alten Zeiten zu schwärmen, sondern, das machte der Artikel in süffisanter Weise deutlich, über alles und jeden herzuziehen. Und das nicht eben zurückhaltend. Lokalpolitiker, Kurdirektion, Geschäftsleute – bei den Inselsenioren kam keiner gut weg. Die meiste Häme aber wurde über die Badegäste ausgeschüttet. »Touristenplage« war noch einer der milderen Ausdrücke, die der Autor zitierte. Hallo, das ging ja ans Eingemachte! Welcher Journalist traute sich denn da, dermaßen Geschäftsschädigendes zu verfassen?
Der Name des Autors stand unter dem Text. In Fettdruck. Trotzdem traute der Hauptkommissar seinen Augen kaum. Marian Godehau. Wie, zum Teufel, kam der denn hierher?
Stahnke kannte Godehau seit Jahren, allerdings als Redakteur der Regionalen Rundschau in Oldenburg. Und vor allem als Ex-Freund von Sina Gersema. Wieso, fragte er sich, tauchte der jetzt plötzlich auf Langeoog auf? Sofort beschlichen ihn ungute Gefühle. Verlustängste, genauer gesagt. Für die er sich postwendend schämte. Hatte Sina ihm nicht unmissverständlich klargemacht, dass sie ein selbstständig denkender Mensch war und keine Sache, die man besitzen und demzufolge auch verlieren konnte? Ja, das hatte sie, und sein Verstand hatte das auch kapiert. Aber sein Verstand war auch nicht für derartige Ängste zuständig.
Erneut blätterte er, suchte und fand das Impressum. Aha: »Zuständig für Langeoog: Marian Godehau.« Kein zweiter Name war aufgeführt, also war Marian hier als Einzelkämpfer unterwegs. Und weiter oben: »Herausgeber und Verlag: ZG Regionale Rundschau GmbH, Oldenburg.« ZG? Vermutlich Zeitungsgruppe, riet Stahnke. Auf jeden Fall aber war die Sache klar. Die Rundschau, die schon vor Jahren Kooperationsverträge mit ostfriesischen Zeitungen abgeschlossen hatte, um ihren Einflussbereich zu erweitern, hatte sich den Inselboten komplett einverleibt und die Redaktion vor Ort mit einem ihrer eigenen Reporter besetzt. Vermutlich hatte man dessen Stelle in Oldenburg direkt eingespart; so etwas nannte man heutzutage »kostenneutral«.
Und warum ausgerechnet Marian? Der hatte sich schon immer für maritime Themen interessiert, sicher. Aber doch nicht für Kurbetrieb! Und nie hatte er Anzeichen gezeigt, aus Oldenburg weg zu wollen. Es mussten also besondere Gründe vorliegen. Entweder machte sich der Bursche tatsächlich immer noch Hoffnungen auf Sina – oder …
Der Hauptkommissar spürte, wie ein hämisches Grinsen seine Mundwinkel auseinandertrieb. Marian war schon immer unbequem gewesen. Eigensinnig, kritisch, nicht leicht zu führen. Mit so einem taten sich Vorgesetzte schwer, das wusste er aus Erfahrung. Was lag da näher, als den Unruhestifter in die Wüste zu schicken? Genau, in die Sandwüste. Die zur Sicherheit auch noch von Schlick und Nordseewasser umgeben war. Tja, so konnte es gehen.
Stahnkes Grinsen aber hielt nicht lange vor. Warum auch immer, Marian Godehau war hier, das war Fakt. Und es passte ihm gar nicht. Wie lange wohl schon? Und warum hatte Sina ihm noch nichts davon erzählt? Lief da womöglich doch etwas hinter seinem Rücken? Hastig trank er seinen Kaffeebecher leer, verschluckte sich, unterdrückte einen Hustenanfall. Die gute Morgenlaune war dahin.
Und wie um das Maß voll zu machen, piepte jetzt auch noch sein Handy. Warum hatte er es bloß nicht deaktiviert? Jetzt war es zu spät. Seufzend zückte er das Gerät und schaute aufs Display. Sein Seufzen wurde zum Stöhnen.
»Was gibt es, Kramer? Ich habe heute frei.«
»Weiß ich. Moin erst mal.« Oberkommissar Kramer klang stoisch wie immer. »Trotzdem wäre es besser, wenn du herkommen könntest. Marina Bingum. Mordsache.«
»Steht das schon fest?«
»Tja, die Kollegen zählen noch die Einstiche«, erwiderte Kramer ungerührt. »Trotzdem würde ich mich mal auf ein Ja festlegen.«
»Na denn.« Stahnke beendete das Gespräch ebenso grußlos, wie er es begonnen hatte. Natürlich hatte Kramer richtig gehandelt, den Leiter des 1. Leeraner Fachkommissariats auch an dessen freiem Tag zu informieren und hinzuzuziehen. Trotzdem nahm er es ihm übel.
Er schaute auf die Uhr: 6.50 Uhr. Die Inselbahn zur ersten Fähre des Tages fuhr in 20 Minuten. Das war locker zu schaffen. Also dann. Von wegen, ein Frühsommertag am Sandstrand.
Sina schlief immer noch. Er weckte sie nicht, legte ihr nur einen Zettel auf den Küchentisch. Dann machte er sich mit schleppenden Schritten auf den Weg zum Bahnhof.
3.
Marian stolperte von der Fähre, die Augen noch halb geschlossen, und ließ sich vom Pulk seiner zielstrebigeren Mitreisenden in Richtung Inselbahn spülen. Für die Menschen, die ihm entgegeneilten, um Langeoog mit dem frühestmöglichen Schiff zu verlassen, hatte er keinen Blick. Der gestrige Tag steckte ihm noch in Kopf und Knochen wie ein gewaltiger Kater. Dabei hatte er sich letzte Nacht doch nur ein einziges Glas Rotwein gegönnt, um überhaupt schlafen zu können, aufgedreht wie er war, seiner gewaltigen Erschöpfung zum Trotz.
Ein Wahnsinn, bei Morgenlicht besehen, dass er gestern Abend überhaupt noch nach Oldenburg gefahren war, statt sich lieber auf das Bett seines kleinen Inselapartments zu werfen, um so viel Schlaf zu ergattern und Kraft zu schöpfen wie nur möglich. Aber nach diesem chaotischen ersten Arbeitstag als Solist beim Inselboten, der ihn trotz langjähriger Redakteurserfahrung bis an den Rand seiner Belastbarkeit geführt hatte, wollte er nur noch weg, nur noch raus. Raus aus den Redaktionsräumen, diesen besseren Rumpelkammern voller Papierhügel und Fotohalden, die sein Vorgänger salbungsvoll »Archiv« genannt hatte und die von den beiden Volontären, die hier in den beiden Wochen zwischen dem Kauf des Inselblattes durch die Rundschau und Marians endgültiger Abordnung die Stellung gehalten hatten, gründlich verwüstet worden waren. Und am besten gleich weg von dieser Insel, und sei es auch nur für ein paar Stunden.
Was für eine Frechheit, ihn dermaßen ins kalte Wasser zu werfen! Kein Stehsatz, keine Themenliste, dafür ein überquellendes, völlig unsortiertes Posteingangskörbchen und ein randvoller Terminkalender. In seiner Verzweiflung hatte er den Aufmacher schließlich über das Wetter geschrieben. Eine absolute Notlösung, denn jeden Tag konnte er das nicht machen, nicht einmal hier, wo das Wetter auch ein Wirtschaftsfaktor war. Bloß gut, dass ihm noch die Rentnergang am Bahnhof aufgefallen war. Diese Viererbande von Touristenhassern hatte ein paar nette Sprüche von sich gegeben. Daraus hätte man sicher noch mehr machen können, aber in seiner Situation reichte es nur für einen Schnellschuss.
Den Umbruchtermin hatte er nur mit Mühe und Not eingehalten, nicht zuletzt wegen des modernen Computers, den man ihm im letzten Moment noch bewilligt hatte und der sich jetzt auf einem der wackeligen Vorkriegsschreibtische ausnahm wie ein Raketenwerfer auf einem Maultierkarren. Der PC war mit allen nötigen Text- und Bildverarbeitungsprogrammen ausgestattet, so dass Marian es tatsächlich geschafft hatte, drei komplette Seiten mit Stoff zu füllen. Die Datenübertragung allerdings hatte ihn endgültig den letzten Nerv gekostet. Danach brauchte er unbedingt Abstand.
Ein Zufall, dass ihm tagsüber bei einem seiner Termine, der Vorstellung eines neuen Gourmettempels, der am Wochenende öffnen sollte, dieser lustige, junge Koch über den Weg gelaufen war. »Heute Abend noch mal gepflegt in die Disse, ehe der Trubel hier richtig losgeht und man für den Rest des Sommers gar nicht mehr von der Insel runterkommt«, hatte sich der Marian leutselig anvertraut.
»Und wie? Wochentags legt die letzte Fähre doch schon um 17.30 Uhr ab.«
Der Koch hatte über sämtliche Sommersprossen gegrinst. »Connections, Alter! Mein Chef hat ›n Boot, das kann ich kriegen. Und ein Kollege hat ›n Bootsführerschein, der ist Antialkoholiker. Ein paar von den Saisonkräften sind auch dabei. Heute Abend um 23 Uhr geht’s los. Willste mit? Platz ist noch.« Ein nettes, aber nicht völlig selbstloses Angebot, denn jeder Mitfahrer beteiligte sich mit ein paar Euro an den Spritkosten.
Marian hatte dankend abgelehnt. Und hatte dann doch um 22.50